„Du hörst mir ja gar nicht zu!“

von Dr. Jos Schnurer
08.10.2016

Collage: Dr. Jos Schnurer Collage: Dr. Jos Schnurer
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Diesen Vorwurf haben bestimmt fast alle Menschen in verschiedenen Lebenslagen und –situationen schon gehört, ob als Kind von den Eltern, als Schülerin oder Schüler in der Schule, bei Gesprächen am Kamin, beim Spaziergang oder am Biertisch. Zuhören können ist eine Eigenschaft, die für ein menschliches Miteinander unverzichtbar ist. Die Fähigkeit, auf sich und andere Menschen zu hören, hat mit Empathie zu tun, nämlich sich emotional und intellektuell auf das Denken und Handeln von Mitmenschen einstellen zu können. Um zuhören zu können, braucht es eine eigene Haltung als Gewissheit der eigenen, gefestigten und bewährten Identität. Und es benötigt ein ethisches Bewusstsein, wie es als „globale Ethik“ in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“[i].

Zuhören können heißt selbst denken lernen 

Nur Egoisten und Egozentriker meinen, dass Hören weniger wert ist als Sprechen, vor allem dann, wenn es aus dem eigenen Mund kommt. In der anthropologischen, aristotelischen Betrachtung des Menschseins wird dem anthrôpos, dem Menschen, in der scala naturae eine Mittelstellung  zwischen theos, Gott, und zoon, Tier, zugewiesen. Der Mensch ist kraft seiner Vernunftfähigkeit in der Lage, Allgemeinurteile zu bilden, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Durch seinen logos, die Sprache, ist er fähig, Empfindungen, Planungen, Zielsetzungen und Erwartungshaltungen auszudrücken und mit anderen Menschen kommunizieren zu können. Im philosophischen Diskurs wird dem „energetischen Reden“ ein „ekstatisches Schweigen“ (Michael Hampe) gegenüber gestellt und damit eine Verschiebung von der Kunst der Rhetorik hin zur Fähigkeit des Zuhörens vorgenommen. Der Humorist Wilhelm Busch hat dies so ausgedrückt: „Dumme Gedanken hat jeder, aber der Weise verschweigt sie“. Und die Blickrichtung hin zu einer tugendhaften und toleranten Einstellung zum Reden und Schweigen lenkte der französische Philosoph und Aufklärer Voltaire mit seiner Weisheit: „Alles, was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles, was wahr ist, solltest du sagen!“[ii].

„O, schaffet Schweigen"

Mit dieser Aufforderung wollte der Philosoph Søren Kierkegaard sicherlich nicht die Menschen zu Stummen machen; vielmehr richtete er den erst einmal irritierenden Satz in erster Linie an die Philosophen, von denen einerseits erwartet wird, dass sie mit ihrem Nachdenken über die Menschen und die Welt Hilfestellungen darüber geben, sich selbst zu erkennen und in der Welt zurecht finden; andererseits haben Philosophen zu allen Zeiten die Tendenz entwickelt, ihre Reflexionen als Befehlssätze aufzuschreiben und auf den Markt zu tragen. Letzteres ist schon wieder als ein Menetekel anzusehen: Weil Philosophie meist als Wahrheitssuche verstanden wird, sind Philosophen darauf angewiesen, sie auch zu Gehör zu bringen; sich gewissermaßen damit auf den „Wahrheitsstuhl“ zu setzen, sich auf den „Wahrheitsmarkt“ zu begeben und die Aufmerksamkeit der „Wahrheitskonsumenten“ zu finden. Daraus entsteht nicht selten die Befehlsausgabe: „Es wird befohlen, die Welt zu verändern, statt sie zu erklären“. Auf dieses Dilemma weist die Denkrichtung hin, die als „Anti-Philosophie“ bezeichnet wird. Sie will weder das Denken, noch die Wahrheit abschaffen; vielmehr geht es den „Anti-Philosophen“, zu denen neben Kierkegaard auch Denker wie Leo Schestow, Martin Heidegger, Jacques Derida, Walter Benjamin, Theodor Lessing, Ernst Jünger, Alexander Kojèv, Friedrich Nietzsche, Michail Bachtin, Michail Bulgakov, Richard Wagner, Mashall McLuhan, Gotthold Ephraim Lessing und Clemens Greenberg gehören, darum, das Denken erst dann richtig beginnen zu lassen, wenn das Subjekt in der Lage ist, sich von den eigenen Lebensinteressen und den Gedanken an das eigene Überlegen zu lösen, also gedanklich Abstand von der eigenen Existenz zu nehmen. „Die Philosophie als ultimative Quelle der konsumistischen, kritischen Einstellung abzuschaffen und dadurch die Wahrheit aus ihrer Warenförmigkeit zu befreien“, diese anti-philosophische Befehlsgabe ist es Wert, in den Blick unseres Fragens nach uns selbst, unserem Dasein und unserer Welt zu nehmen. Damit nämlich würden wir zwar nicht schweigen sollen, wie Kierkegaard dies uns auferlegt hat; aber wir würden (ab und zu) zur Ruhe kommen und damit zu einem anderen Nachdenken, als dies uns die traditionelle Philosophie gelehrt hat[iii].

„Echtes Zuhören ist ein Geschenk"

Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen plädiert in der Rubrik „ZEIT ZUM NACHDENKEN“[iv] dafür, sich daran zu erinnern, dass der Mensch zwei Ohren hat: Ein „Ich-Ohr“ und ein „Du-Ohr“. Mit dem ersteren hören wir unsere persönlichen Einstellungen, Verhaltensweisen und Vorurteile und richten diese nach den eigenen Ich- und Weltbildern aus; mit dem zweiten orientieren wir uns zum Anderen hin: „Mit dem Du-Ohr hören wir den anderen wirklich – in seiner Fremdheit, seiner Schönheit, seinem Schrecken“. In einer humanen, empathischen Begegnung und im Dialog auf Augenhöhe kann es gelingen, miteinander zu reden und gegenseitig zuzuhören. Schalten wir eines der beiden Ohren aus oder verstopfen wir es durch Egoismus oder falsch verstandenem Altruismus, entstehen Störungen und Blockaden im individuellen und gesellschaftlichen System. Mit seiner Überzeugung, dass man zwar Menschen zum Schweigen, niemals aber zum Zuhören zwingen könne, begründet er mit der Aufforderung zu lernen und zu erfahren, den eigenen inneren und den von anderen erzeugten äußeren Lärm zu dämpfen, die Stille zu ertragen und mit ihr positiv umzugehen, zu üben, die als eigene Wahrheiten bestimmenden Einstellungen und Haltungen auch in Frage zu stellen, und mit Überraschungen, unerwarteten, ungewöhnlichen guten und schlechten Situationen zu leben und das Beste für ein gutes, gelingendes Leben für alle Menschen daraus zu machen.

Ist Zuhören können eine Tugend?

Zuhören können heißt frei sein! Zu den Wertepositionen, die Menschen als kulturelle und gesellschaftliche Traditionen durch Bildung und Erziehung erwerben, gehören Grundsätze, wie sie als ethische und allgemeingültige Lebensregeln für das Humane beim Menschen festgelegt sind. Es sind die demokratischen Werte: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Friedfertigkeit. Sie fallen nicht vom Himmel und liegen auch nicht in den Genen, sondern müssen frühzeitig, stetig und lebenslang erworben werden. „Die Freiheit ist keine Torte, die genossen, sondern ein Muskel, der trainiert werden will“, so hat diese humane Herausforderung der Psychologe, Schriftsteller  und Fernsehautor Ulrich Beer (+ 2011) bezeichnet. Als politischer Mensch war es ihm wichtig, nicht nur selbst Toleranz und Zivilcourage zu praktizieren, sondern auch andere Menschen zu ermutigen, dies zu tun; etwa indem er die Eisenbacher Autorenstiftung gründete, mit der alle fünf Jahre der Ulrich-Beer-Förderpreis des „Eisenbacher Dorfschreibers“ an junge Autorinnen und Autoren verliehen wird. Seit 2002 fungierte er als Herausgeber der Schriftenreihe „Lebensformen“ im Centaurus Verlag. Gewissermaßen als sein Vermächtnis ist das Büchlein „Zivilcourage“[v] zu verstehen, in dem das Eintreten für die eigene Freiheit und die der anderen Menschen, aktiv und konsequent, als Voraussetzung für ein friedliches, gemeinsames Zusammenleben in unserer (Einen?) Welt postuliert wird. Zivilcourage als bedachter Mut, das ist die Notwendigkeit, Demokratie zu lernen[vi]. Mit dem Gedicht, das Dietrich Bonhoeffer angesichts seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten 1945 schrieb, verdeutlicht Ulrich Beer seine Auffassungen von Zivilcourage: Nicht das Beliebige,
sondern das Rechte tun und wagen
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,

nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,

nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.

Zuhören und reden können sind die zwei Seiten der selben Medaille.

Rhêtorikê, die Redekunst, ist, so formuliert es bereits Aristoteles, eine Methode;. Und er weist darauf hin, dass Rhetorik immer in Beziehung zum Adressaten und zur jeweiligen Situation betrachtet werden muss, also weder Dialektik noch Demagogie sein darf[vii]. Diese Unterscheidung ist wichtig, um nicht dem Missverständnis aufzusitzen, dass Reden ein Mittel sein könnte, letzte und einzig richtige Wahrheiten zu erkunden. Die Rhetorik ist somit eine Technik, die es dem zôon politikon, dem politischen Lebewesen Mensch ermöglicht, sich kommunikativ in gesellschaftliches Leben einzubringen und am öffentlichen Dasein Anteil zu nehmen. Die Frage, ob das Reden lernbar ist, haben Rednerlehrer und Rednerschulen zu allen Zeiten zu erkunden versucht; und es sind ernsthafte und kuriose Werke entstanden, wie etwa „Kral´s Praktische Rednerschule“ als (Selbst-) Lehrgang in 14 Heften (Verlagsdruckerei E. Senn, Abensberg, 5., erweiterte Auflage 1938), in der in den einleitenden Bemerkungen darauf hingewiesen wird, dass „vom grauen Altertum bis herauf in unsere Zeit der Ozeanflüge und modernen Volkswirtschaft ( ) das Bibelwort (gilt): Am Reden erkennt man den Mann… Großes wurde in der Welt oft geschaffen durch die Redegewalt, die zur restlosen Hingabe an erhabene Ideale die Menschen entflammt, zu unsterblichen Tagen begeistert“. Dieser Überschwang und die ideologische Entgleisung sind es nicht, die den Politikwissenschaftler Joachim Detjen dazu bringen, ein zweibändiges Studien- und Übungsbuch zur politischen Rhetorik vorzulegen. Er will dem weit verbreiteten Mangel abhelfen, dass viele Menschen nicht über die individuelle und gesellschaftliche Fähigkeit verfügen, sich politisch sachgerecht zu artikulieren. Dabei hat er sowohl die bekannten und gängigen „Ohne-mich“ – Standpunkte, als auch die alltagssprachlichen „Biertisch“ - und „Hast-du-gehört“ – Meinungen im Blick. Politische Rhetorik ist für ihn deshalb überzeugungsgerichtete, wissenschaftliche Kommunikation, und deshalb Bestandteil der politischen Bildung und Aufklärung. Es geht darum, die Gesprächs- und Redefähigkeit zu fördern[viii]. Zur Anleitung zum richtigen, verständigen und wahrhaftigen Reden wäre es auch gut, eine „Zuhör-Schule“ herauszugeben.

Selbstachtung ist die Kunst des aufrechten Gangs.

Zur Selbstachtung gehören immer zwei: Ich und Du! Damit ist schon ausgedrückt, dass die Eigenschaft, die eigene Menschenwürde zu erkennen, zu haben und in Anspruch zu nehmen, immer verbunden sein muss mit der Haltung, die andere Individuen und Gesellschaften mir entgegen bringen und ermöglichen. Alle Philosophen haben zu allen Zeiten das „Selbst“ als einen Wert an sich definiert. Seit der Frage Platons, was etwas in Wahrheit und Wirklichkeit ist (tí poté estín), wird die Suche nach der eigenen Identität und dem Sosein des Menschen in immer neuen Variationen und Denkkonstrukten bedacht und benannt. Selbstachtung hat also etwas zu tun mit dem individuellen Selbst- und Lebenswert und den kulturellen Identitäten der Menschen insgesamt, und dem Selbstbewusstsein, das stetig und mühsam entwickelt, erarbeitet und verteidigt werden muss. Im philosophischen und wissenschaftlichen Denken hat Selbstachtung selbst referentielle und selbst steuernde Bedeutung, die die Selbst- und Fremdbeobachtung bedingt. Es ist hilfreich, will man sich des eigenen Selbstwertgefühls versichern, der biologischen, anthropologischen und gesellschaftlichen wie persönlichen Voraussetzungen für Selbstachtung bewusst zu werden. Denn falsch verstandene, ideologisch gesetzte und historisch entstandene Formen von (so genannter) Selbstachtung können leicht (und sogar selbstverständlich und nicht problematisiert) zu negativen Ausprägungen, wie Egoismus, Überheblichkeit, Selbstüberschätzung und Höherwertigkeitsvorstellungen gerinnen. Da ist es gut, sich der philosophischen Bedeutung des Wertes „Achtung“ bewusst zu werden und zu fragen, wie Selbstachtung von verwandten Begriffen unterschieden werden kann, wie sich die Eigenschaft in der menschlichen Natur ausprägt und sich rechtlich und moralisch darstellt, und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, wenn sich die Fähigkeit zur Selbstachtung durch negative Entwicklungen entweder nicht entfalten kann, oder ge- und zerstört wird. Am besten beginnt man dabei mit den individuellen, alltäglichen Erfahrungen, und greift aus auf die lokalen und globalen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in der Welt Der an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch-Gmünd lehrende Philosoph und Ethiker Franz Josef Wetz, geht mit seinem Buch „Rebellion der Selbstachtung“ die Thematik praktisch-pädagogisch und didaktisch an. In einer Zeitanalyse nimmt er sich vier aktuelle Krisensituationen als „Leiden der Gegenwart“ vor: Den islamistischen Terror, die globalen Aufstände gegen Entmündigung und Staatswillkür, den überreizten und ausgreifenden Individualismus in den westlichen Kulturen, und die Gleichgewichtsstörungen im Work-Life-Balance. Das Bild vom aufrechten Gang[ix] ist ein gutes und passendes Zeichen für die Bedeutung, die Selbstachtung im individuellen und kollektiven Leben der Menschen hat[x].

Das kreative Subjekt

„Sei kreativ – und du bist erfolgreich!“ – das ist die Botschaft, die überall wo Menschen handeln, sich bewegen und entfalten ertönt. Creare, das schöpferische Tun, hat seit Jahrtausenden einen süßen Klang, wie gleichzeitig ein Versprechen, dass kreatives Schaffen Menschsein zu ungeahnten Höhen befördert, Emanzipation und Freiheit ermöglicht und zu einer „Ästhetisierung des Sozialen“ führt. Im gesellschaftskritischen, wissenschaftlichen Diskurs ergibt sich dabei ein Spagat, der sich zwischen Faszination, Unbehagen und Distanz bewegt. Die Chance wie der Zwang zur Kreativität bringen dabei gewollte und ungewollte Aufforderungen und Herausforderungen mit sich. Der Lehrstuhlinhaber für Vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Andreas Reckwitz, verweist mit seiner Studie über die (neue) Erfindung der Kreativität auf die neue (alte) Erfahrung, dass creare eine doppelte Bedeutung hat: „Zum einen verweist sie auf die Fähigkeit und die Realität, dynamisch Neues hervorzubringen…, zum anderen nimmt Kreativität Bezug auf ein Modell des ‚Schöpferischen, das sie an die moderne Figur des Künstlers, an das Künstlerische und Ästhetische insgesamt zurückbindet“. Wenn es so ist, dass jeder Mensch ein Künstler ist (Joseph Beuys), zumindest in der Lage ist, Ästhetisches zu gestalten und zu leben, sind wir herausgefordert, kreativ zu sein; freilich nicht in dem Sinne, uns ein materielles Immer-mehr zu erwerben, sondern Kreativität in unser Lebenszentrum zu bringen. Das erfordert einen Perspektivenwechsel, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 2005 formuliert hat: Die Menschheit ist aufgefordert, „umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“[xi].

Menschen sind grundsätzlich wandelbare Lebewesen

Die traditio humana, als ein bedeutsamer Strang in der historisch-anthropologischen Forschung geht davon aus, dass „das Menschen Mögliche ( ) erkennbar (ist) an dem, was Menschen bisher möglich war, aber dieses ist nicht sein endgültiges Maß. Alles Dagewesene ist Menschen möglich, aber es ist keinesfalls schon alles Mögliche da gewesen“. Es geht also in der historischen Anthropologie darum, „Wissen von und über Menschen aus verschiedensten Epochen und Kulturen gleichsam zu einem Album des Menschlichen zusammenzufügen zu einer Erkundung des Menschlichen“, und zwar „im Rückblick auf geschichtlich und im Hinblick auf gegenwärtig verwirklichte Menschlichkeiten den reflexiven Horizont der Gegenwärtigen auf die Vielfalt der Möglichkeiten menschlicher Existenzweisen hin auszuweiten“. Am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck wird seit den 1980er Jahren ein Verständnis von transdisziplinären Erziehungswissenschaften gepflegt, bei dem die Historische Anthropologie, Zivilisationsgeschichte, Historische Psychologie, Psychohistorie und eine Reihe weiterer quer zu den disziplinären Ordnungen der Fachwissenschaften liegende Denkrichtungen zusammenarbeiten. Der in Innsbruck und Bozen lehrende Anthropologe und Erziehungswissenschafter Bernhard Rathmayr (em.) gibt, zusammen mit den Innsbrucker Erziehungswissenschaftlerinnen Helga Peskoller und Maria A. Wolf im transcript Verlag die Reihe „Konglomerationen“ heraus, in eine interdisziplinäre Forschungs- und Praxisdiskussion „am Scheideweg der Gegenwart das labile Verhältnis von Absicherung und Entsicherung für künftige Alltagswelten geklärt werden und prinzipiell offen bleiben“ soll. Der Hinweis auf ein „relativistisches Menschenverständnis“ belebt den notwendigen Diskurs um eine Bewusstseinserweiterung des Menschseins und die Bemühungen, anthropologische, humanistische, empathische, historische, hirnphysiologische und human-philosophische Aspekte  in die anthropologischen Auseinandersetzungen um Menschenverständnis und -erkenntnis einzubringen[xii].

Durchsichtigkeit macht nicht hellsichtig

Die Wilhelm von Humboldtsche Formel in seinem Werk „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ (1836) will ja deutlich machen, dass zur Freiheit des Menschen auch gehört, etwas Nicht-Verstehen zu können oder zu wollen. Es geht um die Frage nach dem denkenden Verstehen, wie dies in der Philosophie mit der Synhesis als moralische Urteilskraft (Aristoteles) benannt wird und sich in den Kategorien der Ethik ausdrückt, als Balance der menschlichen Vernunft – und als Transparenz. Symbole und Begriffe sind Anschauungs- und Deutungsmuster für Ideologien, Meinungen und Programmatiken für menschliches Denken und Verhalten; sie können aber auch Blendwerk und Sackgassen sein. Der Begriff „Transparenz“ gilt in der Politik als demokratische Grundlage für Freiheit der Bürger und deren Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte am politischen und gesellschaftlichen Diskurs. Als das Berliner Reichstagsgebäude, das von 1884 – 1894 im Stil der Neorenaissance errichtet wurde und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Sitz des Reichstags des Deutschen Kaiserreichs und bis zum Beginn des Nationalsozialismus das Parlament der Weimarer Republik war, ab 1991 zum Sitz des Deutschen Bundestages wurde, sollte mit der baulichen Umgestaltung auch ein Symbol für nationale Einheit und demokratische Transparenz gesetzt werden. Nach langen Auseinandersetzungen wurde schließlich der Entwurf des englischen Architektenbüros Foster verwirklicht, eine gläserne, begehbare Kuppel auf das Reichstagsgebäude zu setzen und damit auch politische Transparenz zu symbolisieren. Politische Transparenz wird in mehreren Ländern, etwa in Schweden, als Verfassungsrecht postuliert; die Forderung nach „Glasnost“ hat zur „Perestroika“, zum Wandel in der Weltpolitik geführt, und mit Transparency International hat sich eine Initiative gebildet, die Machtmissbrauch und Korruption öffentlich und transparent macht. Der aus Südkorea stammende, an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung lehrende Philosoph und Medientheoretiker Byung-Chul Han weist darauf hin, dass „Transparenz“ durchaus verschiedene Bedeutungen und Ausprägungen haben kann; etwa, wenn er provoziert: „Transparent ist nur das Tote“[xiii]. Er greift den Diskurs um den „gläsernen Menschen“ in der digitalisierten Welt auf, der sich (freiwillig bewusst und unfreiwillig unbewusst) den Ansprüchen nach Öffentlichkeit und Transparenz aussetzt, und er fordert fordert eine neue Aufklärung darüber, „dass es positive, produktive Sphären des menschlichen Daseins und Mitseins gibt, die der Transparenzzwang regelrecht zugrunde richtet“. Das Ich wird zum Ausstellungsstück und „in der ausgestellten Gesellschaft ist jedes Subjekt sein eigenes Werbe-Objekt“. Die Forderung nach totaler Transparenz ist, so Byung-Chul Han, nicht mehr und nicht weniger als Tyrannei, die mit dem moralischen Anspruch auf Durchsichtigkeit auftritt, aber nicht hellsichtig und verstand-sichtig, sondern egoistisch und einsam macht[xiv].

Zum Wertediskurs

Der Wertebegriff wird sowohl im wissenschaftlichen, als auch im alltagsrelevanten Zusammenhängen  überwiegend im Rahmen des ökonomischen Diskurses benutzt. Dabei werden die traditionellen, philosophischen (antiken) Zuordnungen zum (moralisch) „guten Leben“ vernachlässigt. Nicht das moralische, sondern das materielle Sein bestimmt das Bewusstsein, gilt als Maxime. Über Werte nachzudenken und sich um allgemeinverbindliche und akzeptierte Wertvorstellungen zu bemühen, die Individualismus, Hegemonie und Egoismus menschlichen Denkens und Handelns in die Schranken verweisen und überwinden lassen, gehört zu den anthropologischen Herausforderungen, für alle Menschen auf der Erde ein gutes, gelingendes, gerechtes, also humanes Leben zu gewährleisten. Dass wir von diesem Idealzustand noch weit entfernt sind, darauf verweist auch der Soziologe (em.) der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt/M., Jürgen Ritsert. Eine Reflexion über Werte in der Form eines Essays muss zwangsläufig „kurzschrittig“ und „bedacht“ vorgenommen werden, und zwar durch tragfähige Begriffsbestimmungen, eine Reflexion über Grundstrukturen von Tatsachenaussagen und Werturteilen, der Auseinandersetzung mit Problemfeldern  bei der Verhältnisbestimmung von Werturteilen und Tatsachenaussagen, den Zuordnungen zum wissenschaftlichen Arbeiten und dem Aufzeigen von Zusammenhängen beim kulturellen Denken und Handeln der Menschen. Damit „Interessen“ sich im Wertediskurs nicht als egoistische, ethnozentrische oder individualistische (Leit-) Linien und Wegweiser auf den Pfaden durch den „Sumpf“ der Wertbenennungen, -auffassungen und -benennungen etablieren und gewissermaßen „urwüchsig“ werden, ist eine wissenssoziologische Betrachtung hilfreich. Sie formuliert der Autor mit seinem „Kreislaufmodell“, dessen Grundlagen philosophische, soziologische und lebensweltliche Paradigmen und historisch Gedachtes sind. Es sind die Wertideen, die unseren Alltag bestimmen und allgemeine und besondere Problemsituationen bewältigen lassen; und es ist das Erkenntnisinteresse in Theorie und Praxis , das Menschen leitet, denken und handeln lässt, die den Begriff des „Werts“ so nachfragenswert, reflexionswürdig und diskussionsfähig werden lässt[xv].

„Kognitive Leichtigkeit"

Der israelisch-US-amerikanische Psychologe und Hochschullehrer Daniel Kahneman und sein Kollege Vernon L. Smith wurden 2002 mit den Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnet. Kahnemans „Prospect Theory“, die er zusammen mit Amos Tversky entwickelte, erklärt, wie Entscheidungsfindungen in Situationen der Unsicherheit und bei Risiken zustande kommen. Die ökonomische Entscheidungstheorie wird insbesondere in der Verhaltensökonomik angewandt. Hinter der scheinbar schwammig und unspezifisch anmutenden Feststellung - „Die meisten Eindrücke und Gedanken tauchen in unserem Bewusstsein auf, ohne dass wir wüssten, wie sie dorthin gelangten“ – versteckt sich das uralte Bemühen, dem intuitiven Denken der Menschen auf die Spur zu kommen. Von der Antike an, und sicherlich schon vorher und über alle Zeiten hinweg, haben Menschen darüber nachgedacht, wie die intellektuelle Erkenntnistätigkeit, das Denken, als dianoia, Verstand, zustande kommt. Die intellektuellen, emotionalen, mentalen, bewussten und unbewussten Denkprozesse unterliegen Phänomenen, die sich, nach Kahneman, in zwei unterschiedlichen Kategorien und Denksystemen darstellen lassen: Intuitives und bewusstes Denken. Die neueren, neurologischen und psychologischen Forschungsergebnisse zeigen, „dass das intuitive System einflussreicher ist, als dies nach unserem subjektivem Erleben der Fall zu sein scheint“, also gewissermaßen als geheimer Urheber von vielen Entscheidungen und Urteilen gelten kann. Die auf den zwei (Denk-)Systemen des intuitiven, schnellen und des rationalen, langsamen Denkens beruhenden, psychologischen Theoriebildungen dürfen nicht als ein Manko oder Herabsetzung des menschlichen Intellekts verstanden werden; vielmehr bedarf es eines Verständnisses und Bewusstseins darüber, wie Urteile und Entscheidungsprozesse im individuellen und gesellschaftlichen Handeln zustande kommen. Erst wenn es gelingt, die vielfältigen Entscheidungen, die unser alltägliches wie kollektives Leben erforderlich machen, einer konstruktiven Kritik zu unterziehen und sie mit einer differenzierten Sprache zu benennen, können präventive Maßnahmen gegen Fehlentscheidungen vorgenommen werden; und zwar im Vertrauen darauf, dass eine „Entscheidung danach beurteilt wird, wie sie zustande kam, und nicht nur danach, was dabei herauskam“[xvi].

Die Suche nach einer „Kultur der (Un-)Ruhe“

Ruhe und Unruhe sind Gegensätze. Sie stellen sich im menschlichen Dasein als Bewegungslosigkeit und Bewegung dar, physisch und psychisch. Bereits in der antiken griechischen Philosophie kommt der stasis, der Ruhe, als akinêsia, Bewegungslosigkeit, erêmia“, als solitude, Einsamkeit, Sammlung, Meditation, im Gegenteil zu akinêsia, Bewegung, metabolê, Veränderung, eine existentielle Bedeutung zu. Im aktuellen philosophischen Diskurs wird der Eigenschaft, Ruhe zu bewahren, in sich gehen, Gleichmut, Ausgeglichenheit, Gefasstheit, Selbstkontrolle, Zurückhaltung, Gelassenheit… eine besondere Form der Lebensführung und Lebenskraft zugeschrieben: „Wenn Wissen und Gelassenheit sich ergänzen, bilden sich Harmonie und Ordnung“[xvii]. Freilich stehen der Wunschvorstellung, gelassen zu sein und zu leben, oft genug Wirklichkeiten und Zwänge entgegen, die Unruhe, Hektik, Stress, Getriebensein und Überforderung bewirken. Der Rat – „Du musst dein Leben ändern“ (Peter Sloterdijk) – kommt dann meist als Aufforderung daher, die im alltäglichen Dasein kaum einzulösen ist. Diesen anthropologischen und scheinbar logischen Bewertungskriterien stehen allerdings, beim näheren Nachdenken, Eigenschaften gegenüber, die „Unruhe (als) ein Daseinsgefühl, eine Welt voller Phantasien, voller Verheißungen und Pläne(n)“ identifizieren. Damit wird auf eine menschliche Fähigkeit verwiesen, die eben nicht Stillstand und Beharren auf Bestehendem meint, sondern die Wandlungs- und Veränderungskompetenz des Menschen in den Vordergrund rückt. Der Kieler Philosoph Ralf Konersmann richtet seinen Blick auf eben diesen „blinden Fleck“, der „Unruhe“ als eine zu überwindende, dem menschlichen Dasein schädliche (Un-)Tugend zum Ausdruck bringt. Mit seinem Essay will er nicht vor der blinden Wut des Machens warnen und in die anthropologischen Klagen vom „Haben oder Sein“ (Erich Fromm) einstimmen; vielmehr geht es ihm erst einmal darum, den Begriffen und Handhabbarkeiten des (scheinbaren) Gegensatzes von Ruhe und Unruhe im Sinne einer Selbstaufklärung auf die Spur zu kommen: „Der Anspruch einer solchen Vergewisserung zielt weniger auf die Richtigstellung des vermeintlich Abwegigen oder Falschen als auf die Ermittlung dessen, wer wir… selber sind, die wir durch unsere besondere, unsere eigene Art des Sprechens, des Denkens und Verhaltens für uns selbst und für andere sichtbar werden“. Dabei richtet er seine Aufmerksamkeit zum einen auf die historischen, kulturellen Entwicklungen darüber, wie sich die Eigenschaften Ruhe und Unruhe darstellen; zum anderen setzt er sich mit den vermeintlichen, gedachten und gemachten Phänomenen der Unruhe, Unbestimmtheit und Entgrenztheit in der sich immer interdependenter und globaler entwickelnden (Einen?) Welt auseinander. Sein Plädoyer für eine Genealogie und Kultivierung der Unruhe befördert eine ganze Reihe von Querverweisen, Parallelen und Imponderabilien zum (scheinbaren) Gegensatz, der Ruhe, zu Tage.  Die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Phänomen „Unruhe“ wird also bestimmt davon, wie die Eigenschaft wahrgenommen wird; weil Unruhe nämlich gegenwärtig ist, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. „Es ist die( ) Unentrinnbarkeit, mit der die Unruhe das Versprechen, zu dem es geworden ist, selbst gefährdet[xviii].

Auf die wortlose Stimme des eigenen Körpers hören

Die Entschlüsselung des „nonverbalen Reichs“ von Körpersprache und -befindlichkeit lässt sich nicht erreichen, indem wir (nur) auf das möglicherweise auslösende äußere Ereignis für eine traumatische Störung schauen, sondern zu ergründen versuchen, wie blockierte Energien erkannt und aufgelöst werden können. „Die Rettung ist also im Körper zu finden“, so der US-amerikanische Traumaforscher Peter A. Levine. Mit der von ihm entwickelten Theorie und Therapie des „Somatic Experiencing“, einer Methode des „Körpergewahrseins zur Traumaauflösung“, kann es gelingen, dass der traumatisierte Mensch wieder in der Lage ist, sich auf das Leben einzulassen und zu erkennen, dass „Trauma (zwar) eine Tatsache im Leben ist; es muss jedoch nicht zum lebenslangen Verhängnis werden“. Mit dem Buch „Sprache ohne Worte“ etabliert sich Peter A. Levine als Traumaforscher von Format und als richtungsweisender Therapeut. Weil therapeutisches Wissen nicht nur Bedeutung bei der Behandlung von körperlichen und seelischen Störungen haben[xix], sondern auch Schlüssel für ein ge- oder misslingendes Miteinander im Alltag bereit halten kann, kommt es darauf an, die Wechselbeziehungen von Körper und Geist zu bedenken und bei den gelingenden und scheiternden Kommunikationsprozessen zu berücksichtigen[xx].

Gipfelwanderungen

Der aufregende, anthropologische und psychologische Perspektivenwechsel, dass Mystiker nicht einzigartige Menschen sind, sondern jeder Mensch ein einzigartiger Mystiker ist, scheint Perspektiven zu öffnen, die Menschen, seit sie sich ihres Verstandes und ihrer Humanität bewusst geworden sind, zu Hoffnungen bewegt haben, und was in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, als Idealvorstellung von Menschlichkeit zum Ausdruck kommt. Der US-amerikanische Psychologe Abraham H. Maslow (1908 – 1970), gilt als Mitbegründer der Humanistischen Psychologie[xxi]. In der deutschsprachigen, psychologischen, psychotherapeutischen, soziologischen und entwicklungspolitischen Diskussion ist er vor allem durch seine „Bedürfnispyramide“ bekannt geworden, mit der er die individuellen Grundbedürfnisse der Menschen aufzeigt. Als Maslow bei seiner Suche nach Menschlichkeit die bis dahin in der Psychologie und Psychotherapie gewohnte Fragestellung „Was macht Menschen psychisch krank?“ einfach umdrehte und mit der Frage „Was zeichnet psychisch besonders gesunde Menschen aus?“ positiv nachschaute, da stieß er auf eine bemerkenswerte Erkenntnis: „Psychisch besonders gesunde Menschen tendieren zu ‚mystischen Erfahrungen‘“. Maslow stellt die traditionellen Beziehungen und „Gewissheiten“ auf den Prüfstand; er tritt im gesellschaftlichen Dasein der Menschen für eine Trennung von Kirche und Staat ein, jedoch nicht für eine „Austilgung“ entweder der einen oder der anderen Institution, weil „Einseitigkeit krank macht“. Die Auseinandersetzungen über „die im Kern religiöse oder transzendente Erfahrung“ bringt den Autor zu der Behauptung, dass alle, in den Weltreligionen und religiösen Weltanschauungen übermittelten und grundgelegten „übernatürlichen Offenbarungen“ als „ganz natürliche, menschliche Gipfelerlebnisse“ gedeutet werden können. Er stellte bei seinen therapeutischen Erfahrungen und Forschungen fest, dass „nicht-theistische religiöse Menschen“ anscheinend religiöser, transzendentaler und mystischer denken als konventionell Religiöse. Mit 25 Argumenten bringt er religiöse Aspekte ins Spiel; er erläutert das Konzept der „dritten Psychologie“ (Humanistische Psychologie); er weist auf Formen von Ethnozentrismen bei Erzählungen und Formulierungen über Gipfelerlebnisse hin; er fragt nach der (wissenschaftlichen) Verlässlichkeit bei als in Gipfelerlebnissen erlangtem und vermitteltem Wissen; er setzt sich mit „Human Values“ auseinander; er berichtet über Methoden, wie Klienten dazu gebracht werden können, Gipfelerlebnisse mitzuteilen und nennt diese Form „rhapsodische, isomorphe Kommunikation“; er beschreibt den Umgang mit Seins-Wert-Vorstellungen, wie sie bei Gipfelerlebnissen auftreten können; er diskutiert Situationen, die dazu führen, entweder individuelle Einsichten, Entwicklung und Wachstum zu stärken, oder regressive Denk- und Verhaltensweisen zu provozieren; und er legt ein Beispiel für eine S-(Seins-)Analyse vor, die es in der Therapie ermöglicht, „das Transzendentale und Einigende zu erfahren, sowohl in sich als auch im Anderen“.[xxii].

„Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt!"

Von Aristoteles bis Wilhelm Busch stammen Traktate, Erklärungsversuche und Rezepte, wie es gelingen kann, dass der Mensch gut lebt. Eines der Zauberwörter ist dabei die Tugend „Gelassenheit“. Das Bemühen, Zugang und Erkennen von Begriffen zu finden, die in vielfältiger Weise Kennmarken für menschliche Eigenschaften und menschliches Verhalten sind, wird meist verbunden mit dem Aufzeigen von Bildnissen und Exemplaria, und mit der Aufforderung, Gewohntes quer zu denken und damit einen Perspektivenwechsel beim festgelegten Tun oder Lassen vorzunehmen. Bei der Annäherung an den Begriff „Gelassenheit“ bietet sich an, einen „locus amoenus“, also einen wünschenswerten, „lieblichen“ und idealisierten Ort zu suchen, an dem es lohnt und vielleicht auch nur möglich ist, über die Tugend nachzudenken, die in den Mentalitäten und (vermeintlichen wie tatsächlichen) Zwängen des funktionalistischen und rationalistischen Denkens und Handelns unterzugehen droht. In einem interdisziplinären Symposium haben 2010 anlässlich der Emeritierung des Münchner Philosophen Hennig Ottmann KollegInnen und Weggefährten über „Gelassenheit“ nachgedacht und Verweise auf die Zusammenhänge mit der „negativen Ethik“ geliefert.. Das Nachdenken über „Gelassenheit“, wie das Propagieren von Einstellungen und Verhaltensweisen und das Leben zu entschleunigen, sind Hinweise darauf, dass die im Zeitalter der medialisierten, technisierten und kapitalisierten Moderne entstandenen Entwicklungen verändert werden sollten, hin zu dem Lebensmut:„Let it be“. Dass dieser Perspektivenwechsel in gar keiner Weise als Ewig-Gestriges und Überholtes zu verstehen ist, sondern mit dem „Mut zu lassen“ neue, gegenwartsbezogene und zukunftsorientierte, humane Perspektiven aufzeigt, vermitteln die einzelnen Beiträge in differenzierter und überzeugender Weise.[xxiii].

„Wer lebt, muss mit Paradoxien umgehen"

Mit dieser Feststellung wird auf die alltägliche, individuelle und gesellschaftliche Grenzwanderung von „Unentscheidbarkeit der Wahrheit oder Falschheit von Aussagen“ hingewiesen. Der Mediziner, Soziologe und Organisationsentwickler von der Universität Witten/Herdecke, Fritz B. Simon, nimmt sich die Zufälligkeiten, logischen und unlogischen Paradoxien vor, wie sie sich im Familienleben, in der Wirtschaft und Politik darstellen. Weil unser individueller Alltag wie unser gesellschaftliches Dasein von hochkomplexen, „logischen“ Paradoxien bestimmt ist, sind wir gefordert, unser Denken und Handeln über einfache „Entweder-Oder-Prinzipien“ hinaus zu entwickeln. „Um die Entstehung von Unordnung zu erklären, müssen wir die Entstehung von Ordnung studieren, und um herauszufinden, was eine bestimmte Ordnung herbeiführt, erhält, verändert oder auflöst“. Denn bei der Ordnungssuche wie bei der Unordnungsdetektion wirken Inkognition in gleicher Weise wie Kognition, und es gilt, explizite und implizite Bewusstseinszustände zu bedenken. „Wenn rechts links ist und links rechts“ – diese Aussage kann ja ein Verzweiflungsruf, ein Resignationsparameter, oder auch eine strukturalistische Methode für ein Ordnungs- und Organisationsprinzip sein, das Logik von Rationalität unterscheidet[xxiv].

Zukunft ist jetzt

Es ist der Mix aus Euphorie, Optimismus und Pessimismus, der unser privates und öffentliches Bewusstsein kennzeichnet und sich in Stimmungen ausdrückt, die von der „Leichtigkeit des Seins“ bis hin zur „Bürde der Alltagslast“ reichen. Der Schweizer Umwelt- und Menschenrechtler Hans A. Pestalozzi (1929 – 2004) fordert in seinem Buch „Nach uns die Zukunft“ (1979) auf, positiv-subversiv zu denken und zu Handeln, also Wirklichkeit mit einem Gutteil von aktiver Kritik- und Widerstandsfähigkeit zu würzen: Wo kämen wir hin / wenn alle sagten / wo kämen wir hin / und niemand ginge / um einmal zu schauen / wohin man käme / wenn man ginge“. Die Frage, wie die Menschheit (in der Gegenwart und Zukunft) leben will, lässt sich nicht mit Illusionen und Spekulationen beantworten, sondern mit Visionen denken[xxv]. Das Dilemma (oder auch das Glück?), dass Zukunft nicht wirklich vorhersehbar ist, weil der Mensch ein „welthaftes“ Lebewesen ist[xxvi], gilt es zu begreifen und anzuerkennen. Gerade deshalb ist der Mensch aufgefordert, über die kulturelle, intellektuelle und anthropologische Logik der Zukunft nachzudenken; nicht um Zukunft zukünftig verlässlich und treffsicher managen zu können, sondern kraft seiner Vernunft erkennen lernt, welche Chancen und Notwendigkeiten bestehen, das Verhältnis des Menschen zur Zukunft zu kennen und bei der Suche nach einem guten, gelingenden Leben für alle Menschen auf der Erde einsetzen zu können[xxvii].

Fazit

Die hier subjektiv, weder systematisch noch annäherungsweise umfassend, mit Blick auf die von mir überwiegend im Internet-Rezensionsdienst www.socialnet.de vorgestellte Literatur will nicht beanspruchen, die gesamten Aspekte zur Tugend des Zuhörens zu thematisieren. Es sollten exemplarisch einige Zusammenhänge aufgezeigt werden, wie bei der schulischen und Erwachsenenbildung eine Aufmerksamkeit und Achtsamkeit erzeugt werden kann, Zuhören zu lernen.

Kontakt zum Autor:
Dr. Jos Schnurer
Immelmannstr. 40
31137 Hildesheim
Tel: 05121 59124
E-Mail: jos2@schnurer.de



[i] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. InternationaleDokumente, Bonn 1981, S. 48
[ii]
Jürgen Stock, Das wäre doch gedacht! Wie wir uns aus der Falle eingefahrener Denkmuster befreien, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11725.php
[iii]
Boris Groys, Einführung in die Anti-Philosophie, 2009, https://www.socialnet.de/rezensionen/8487.php; siehe dazu auch: Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/13980.php; sowie: Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/14323.php
[iv]
DIE ZEIT, Nr. 34 vom 11. 8. 2016, S. 50
[v]
Ulrich Beer, Zivilcourage, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/12604.php
[vi]
Wolfgang Beutel / Peter Fauser, Hrsg., Demokratiepädagogik. Lernen für die Zivilgesellschaft, 2006, https://www.socialnet.de/rezensionen/4442.php; sowie: Hans Berkessel, u.a., Hrsg., Jahrbuch Demokratiepädagogik, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/15225.php
[vii]
Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Kröner-Verlag, Stuttgart 2005, 640 S.
[viii]
Joachim Detjen, Reden können in der Demokratie. Studien- und Übungsbuch zur politischen Rhetorik, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/16527.php
[ix]
Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/17706.php
[x]
Franz Josef Wetz, Rebellion der Selbstachtung. Gegen Demütigung, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17571.ph
[xi] Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/14393.php
[xii]
Bernhard Rathmayr, Selbstzwang und Selbstverwirklichung. Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11820.php; sowie: Daniel N. Stern, u.a., Veränderungsprozesse. Ein integratives Paradigma, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/13911.php
[xiii] Wochenzeitung DIE ZEIT vom 12. 1. 2012
[xiv]
Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/12799.php
[xv]
Jürgen Ritsert, Wert. Warum uns etwas lieb und teuer ist, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/15972.php
[xvi]
Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/17709.php
[xvii]
Thomas Strässle, Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14938.php
[xviii]
Ralf Konersmann, Die Unruhe der Welt, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/19459.php
[xix]
Eugenio Gaddini, „Das Ich ist vor allem ein körperliches“. Beiträge zur Psychoanalyse, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/19463.php
[xx]
Peter A. Levine, Sprache ohne Worte - Die Botschaften unseres Körpers verstehen. Das Grundlagenbuch zu Trauma, Selbstregulation und dem Finden von innerer Balance, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11727.php
[xxi]
Jürgen Straub, Hrsg., Der sich selbst verwirklichende Mensch. Über den Humanismus der humanistischen Psychologie, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13888.php
[xxii]
Abraham H. Maslow, Jeder Mensch ist ein Mystiker. Impulse für die seelische Ganzwerdung, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/16223.php
[xxiii]
Henning Ottmann / Stefano Saracino u.a., Hrsg., Gelassenheit - und andere Versuche zur negativen Ethik, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/18926.php
[xxiv]
Fritz B. Simon, Wenn rechts links ist und links rechts. Paradoxiemanagement in Familie, Wirtschaft und Politik, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/14542.php
[xxv]
Dieter Korczak, Hg., „Visionen statt Illusionen. Wie wollen wir leben?“, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18045.php
[xxvi]
Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php
[xxvii]
Andreas Hartmann / Oliwia Murawska, Hrsg., Representing the future. Zur kulturellen Logik der Zukunft, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/18833.php