Statue des Confucius in einer chinesischen Grundschule (Foto: Horst J. Helle) Neu angelegter Rasen: Betreten verboten, Chinesisch, Englisch, Russisch, Koreanisch (Foto: Horst J. Helle)

China-Tagebuch Teil 5 - Erlebnisse als Gastprofessor am Sanya College auf der Insel Hainan

von Prof. Dr. Horst Helle
05.11.2010 | Soziale Arbeit | Schwerpunkte Kommentare (0)

In seiner neunten und zehnten Woche beschäftigt sich Horst Jürgen Helle u.a. mit der Rolle der Religion in China.

Hintergrund

Der Soziologe Horst Jürgen Helle wurde von der Stiftungsinitive Johann Gottfried Herder im Deutschen Akademischen Austauschdienst aus dem Ruhestand zurückgeholt und als Gastprofessor an das südlichste Kollege der Volksrepublik China nach Sanya auf der Insel Hainan vermittelt. Er ist seit 2002 mit einer Deutschen chinesischer Abstammung verheiratet, so dass er immer einer Übersetzerin bei sich hat. Helle und seine Frau Lilly haben drei Töchter: Lisa (7), Rita (5) und Emmy (2).

Woche 09: Sonntag, 17. Oktober – Samstag, 23. Oktober

Sonntag, 17. Oktober 2010 Die neunte Woche beginnt für mich in dem Universitätshotel auf dem Campus in Xiamen am Tag meiner Rückreise nach Sanya. Die Ereignisse und Erfahrungen von gestern gehen mir im Kopf herum, als ich zum Frühstück abgeholt werde. Zwei junge Kollegen kommen (so war es verabredet worden), einer hatte am Freitagnachmittag in der Diskussion die Frage nach der Bedeutung von Religion für die Stabilität einer Gesellschaft gestellt und war mir dadurch ganz deutlich in Erinnerung, der andere identifizierte sich als der Kameramann (nicht sein Beruf), der von meinen Auftritten an dieser Universität im Auftrag von Prof. Yang ein stundenlanges Video gemacht haben musste. Was immer ich an Sinn oder Unsinn geredet haben mag hinterlässt vermutlich einige Spuren hier. Der Kameramann entschuldigt sich bald nach dem Frühstück, und der andere bleibt zu meiner Betreuung. Er spricht sehr gutes Englisch. Sein Geld verdient er sich als Fremdenführer, hat also ständig Kontakt mit Touristen. Zugleich ist er Doktorand und wurde mit dem Ziel angenommen, über die Philosophie des Konfuzius zu promovieren. Konfuzius ist gerade mal wieder „in“, aber ihn macht das nicht froh; denn er meint, jedes Regime in China habe es verstanden, die Lehren des großen alten Denkers und Regierungsberaters in seinem Sinne zu interpretieren. Immerhin, die Abteilung für Philosophien (im Plural), deren Gast ich hier bin, lasse nicht mehr nur Dissertationsthemen über Marxismus zu (zur Zeit etwa 10), sondern auch einige über traditionelle chinesische Philosophie (zur Zeit 4) wie seine eigene. Übrigens soll meine frühere Schülerin hier über den großen Kommunistenführer Italiens Gramsci promovieren, wobei das Thema, wie sie mir versicherte, nicht eigentlich ihre eigene Idee war. Mein Fremdenführer und Konfuziuskenner bringt mich zu einem alten Ahnentempel, nachdem er mich gefragt hatte, ob mich das interessieren würde. Ich wundere mich, dass wir den Weg dorthin zu Fuß antreten und befürchte einen längeren Anmarsch, doch wir sind schon bald am Ziel, weil der Tempel im Bereich des neuen Universitätsgeländes liegt, ebenso wie einige alte Häuser aus dörflicher Vergangenheit. Die Universitätsgebäude kriechen gleichsam wie eine Schlammlawine langsam um diese alten Baulichkeiten herum und schließen sie ein. Das erzeugt den Eindruck von Tragik aus der Konfrontation zwischen Tradition und Fortschritt. Der Tempel liegt in der Größe zwischen einem sehr großen Wohnzimmer und einer kleinen Kirche. Drinnen ist ein älterer Herr beschäftigt, mit dem ich zwar nicht reden kann, zu dem sich aber so etwas wie ein Gefühl der Solidarität zwischen Gleichaltrigen einstellt. Mein Begleiter spricht den „Tempelwächter“ behutsam und sehr höflich an und fragt, ob es erlaubt wäre, einzutreten und ein wenig herumzuschauen. Der reagiert ebenso höflich und sehr freundlich und lädt uns ein, alles zu besichtigen. Im Zentrum steht ein Altar, auf dem man den lieben verstorbenen Ahnen opfert. An den Wänden hängen Bilder und Dokumente, die von großzügigen Geldspenden zur Erhaltung des Tempels berichten. All dies gilt dem Andenken und der Verehrung von Angehörigen einer weitläufigen und offenbar – mindestens in der Vergangenheit – prominenten Familie, deren lebenden Mitglieder aber wohl ganz überwiegend auf der hier in Sichtweite gegenüberliegenden Insel Taiwan leben und Ende der vierziger Jahre aus guten Gründen dorthin vor Mao geflohen sind. Es sind auch zwei oder drei Generäle darunter, die allerdings nicht an der Seite Maos gekämpft haben dürften. Das macht die Erhaltung dieses Tempels vermutlich zusätzlich noch einmal unwahrscheinlicher. Mein Begleiter fragt den Alten nach seiner Tätigkeit: Er war so etwas wie der Bürgermeister dieses kleinen Ortes, aber das Dorf existiert ja schon nicht mehr, und so betreut er nur noch den Tempel, solange der noch steht. Der Verlauf diese Vormittags dämpft etwas meine Begeisterung für den Elan, mit dem das moderne China Universitätseinrichtungen „aus dem Boden stampft“. Zum Mittagessen sehe ich noch einmal meinen ganz und gar vorbildlichen Gastgeber, Prof. Yang. Die Universität organisiert den Transport zum Flughafen. Ich bin wieder in Begleitung des Konfuziusdoktoranden und des „Kameramannes“. Sie überwachen noch den Vorgang des Check-in, und dann habe ich Mühe, sie zu verabschieden, weil sie am liebsten noch bis in die Maschine mitgekommen wären. Aus dem klar blauen Himmel über Xiamen und Taiwan trägt uns unser Flugzeug nach Süden in den finsteren Abendhimmel von Hainan, wo wieder einmal schwere Regenfälle vorausgesagt wurden. Das Sanya College stellt einen Dienstwagen, der mich vom Flughafen zum Campus bringt. Montag, 18. Oktober 2010 Am Steuer eines der Campus-Fahrzeuge treffen wir wieder den arbeitslosen Sportlehrer, dem Lilly aus dem Internet freie Stellen herausgesucht hatte. Er hat noch immer nichts gefunden und erzählt, das er früher auch als Trader in einer Investmentfirma gearbeitet habe. Nun ist das genau die Tätigkeit von Lillys Bruder, und sie fragt ihn am Telefon, ob er eine Möglichkeit sieht, den Sportlehrer zu beschäftigen. Zwar wäre man gerade dabei, neue Mitarbeiter einzustellen, doch würde mit Vorrang derjenige ausgewählt, der einen größeren Geldbetrag mitbringt, um den in der Firma zu investieren, bei der er sich beworben hat. Dabei sei es gleichgültig, ob das Geld ihm oder ihr selbst gehöre, oder nur für andere verwaltet werde. Dienstag, 19. Oktober 2010 Am Nachmittag unterrichte ich wieder die 140 Leute in der Einführung in die Soziologie und finde den Verein so verschlafen und unaufmerksam, dass ich mich zu einem mittleren Wutanfall hinreißen lasse: Ihre Eltern hätten viel Geld zahlen müssen, damit sie hier studieren könnten, und sie wüssten die Chance nicht zu schätzen, die ihnen hier an diesem College geboten werde etc. Die Wirkung ist erstaunlich! Es scheint, als hätten sie auf einen emotionalen Ausbruch gewartet und wären nun erleichtert, dass er endlich kam. Der ganze sonst so lahme Verein reißt sich plötzlich zusammen und erweckt den Eindruck angespannter Konzentration. Mittwoch, 20. Oktober 2010 Von den Philippinen her bewegt sich ein tropisches Sturmsystem auf den Süden Chinas zu. Lisa muss wie jeden Morgen in die Schule gebracht werden und hat davon gehört. Sie fragt: Kommt der Taifun bald? Sie fürchtet den schrecklichen Sturm nicht, sondern hofft auf ihn, weil dann die Schule ausfällt. Donnerstag, 21. Oktober 2010 Die Großeltern wohnen hier im zweiten Stock, wir im ersten. Also findet ein ständiger Personenaustausch über die Treppe statt, an dem auch Rita (5) und Emmy (fast 3) teilnehmen. Plötzlich sind die beiden nicht mehr auffindbar und Panik breitet sich aus. Dann stellt sich heraus, dass alle Aufregung grundlos war, weil die beiden beschlossen hatten, ein benachbart wohnendes Baby zu besuchen, das alle hier besonders putzig finden. Freitag, 22. Oktober 2010 Das Seminar für Dozenten, an dessen Vorbereitung Wang, Lucy und ich schon ein wenig gearbeitet hatten, fand heute vor einer Woche tatsächlich zum ersten Mal statt, als ich in Xiamen war. Heute bin ich zur zweiten Sitzung eingeladen. Überraschend hat sich der Präsident dieses College entschlossen, daran teilzunehmen. Wir sitzen in einer großen Runde um einen riesigen Tisch in komfortabler Ausstattung mit je einzelnem Mikrophon, Präsident Lu Dan, ein Soziologe und ehemaliger Schüler von College-Gründer Chen, zehn weitere Männer und vier Frauen, die typischerweise – wenn man von mir einmal absieht – nebeneinander sitzen, also nicht unter die Herren gemischt. Ich freilich habe mich zwischen zwei Damen gesetzt, weil ich auf Übersetzungsdienste angewiesen bin. Kriterium der Teilnahme ist in dieser Runde der Doktortitel. Den habe ich hier zwar nie nachgewiesen, aber er wird mir geglaubt. Es passiert etwas, was charakteristisch und nicht nur chinesisch ist: Jemand meint, man könne nicht die anderen verdienten Dozenten ausschließen, die hier so fleißig unterrichten, nur eben noch nicht promoviert seien. Der Präsident übergeht das mit einem gütigen Lächeln. Den Vorsitz führt formell Herr Wang, bei dem Lucy arbeitet, doch der gibt die Leitung des Seminars ab an einen Namensvetter, Wang Sheng, der hier – wie er sagte – „cinema“ unterrichtet, also zukünftige Filmregisseure ausbildet. Es wird verabredet, dass jeder sich kurz vorstellt und sein wichtigstes wissenschaftliches Interessengebiet beschreibt. Lucy schreibt in Stichworten auf, was gesagt wird, und reicht mir laufend Zettel mit ihren Notizen. So kann ich recht gut an dem Verlauf der Sitzung teilnehmen. Ein weiterer Herr Wang mit dem „given name“ Yiwu ist nach dem Präsidenten hier der ranghöchste Hochschullehrer. Wang Yiwu ist Dekan der Abteilung für „Management“ oder Betriebswirtschaftslehre. Er interessiert sich wissenschaftlich dafür, wie man mit Tod und Sterben am besten und kostengünstigsten umgehen kann. Doch der Tod beschäftigt ihn nicht nur als Thema der Wirtschaftswissenschaften. Er stellt auch die drei Sinnfragen: Wohin gehe ich? Woher komme ich? Warum bin ich hier? Als zweites Interessengebiet nennt Wang Yiwu die Wohnungspolitik der Regierung, insbesondere das Problem der Vermeidung von extremer Armut und extremem Reichtum. Sodann die Frage, was Wissenschaftler zur Entwicklung der Insel Hainan beitragen können. Auch, mehr auf das ganze Land bezogen, wie das politische System reformiert werden müsste, damit es die wirtschaftliche Entwicklung besser vorantreiben könnte. Im engen Zusammenhang steht für Wang damit der Versuch, das Scheitern früherer Reformversuche zu erklären. Präsident Lu Dan reiht sich in diese Vorstellungsrunde als Soziologe ein. Die Erforschung wirtschaftlicher Vorgänge und Wandlungen setze die Beachtung des Kulturhintergrundes voraus: Sitten, Traditionen und in der chinesischen Philosophie verankerte Wertvorstellungen müssten beachtet werden. Sodann interessiert den Präsidenten die Frage, wie Leistungen der Wissenschaft den politischen Führern besser zugutekommen können. Es käme insgesamt darauf an, dass die Impulse wissenschaftlicher Reflektion der sozialen Enzwicklung des Landes förderlich sind. Als Nächste in der Runde stellt die Wirtschaftswissenschaftlerin Frau Tang die Frage nach den Quellen und Grundlagen des Sozialismus. Sie meint, „wir“ (also die Chinesen) hätten den Sozialismus eingeführt ohne ihn wirklich zu kennen. Auch der Verwaltungschef des College ergreift das Wort. Er nimmt hier teil, weil er einen Doktortitel hat. Er fordert, man solle Universitäten die Macht geben, Verstöße gegen die Verkehrsregeln selbst zu ahnden, damit man nicht die Polizei auf den Campus rufen müsse, wenn sich ein Verkehrsunfall ereignet habe. Auch um die Restaurants und Geschäfte auf dem Gelände des College wirksam zu kontrollieren, fehle die Rechtsgrundlage. Der Kulturanthropologe möchte als Nächster in der Runde mehr Informationen über die Ursachen dafür zusammentragen, dass die Landbevölkerung Revolutionen verursacht habe. Am meisten wundert mich, wie häufig an diesem Nachmittag von der Notwendigkeit die Rede ist, das politische System zu reformieren, und wie viele der Anwesenden sich für das Thema Religion ausdrücklich auch im Kontext ihrer wissenschaftlichen Arbeit interessieren Samstag, 23. Oktober 2010 Um den Lebensstandard in unserer Großfamilie zu heben, wird der Erwerb eines Bügelbretts beschlossen. Als zum Tragen eines solchen Gegenstandes auch in Bussen des öffentlichen Verkehrs besonders geeignet, werde ich ausgewählt. Weil dieser Einkauf von uns als außergewöhnlich eingestuft wird, fahren nur Lilly und ich ohne die Kinder in die Stadt. Wir nehmen das Mittagessen in einem Restaurant mit internationalem Flair ein, bei MacDonald.

Woche 10: Sonntag, 24. Oktober – Samstag, 30. Oktober

Sonntag, 24. Oktober 2010 Als wir am 14. Oktober spätnachmittags in einer Taxe zum Flughafen fuhren, fiel uns in einem Stadtteil von Sanya auf, dass der Baustil an maurische Fassaden in Andalusien erinnert. Im Gespräch mit dem Fahrer lernten wir, dass hier der muslimische Teil der Bevölkerung wohnt. Ob es auch Christen gäbe, und ob die eine eigene Kirche hätten, will Lilly von ihm wissen. Ja, es gäbe eine Kirche. Der Fahrer beschrieb uns die Lage des Gotteshauses, und dann flog ich nach Xiamen. Nun haben wir es heute mit einem Sonntag zu tun, an dem nicht irgendwelcher Unterricht vor- oder nachgeholt wird, und so liegt es nahe, dass wir uns an die Informationen erinnern, die der Taxifahrer uns gegeben hatte. Lilly bringt in mehreren Telefongesprächen in Erfahrung, wo genau die Kirche zu finden sei, und auch, dass es offenbar die einzige hier im Süden der Insel ist. Nur im Taxi wäre sie zu erreichen, und die Entfernung ist gewaltig. Es wäre etwa so, als ob jemand in München wohnt und sich von dort aus zum Kirchgang in Augsburg entschließt. Trotzdem scheinen die Kinder gehen zu wollen, doch als sich telefonisch nicht klären lässt, welchem Zweig der Christenheit der Gottesdienst zugeordnet werden kann, geben wir das Projekt auf und fahren lieber an den Strand. Montag, 25. Oktober 2010 Im Staatsfernsehen war mir schon gestern am Abend der Bericht aus Nordkorea aufgefallen, in dem ein – vermutlich pensionierter – Vier-Sterne-General als Leiter einer Delegation aus China des 60. Jahrestags des Koreakriegs gedachte. Heute wird der gleiche Bericht noch einmal gesendet und ausführlicher gestaltet als gestern. Der alte Kommandeur aus der Mao-Zeit betont, dass tapfere Freiwillige aus China in Nordkorea die U.S. Amerikanische Aggression zurückgeschlagen und dafür ihre Leben geopfert hätten. Dann wird ein junger Offizier interviewt (und den sah man gestern noch nicht), der sich wünscht, dass die heutige junge Generation chinesischer Soldaten dem Vorbild jener folgen, die in Korea im Kampf gegen die U.S.A. ihr Leben ließen. Dabei wird besondere betont, wie eng seit Mao die Freundschaft zu Nordkorea sei. Gegen Ende der Nachrichtensendung sieht man dann in einer Reportage aus Seoul, dass das südkoreanische Rote Kreuz Lebensmittelsendungen für hungernde Koreaner in den Norden schickt. Das macht schon den Eindruck, als ob zwei Fraktionen in der Redaktion miteinander Katz und Maus spielen. Dienstag, 26. Oktober 2010 Heute berichtet das Staatsfernsehen von hochrangigen Regierungskontakten zwischen Indien und Japan und davon, dass Japan trotz seiner historisch bedingten Vorbehalte gegen Atomenergie, den Ausbau von Atomkraftwerken in Indien mitfinanzieren werde. Mittwoch, 27. Oktober 2010 Lisa singt in ihrer Schulklasse als Chorsängerin mit, und in einem Wettsingen gewinnt ihre Klasse. Das festigt ihre Verankerung in der neuen schulischen Umgebung, und macht eben auch Spaß. Zur guten Stimmung trägt außerdem das Herbstwetter hier bei: Wir genießen nun tagsüber die „kühlen“ 25 Grad. Donnerstag 28. Oktober 2010 Dies scheint die Zeit der Wettbewerbe zu sein. Die Abteilung des College für englischen Sprachunterricht veranstaltet eine Vorausscheidung für den nationalen Wettkampf der Englischstudenten. Ich werde von der Vize-Dekanin für Sprachstudien, Frau Tang, gebeten, heute ab 15 Uhr als Juror im Preisgericht zu sitzen. Dort sind wir zu fünft, drei Chinesen und zwei Westler: der Brite mit südafrikanischer Familiengeschichte „Monty“ Vorster, und ich. Von den in die engere Wahl gekommenen Bewerbern treten fünfzehn junge Frauen und Männer an. Jeder muss in freier Rede einen Kurzvortrag zu dem Thema „xxx is My Top Concern“ von maximal 3 Minuten Dauer halten und dann in jeweils einer Minute eine oder zwei Fragen beantworten. Wir vergeben nach einem bestimmten Schema Punkte. Die drei ersten Kandidaten erklären den Umweltschutz für ihr wichtigstes Anliegen. Sie sprechen von Plastiktüten und vom Stromsparen. Auf meine Frage, ob es für die Umwelt einen Unterschied mache, ob der Strom aus Kohle, aus Atomenergie oder durch Wasserkraft gewonnen werde, weiß eine Kandidatin keine Antwort. Weitere Themen sind die Mode, oder das Studium, doch zwei Redner sprechen über – oder richtiger gegen – Japan. Da fällt mir ein, dass in Xiamen ein sonst völlig ausgeglichener Kollege beim Essen in Gegenwart eines als Gast hinzu gebetenen Parteimannes plötzlich über die Anti-China-Stimmung in Japan zu klagen begann. Nun steigert sich einer der jungen Studenten geradezu in eine Hetzrede gegen Japan hinein. Abgesehen davon, dass er (nicht deswegen) wenig Punkte bekommt, erkundige ich mich nach dem Ende der Veranstaltung, ob er persönlich zur Zeit der Greul japanischer Besatzung in China nahe Verwandte verloren habe, oder wie sonst sich sein Hass auf Japan verständlich machen ließe. Ein junger chinesischer Englischlehrer versteht meine Sorge und meint, viele dieser Studenten glauben alles, was die Regierung (oder die Partei) sagt. Dann wird die Auswertung der Punktzahlen der Juroren bekanntgegeben: Die Nummer eins mit der höchsten Punktzahl ist ein junger Mann, der über Probleme des Umweltschutzes gesprochen hat. Freitag, 29. Oktober 2010 Um 16 Uhr trifft sich wieder die Doktorenrunde. Es ist das dritte Treffen in diesem Semester und für mich das zweite Mal, dass ich dabei bin. Der Präsident ist nicht gekommen, doch von ihm wird eine Liste mit Regeln für das Verhalten in diesem Gesprächskreis verteilt. Auch der Dekan der Betriebswirte und die Vize-Dekanin der Sprachstudien, Frau Tang, fehlen. Lucy ist wieder als Übersetzerin an meiner Seite. Das erste Referat dieser Gesprächsserie hält Feng He Nan, ein Kuturwissenschaftler, der Literaturkritik und Literaturtheorie betreibt und sich für Religionen, und wie sich später in der Diskussion herausstellt, für den Dialog zwischen chinesischen Religionen und Christentum interessiert. Er spricht über den Himmel, Gott als himmlischen Kaiser und das Tao (oder Dao) als die drei Zentralbegriffe religiösen Denkens in China. Daraus entwickelt er so etwas wie eine Trinität. Feng sucht nach transkulturellen Universalien, also nach religiösen Vorstellungen, die man in verschiedenen Denksystemen antrifft. Die Aussprache ist lebhaft, streckenweise sehr kritisch, auch bekennen Teilnehmer freimütig, mit den in Fengs Kurzvortrag genannten Begriffen nichts anfangen zu können; dazu gehöre auch die Dreiheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Obwohl ich eigentlich nur zuhören wollte, sage ich mit Hilfe von Lucy als Übersetzerin dann doch etwas. Anschließend gehen wir gemeinsam in der Personalmensa zum Abendessen, wieder auf Kosten des Rektors. Erst sitze ich am Tisch mit dem Chef der Abteilung für Internationale Angelegenheiten, der in Toronto promoviert hat und mir nun berichtet, seine Mutter sei Protestantin und zwinge ihn, jeden Tag in der Bibel zu lesen. Dann gehe ich noch an einen anderen Tisch, wo Lucy mit dem Chef der Presseabteilung sitzt, der sich schon in die Diskussion als bekennender Buddhist eingebracht hatte. Er erzählt nun, er sei die Reinkarnation eines buddhistischen Mönchs, und das wisse er auch darum, weil Mönche in buddhistischen Klöstern ihn als eine solche Reinkarnation erkennen und anerkennen. Das Mensapersonal wartet, dass wir endlich gehen, weil sie Feierabend machen möchten. Ich deute an, dass mir das bewusst ist. Da meint der reinkarnierte Mönch, dann müssten sie eben heute Überstunden machen. Ich sage dann nur noch rasch, aus christlicher Perspektive sei ein verstorbener Mönch ihm nahe und gebe ihm Führung, auch ohne in ihm reinkarniert zu sein. Lucy übersetzt das, und dann gehen wir alle nach einem spannenden Nachmittag und Abend heim. Samstag, 30. Oktober 2010 Das Wetter ist nun höchst angenehm, sonnig, nicht mehr zu heiß, und die klimatischen und Umweltbedingungen hier sind einfach paradiesisch. Das Sub-College of Social Development Das Tal, in dem dieser Zweig der Miao anscheinend bis 1998 noch ungestört als matrilineale Kultur gelebt hat, wurde zu einer Touristenattraktion ausgebaut, die trotz des üblichen Rummels der Kommerzialisierung noch Hinweise auf die ursprüngliche Lebensweise enthält. Es wird am Ende unserer 10. China-Woche ein höchst amüsanter und lehrreicher Tag.

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