Individuum und Gesellschaft

von Dr. Jos Schnurer
23.09.2015

Collage, zusammengestellt von Dr. Jos Schnurer
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Nach der anthropologischen, abendländischen Betrachtung ist der anthrôpos, der Mensch, ein durch seine Individualität und Einzigartigkeit gekennzeichnete Existenz gleichzeitig ein Gemeinschaftswesen[1]: Sein Streben nach einem guten, gelingenden Leben wird ihm kraft seiner Vernunftbegabung und seiner Fähigkeit ermöglicht, Allgemeinurteile zu bilden, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Als zôon politikon, als politisches Lebewesen, vermag der Mensch nur in Gemeinschaft glücklich sein. Diese Sichtweise beruht auf der aristotelischen Philosophie, dass (nur) der Mensch Anteil am unvergänglichen und göttlichen Geist habe und dadurch intellektuelle und wissenschaftliche Erkenntnisse erlangen könne[2]. Im (westlichen) philosophischen Denken der Moderne verbindet sich die Individualethik mit der Sozialethik und ordnet der  religiös-göttlichen, individuellen Betrachtung die säkulare, gesellschaftliche zu, oder geht sogar zu ihr in Distanz[3]. Im östlichen, asiatischen Denken ist das Individuum stärker als im westlichen verbunden mit dem kollektiven, ganzheitlichen Dasein. Östliches wie westliches Denken und Theoriebildungen treffen sich in der Überzeugung, dass in der Moderne eine tragende Verbindung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft hergestellt werden müsse: „Da der Mensch ... nicht einfach nur ein Individuum ist, sondern sich notwendigerweise zu seiner Individualität verhält, ergibt sich ein emphatischer Begriff des Individuums  und der Individualität, der zum Maßstab der Lebensführung erhoben werden kann[4]. Auf einer so verstandenen „globalen Ethik“ basiert die von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierte „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ in der es in der Präambel heißt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“[5]. Wir stoßen dabei zwangsläufig auf die unterschiedlichen Vorstellungen von dem realistischem, vorhandenem „Was ist“ und dem möglichem, spekulativem „Was sein sollte/könnte“. Und damit sind wir mitten drin in den Fragen des Individuellen und Universellen. Anlässlich des vom Europa-Parlament in Straßburg 1991 veranstalteten Kolloquiums „Das Universelle und Europa“ wurde eine Brücke zu schlagen versucht zwischen dem individuellen Dasein des Menschen und den kollektiven, globalen Herausforderungen, nämlich dass Universalität deshalb notwendig sei, „weil jeder einzelne von uns tagtäglich die Verantwortung für die Zukunft der Menschheit trägt"[6]. Diese auf die Zukunft hin ausgerichtete Vision ist natürlich zu ergänzen durch die, dass jedes Individuum eben auch die Verantwortung für eine humane Gegenwart mit sich trägt. Das nämlich ist der Grund, weshalb im folgenden der durchaus subjektive Versuch unternommen wird, einen Blick auf einige ausgewählte, im Rezensionsdienst Socialnet besprochene Literatur zu richten, mit dem Ziel, die in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt sich vollziehenden individuellen und kollektiven Entwicklungen zu verdeutlichen und auf den wissenschaftlichen, interdisziplinären Diskurs über Individualismus und Kollektivismus aufmerksam zu machen.

Die Akteur-Netzwerk-Theorie

Der Pariser Soziologen Bruno Latour macht darauf aufmerksam, dass der Mensch als Individuum und Gemeinschaftswesen in seiner Existenzsuche und –findung in seinem Denken und Tun darauf angewiesen, eine Balance zwischen den Phänomenen der technischen Entwicklung und den individuellen und gesellschaftlichen Handlungspotentialen zu finden. Mit dieser neuen Sichtweise auf die Soziologie als Wissenschaft, als der „Wissenschaft vom Zusammenleben (der Menschen in der Welt)“, will er„modifizieren, was unter `sozial` zu verstehen ist“. Es geht ihm darum, mit dem Geist und den Werkzeugen der Wissenschaft „Assoziationen nachzuzeichnen“; ja vielleicht sogar eine „Assoziologie“ daraus zu machen. Dabei stellt „sozial“ einen „Verknüpfungstyp zwischen Dingen (dar), die selbst nicht sozial sind“. Er verweist auf „fünf Quellen der Unbestimmtheiten“, geht der Frage nach, wie „man Assoziationen wieder nachzeichenbar machen“ kann, und kommt mit seiner Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) zur Frage, wie das Soziale neu verstanden und etabliert werden kann. Es gibt keine relevante Gruppe von der man sagen könne, nur sie bilde soziale Aggregate und charakterisiere feste Bestandteile, die als Anhaltspunkte für Beobachtung, Analyse und Bewertung dienen könnten. Vielmehr bilden sich ständig neue Gruppierungen, es finden Umgruppierungen statt. Und diese hinterlassen Spuren, die es zu analysieren gilt; und zwar sowohl aus der Erkenntnis heraus, dass Handeln sich unbestimmbar gestaltet, nicht transparent ist und nicht unter der vollen Kontrolle des Bewusstseins steht: „Handeln ist ein Knoten, eine Schlinge, ein Konglomerat aus vielen überraschenden Handlungsquellen, die man eine nach der anderen zu entwirren lernen muss“. Mir der dritten Quelle der Unbestimmtheit, der Frage nämlich, welche Aktionen für welche Objekte taugen, wird der Netzwerkcharakter von ANT besonders deutlich. Es geht darum, das Spektrum der Akteure weiter zu sehen und zu erkennen, dass „die Kontinuität eines Handlungsverlaufs nur selten aus Mensch-zu-Mensch-Verbindungen... oder aus Objekt-Objekt-Verbindungen bestehen“, sondern sich vermischen und durcheinander laufen. Damit sind wir bei der vielleicht brisantesten vierten Quelle der Unbestimmtheit angelangt: Es geht um unbestreitbare Tatsachen im Gegensatz zu umstrittenen Tatsachen. Es formiert sich der Angriff auf die anerkannte Wissenschaftstheorie des Konstruktivismus. Und daraus entwickelt sich die für viele unerhörte Behauptung: „Der Empirismus erscheint nicht länger als das solide Grundgestein, auf das sich alles andere gründen ließe, sondern als eine sehr dürftige Interpretation von Erfahrung“. Um dies zu verifizieren, bedarf es im Sinne der ANT vier Denkschritte: Zum einen darf kein Untersuchungsgegenstand als unbestreitbare Tatsache eingeführt, sondern muss immer als umstrittene Tatsache betrachtet werden; zum anderen geht es darum, das Fortdauern einer Kontroverse nicht als Schwäche der Untersuchung, sondern als Komplexität der entstehenden Tatsachen zu betrachten; zum dritten muss bei der Forschung eine dauerhafte Stabilisierung sowohl der Objekte, als auch der Methoden gewährleistet sein; schließlich müssen die Verfahren genau beschrieben werden, die den Forschungsweg von der Darstellung der Mannigfaltigkeit hin zur zunehmenden Vereinigung kennzeichnen. Daraus schließlich ergeben sich Fragen nach der Verifizierung der wissenschaftlichen Erkenntnisse[7].

Homo occidentalis

Die Deutung von Welt als Existenz- und Lebensraum der Menschen lässt sich zum einen als ein deskriptiver Akt des historischen Gewordenseins der Menschheit verstehen, zum anderen als Reflexion von Entwicklungen, die sich (auch) auf eine Nachschau beziehen, wie die Gemeinschaften, Nationen, Staaten und Kulturen sich gebildet und dies in ihren jeweiligen, spezifischen Kommunikationsformen ausgedrückt haben. Der Soziologe von der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Arno Bammé, geht den Fragen nach dem Gewordensein des „abendländischen Menschen“ in vier Aspekten nach: „Wissenschaft… ist nicht erklärbar ohne Bezug zu jenen metaphysischen Grundlagen, auf denen sie aufruht“ - „Das Spezifikum abendländischer Wissenschaft lässt sich nur dann adäquat erfassen, wenn sie auf die Gesellschaft, die dieser Metaphysik zugrunde liegt, rückbezogen wird“ - „Gesellschaft wiederum ist nicht allein aus ihrer ‚objektiven‘ Struktur heraus erklärbar, sondern nur unter Einbeziehung ihres Substrats, der Menschen, die sie konstituieren, und der Bilder, die sie sich von ihr machen“ -  „Die Verkehrsformen und Deutungsmuster einer Gesellschaft…sind nicht verständlich, wenn sie nicht in Beziehung gesetzt werden zu ihren historischen Vorläufern, denen sie … entstammen, und auf jene zukünftigen Möglichkeiten, die sich ihnen eröffnen“. Es sind also die metaphysischen Wurzeln und Weltbilder aus der griechisch-römischen Geschichte, die den „europäischen Menschen“ geprägt haben. Es sind weiter die Strukturprinzipien eines durch Technik und Industrialisierung gebildeten Menschen; auch die Konstitutionsprinzipien, die den gesellschaftlichen Entwicklungen zugrunde liegen; und schließlich „das historische Gewordensein des Gegenwärtigen“, dessen Grundlagen in der Vergangenheit liegen und auf die Zukunft gerichtet sind. Die drei Mirakel, das griechische, das europäische und das hybride, bewirken in ihrem Ineinandergreifen oder Überfließen, oder gar durch Zirkulation, dass es zu einem unauflöslichem Widerspruch egoistischem Bereicherns und (ideal-)ökonomischem Denkens kommt, sich letztlich auch in den Konflikten zwischen Kopf und Hand, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Erkenntnis und Erfahrung artikuliert[8]. Die Welt entwickelt sich zum Labor, und die heute allerdings noch nicht geklärten Verhältnisse zwischen Wissenschaft und Technik und gar die zwischen Sozialismus und Kapitalismus, lassen ahnen, dass die Entwicklungs- und Veränderungsprozesse weder durch Prophezeiungen, noch durch Spekulationen erfasst und erkannt werden können. Ein Deutungs- und Vorhersageversuch jedoch gründet auf den Analysen, die zwar meist nicht mit Händen zu greifen, jedoch mit Verstand formuliert wurden: Ein zweifaches Ende (oder ein Wandel?), „das der Tradition und das der Natur“ wird deutlich: „Die Tradition wird ein Opfer der Ökonomie, die Natur wird zum Gestaltungsmaterial der Technologie. Beide, Ökonomie und Technologie, konstituieren schließlich ein riesiges Laboratorium, das in soziologischer Diktion gemeinhin als Weltgesellschaft bezeichnet wird“. Die Frage, ob wir in den hybrid und immanent entwickelnden Gesellschaften nicht tatsächlich am „Beginn einer neuen Achsenzeit“ angelangt sind, ist durchaus berechtigt, angesichts der Tendenzen, die unser Dasein bemächtigt haben, nämlich dem Gefühl, alles planen, vorhersagen und bestimmen zu können, was unser Leben ausmacht – und zwar überall in der Welt. Die Zweifel, die dabei eher zögerlich und leise auftreten, dass der Mensch darüber nachdenken sollte, ob er tatsächlich all das machen soll, was er kann, ob es im ökonomischen, konsumtiven und alltäglichen Leben ein Immer-weiter-immer-schneller-immer-höher-immer-mehr geben könne, werden ja überlagert von einem „We can“ im falsch verstandenen Macher-Sinn. Da aber die Frage nach dem Sinn des Lebens mehr beinhalten muss als ein egoistisches, materialistisches Wollen, bedarf es, wenn sich eine zweite Achsenzeit ankündigen sollte, eines sich seiner selbst bewussten Menschen, der, wie Aristoteles ankündigte, Verstand und das Bewusstsein besitzt, ein „gutes Leben“ nur in Gemeinschaft mit den Mitmenschen führen könne, ein zôon politikon also, ein politisches Lebewesen[9].

Es gibt keine mentalen Prozesse ohne Realitätsbezug und ohne Vergewisserung der Wirklichkeit, genauso wie es keine Realitätswahrnehmung ohne Bewusstsein gibt

Die Erfahrung ist allgegenwärtig: „Der Versuch, mit jemandem zu kommunizieren, der ein anderes Weltbild benutzt als man selbst, und sich dessen nicht bewusst zu sein, kann nur Verwirrung auslösen“.. Weil aber Weltbilder und Weltansichten immer situations- und zeitbezogen sind, unterliegt auch unsere Wahrnehmung der Realität, wie auch unser Handeln auf bestimmte Situationen einem Wandel. Die uralte philosophische Frage, ob sich Erkenntnis als a priori, also der menschlichen Erfahrung vorausgehend, oder als durch die Erfahrung vermittelt zeigt, wird mit den differenzierten, vom jeweiligen persönlichen und fachlichen Standpunkt ausgehenden Nachschauen über das „Wer bin ich?“ unterschiedlich diskutiert. Der wissenschaftliche Diskurs darüber, was Bewusstsein ist, mündet schließlich in der Auffassung: „Bewusstsein ist ein faszinierendes, aber schwer zu fassendes Phänomen“; es bleibt also ein Rätsel, genauso wie die Frage danach, in welcher Beziehung menschliches Bewusstsein und Verhalten zueinander stehen, ob sich beide Phänomene ausschlössen, zusammengehörten oder ergänzten. Dieser Problematik widmet sich der New Yorker klinische Psychologe Lawrence LeShan (geb. 1920) seit Jahrzehnten. In seinem 2011 in Englisch erschienenem und vom Carl-Auer-Systeme Verlag in deutscher Sprache herausgebrachtem Buch „Das Rätsel der Erkenntnis“ fragt der Autor danach, wie Realität entsteht. Obwohl er feststellt, dass „auf dem Gebiet des Bewusstseins ( ) alle Versuche, ein Klassifizierungssystem zu erstellen, gescheitert (sind)“, unternimmt er den Versuch, auf der Grundlage von Linnés biologischer Taxonomie ein Klassifikationssystem zu erstellen. Er benutzt dabei Weltbilder, wie sie sich in den menschlichen Realitäten darstellen. Dabei geht er so vor, dass er danach fragt, „auf welche Weise und anhand welcher Parameter sich unsere verschiedenen Weltbilder voneinander unterscheiden“. Er weist nach, „dass die Verwendung eines falschen Weltbildes bei der Lösung eines bestimmten Problems dazu führt, dass eine Lösung unmöglich wird“. Damit macht er auf ein ungemein bedeutsames, aktuelles und immanent politisches Phänomen aufmerksam[10].

„Die Humanistische Psychologie war und ist eine vielfältige und durchaus zwiespältige Angelegenheit“

Der Menschheit Wege aus ihren Miseren, Irrwegen und selbst verschuldeten Katastrophen zu weisen, das nehmen sich über Jahrtausende hinweg immer wieder Menschen vor. Es sind Kassandrarufe genauso wie utopische Projektionen und reale Programme. Allen ist der Appell gemeinsam, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 in ihrem Bericht „Unsere kreative Vielfalt“ als Aufforderung zum Perspektivenwechsel formuliert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“[11]. Diese Suche nach einem „guten“ (Aristoteles) und „geglücktem“ Leben (Elinor Ostrom) kann nicht bestimmt sein von einem egoistischen Immer-Mehr (Holloway, Beck, Morris, Horster, Collier, Senge, u.a.), sondern bedarf einer anderen, humanen Blickrichtung. Die Humanistische Psychologie entwickelte sich in den 1960er Jahren in den USA, mit dem Ziel, im psychologischen Denken und Handeln der Menschen eine „dritte Kraft“ neben psychoanalytischen und behavioristischen Lebensmodellen einzubringen. Der Mensch als Ganzheit, Humanum und soziales Aktivum ist in der Lage, fähig und Kraft seines Verstandes auch willens, sein Leben selbst zu gestalten. Eine solche optimistische, aktive Betrachtungsweise ist angesichts der lokalen und globalen Katastrophenszenarien, die den Menschen als egoistisches, passives, lern- und wandlungsunfähiges, den „Zwängen“ ausgeliefertes Lebewesen darstellen und den Untergang der Menschheit prognostizieren, nötiger denn je. Am interuniversitären und interdisziplinären Kulturwissenschaftlichen Institut der Ruhr-Universität Duisburg-Essen gibt es ein u. a. von der Stiftung Mercator gefördertes Forschungsprojekt: „Der Humanismus in der Epoche der Globalisierung – Ein interkultureller Dialog über Kultur, Menschheit und Werte“. Die interdisziplinären Ergebnisse legt Jürgen Straub als Herausgeber im Sammelband „Der sich selbst verwirklichende Mensch“ vor[12].

Vom Homo pragmatico theoreticus zum Homo universalis

Der Homo sapiens wird, je nach der Einschätzung seines Aktivseins und den Zuschreibungen seines Seins, in unterschiedlicher Weise charakterisiert: Als homo faber ist er der handwerklich tätige und machende Mensch; als homo oeconomicus der wirtschaftende, als homo criminalis der egoistisch-gierige; als homo culturalis der kulturausübende; als homo ludens der spielende; als homo traditio der in Traditionen denkende; als homo migrans der wandernde; als homo empathicus der mitfühlende; als homo dynamis der machtbewusste; als homo kinêsis der zeit- und ortsbewegte; als homo mundanus der Erdenmensch; und als zôon politikon das politisch denkende und handelnde Lebewesen. Mit diesen und vielen weiteren Benennungen wird versucht, dem Phänomen habhaft zu werden und den vielfältigen Interpretationen zur philosophische Frage: „Wer bin ich?“ näher zu kommen. Im intellektuellen und wissenschaftlichen Diskurs hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass diese fundamentale und universelle Herausforderung heute nicht mehr von einer Fach- und Wissenschaftsdisziplin bewältigt werden kann, sondern sich als interdisziplinäre Aufgabe stellt. Der (em.) Philosoph von der Wiener Universität, Erhard Oeser, beging im Juni 2008 seinen 70. Geburtstag. KollegInnen, Freunde und ehemalige Schüler haben zu seinen Ehren ein wissenschaftliches Symposium am Konrad Lorenz Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung in Altenburg a. d. Donau veranstaltet und dabei eine Bestandsaufnahme der Oeserschen Forschungen vorgenommen. Die dem Jubilar dabei zugedachte Bezeichnung „Homo universalis“ soll zum Ausdruck bringen, dass Erhard Oesers Arbeit sich „durch eine ungewöhnliche thematische Vielfalt“ auszeichnet. Die Wiener Medienwissenschaftler Stephan Haltmayer, Wissenschaftstheoretiker Franz Manfred Wuketits und Philosoph Gerhard Gotz geben den Tagungsband heraus. Mit dem Hinweis auf die Festschrift soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass „Ehrengaben“, werden sie als aufschließende und kritische Bestandsaufnahme eines Lebenswerkes angelegt, zur dialogischen Weiterentwicklung des Nachdenkens über das Menschsein beitragen können[13].

Sich der eigenen Identität bewusst machen

Sich seines eigenen Verstandes bedienen, diese verkürzte Kantische Formel wird immer dann herangezogen, wenn es darum geht, sich seiner eigenen Identität und die anderer Menschen zu versichern. Mit der Frage „Wer bin ich?“, und ausgeweitet mit der Nachfrage „Wenn ja, wie viele?“ (David Precht) wird meist festgestellt und dazu ermuntert, nicht andere denken zu lassen, sondern selbst zu denken[14] und sich bewusst zu werden, dass jeder Mensch ein Philosoph sein kann[15]. Dem widerspricht nicht, dass es im universitären Bereich Philosophen (und natürlich Philosophinnen) gibt, die diese Tätigkeit professionell ausüben, und die dann im Rahmen ihrer Forschung und Lehre sogar „Schulen“, Zirkel und institutionalisierte Anhängerschaften bilden. Aus Anlass des 65. Geburtstages des Philosophen Ulrich Pardey von der Ruhr-Universität Bochum geben ehemalige SchülerInnen und Freunde einen Sammelband zum bisherigen Schaffen des Jubilars heraus. Benedikt Fait, der von 2007 bis 2012 als Betriebswirtschaftler und Philosoph im Lehr- und Forschungsteam von Ulrich Pardey in Bochum tätig war, und die Erziehungswissenschaftlerin und Mentorin beim Lehrstuhl für Logik und Sprachphilosophie (K. Steigleder), Daniala Zumpf, zeichnen als Herausgeberteam dafür verantwortlich. Die einzelnen Beiträge zeichnen sich überwiegend dadurch aus, dass die Auseinandersetzungen mit dem wissenschaftlichen Schaffen des Bochumer Philosophen weder als Schlussabstimmung, noch als Lobhudelei oder gar Beckmesserei geraten sind. Jeder einzelne Beitrag verdeutlicht eine gute Mischung aus Wahrnehmung von Pardeys Werk und eigenen Weiterführungen; sie können dazu beitragen, die Unvollendetheit philosophischen Denkens und Mühens zu verdeutlichen, ganz im Sinne von Aristoteles, dass dianoia, Verstand, das Seelenvermögen des Menschen darstellt, das diskursives und logisches Denken ermöglicht, die sich als dianoetische Tugenden in Sprache und Haltung ausdrücken[16].

Selbstachtung ist die Kunst des aufrechten Gangs

Zur Selbstachtung gehören immer mindestens zwei. Damit ist schon ausgedrückt, dass die Eigenschaft, die eigene Menschenwürde zu erkennen, zu haben und in Anspruch zu nehmen, immer verbunden sein muss mit der Haltung, die andere Individuen und Gesellschaften mir entgegen bringen und ermöglichen. Alle Philosophen haben zu allen Zeiten das „Selbst“ als einen Wert an sich definiert. Seit der Frage Platons, was etwas in Wahrheit und Wirklichkeit ist (tí poté estín), wird die Suche nach der eigenen Identität und dem Sosein des Menschen in immer neuen Variationen und Denkkonstrukten bedacht und benannt. Selbstachtung hat also etwas zu tun mit dem individuellen Selbst- und Lebenswert und den kulturellen Identitäten der Menschen insgesamt, und dem Selbstbewusstsein, das stetig und mühsam entwickelt, erarbeitet und verteidigt werden muss. Im philosophischen und wissenschaftlichen Denken hat Selbstachtung selbst referentielle und selbst steuernde Bedeutung, die die Selbst- und Fremdbeobachtung bedingt“. Es ist hilfreich, will man sich des eigenen Selbstwertgefühls versichern, der biologischen, anthropologischen und gesellschaftlichen wie persönlichen Voraussetzungen für Selbstachtung bewusst zu werden. Denn falsch verstandene, ideologisch gesetzte und historisch entstandene Formen von (so genannter) Selbstachtung können leicht (und sogar selbstverständlich und nicht problematisiert) zu negativen Ausprägungen, wie Egoismus, Überheblichkeit, Selbstüberschätzung und Höherwertigkeitsvorstellungen gerinnen. Da ist es gut, sich der philosophischen Bedeutung des Menschenwerts „Achtung“ bewusst zu werden und zu fragen, wie Selbstachtung von verwandten Begriffen unterschieden werden kann, wie sich die Eigenschaft in der menschlichen Natur ausprägt und sich rechtlich und moralisch darstellt, und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, wenn sich die Fähigkeit zur Selbstachtung durch negative Entwicklungen entweder nicht entfalten kann, oder ge- und zerstört wird. Am besten beginnt man dabei mit den individuellen, alltäglichen Erfahrungen, und greift aus auf die lokalen und globalen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in der Welt. Weil der grundsätzlich selbstverständlich erscheinende kategorische Imperativ – dass, wie es im Volksmund heißt, was du nicht willst, dass man dir tu´, das füg´ auch keinen andern zu – nicht selbstverständlich ist, sondern in der Familie, Schule, Beruf und Alltagsleben erworben werden muss, bedarf es der Bildung zur Selbstachtung. Der an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch-Gmünd lehrende Philosoph und Ethiker Franz Josef Wetz, geht mit seinem Buch „Rebellion der Selbstachtung“ die Thematik praktisch-pädagogisch und didaktisch an. In einer Zeitanalyse nimmt er sich vier aktuelle Krisensituationen als „Leiden der Gegenwart“ vor: Den islamistischen Terror, die globalen Aufstände gegen Entmündigung und Staatswillkür, den überreizten und ausgreifenden Individualismus in den westlichen Kulturen, und die Gleichgewichtsstörungen im Work-Life-Balance. Das Bild vom aufrechten Gang ist ein gutes und passendes Zeichen für die Bedeutung, die Selbstachtung im individuellen und kollektiven Leben der Menschen hat. Auf die Symbolik haben Philosophen wie Menschen wie du und ich immer wieder verwiesen. In der aristotelischen Lehre wird dem anthrôpos, dem Menschen, wegen seiner aufrechten Körperhaltung eine Mittelstellung zwischen Gott und Tier zugewiesen, weil er kraft seiner Vernunft in der Lage ist, wissenschaftliche Erkenntnisse zu entwickeln, die Fähigkeit zur Bildung von Allgemeinurteilen besitzt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden vermag, ein sittliches, auf die Zukunft gerichtetes Verhalten leben kann und in Gemeinschaft mit anderen Menschen existiert. Vom Gewerkschaftsführer Markus Schleicher ist das Bekenntnis überliefert, er habe sich niemals vor einem anderen Menschen gebückt; und der Philosoph Immanuel Kant attestierte, dass „das Bücken und Schmiegen vor einem Menschen … in jedem Falle eines Menschen unwürdig sei“. Wie die schwierige Tugend „Selbstachtung“ gelebt werden kann, vermittelt der Autor in anschaulichen, historischen und Alltagsbeispielen![17]

„Die Schriften über das Unbewusste sind mit den Wörtern des Bewusstseins geschrieben“

Die Forschungen über die menschliche Psyche, besonders wenn es sich um psychoanalytische und -therapeutische Fragestellungen handelt, sind in Bewegung geraten, seit die klassischen Theorien und Therapien Konkurrenz und Kongruenz erhalten[18]. Der Psychoanalytiker Helmut Junker ist als „schreibender Therapeut“ bekannt. Mit seinen „Reflexionen veränderter therapeutischer Praxis“ unternimmt er eine Standortbestimmung über den (kontroversen) psychoanalytischen Diskurs. Er plädiert dafür, implizite Erfahrungen bei intersubjektiv bestimmten Therapien einzubeziehen und „Toleranz gegenüber dem schwer verfügbaren Grund, dem Nichtverstehbaren im eigenen und im fremden Selbst“ zu üben“. Es gibt keine mentalen Prozesse ohne Realitätsbezug und ohne Vergewisserung der Wirklichkeit, genauso wie es keine Realitätswahrnehmung ohne Bewusstsein gibt“, das ist eine Erkenntnis, die sich bei dem vielfältigen Suchen nach den Ursachen, Zuständen und Wirkungen von bewusstem und unbewusstem Handeln von Menschen in den verschiedenen Lebenssituationen herausbildet. Das Plädoyer von Helmut Junker, in der Psychotherapie Intersubjektivität und implizites Gedächtnis stärker in den Blick und in die Praxis zu nehmen, gründet auf der Aufforderung, die Hindernisse und Gefahren, die sich im Bewusstsein des durchaus notwendigen „Über-Selbst“ zeigen, nicht „wortlos“ zu umgehen, sondern seine „Sicherheit des Selbst“ im Dialog mit Kolleginnen und Kollegen zu überprüfen, sich mit seinen Erfahrungen, Fragen und Problemstellungen auf eine Intervision einzulassen und die fachliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung durch Schriftlichkeit zu ergänzen; denn „gegenüber der Mündlichkeit unter Anwesenden … bietet die Schriftlichkeit eine eigene Chance: Der Ablauf der Zeit wird unterbrochen, wird angehalten, die Gedanken werden so lange ausgemessen, bis sie sich der beabsichtigten Aussage annähern“[19].

„Vitalität ist ein Ganzes“: Lebenskraft

Vital sein bedeutet im Umgangssprachlichen lebendig und aktiv sein, und zwar zuvorderst im körperlichen Sinn. Erst mit dem zweiten Schritt wird dabei die geistige Vitalität als ein Merkmal der psychischen Verfasstheit des Menschen gewissermaßen als intellektuelle Wachheit aufgefasst. In der Einschätzung der Menschen zueinander und im Umgang miteinander, real und als ferne, fiktionale und virtuelle Wahrnehmung, manifestiert sich Vitalität als Augenschein und (Vor-)Urteil. Aus den Heilslehren des 18. und 19. Jahrhunderts kennen wir den Begriff der vis vitalis, der „Lebenskraft“, die sich als eine erhaltende, immer wieder neu bildende Kraft entwickelt und etwa in der Homöopathie, verwendet wird. „Lebenskraft“ als philosophische und existentielle Verortung, kennen auch andere Kulturen, etwa die afrikanischen mit „muntu“ und „Sages“, wie auch asiatische und lateinamerikanische. So ist es erstaunlich, dass die Wissenschaften, die sich vorwiegend mit den geistigen und seelischen Verfasstheiten der Menschen und ihren vitalen Lebensäußerungen befassen, die Entwicklungspsychologie, Psychotherapie und die Künste, den dynamischen Formen der Vitalität im menschlichen Leben bisher wenig Beachtung gewidmet haben; vielleicht, weil sie allzu selbstverständlich und sich als scheinbar gradlinig darstellen? Aber: „Formen von Vitalität sind … reich an Implikationen“. Der US-amerikanische Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker Daniel N. Stern (geb. 1934) ist Honorarprofessor an der Universität in Genf, Lehrender an der Cornell University Medical School und Lektor an der Columbia University. Seine ins Deutsche übersetzten Bücher sind in deutschen Fachkreisen bekannt und anerkannt. Mit dem Buch „Ausdrucksformen der Vitalität“ greift er den Aspekt psychischer menschlicher Entwicklung auf, der sich als Kraft oder Stärke im humanen Dasein manifestiert. Er betrachtet dabei die miteinander zusammenhängenden dynamischen Vorgänge: Bewegung, Zeit, Kraft, Raum, Intention/Gerichtetheit, identifiziert sie als „Vitalität“ und fragt, warum es wichtig ist, die verschiedenen, dynamischen Vitalitätsformen gründlich(er) zu erforschen; und zwar mit dem Blick auf neuere neurowissenschaftliche Fragestellungen. Weil Vitalitätsformen immer Inhalte transportieren, etwa Emotionen, Gedankengänge, körperliche und mentale Bewegungen - und damit eine Dynamik in Gang setzen – ist es wichtig danach zu fragen, wie die neuronale Infrastruktur beschaffen ist, die das Erleben von Vitalitätsformen ermöglicht. Daniel Stern bringt dazu in den (bisher spärlichen) Wissenschafts- und Forschungsdiskurs die Annahme ein, dass die Arousalsysteme des Gehirns bei der Bildung unreflektierten dynamischen Erlebens eine wichtige Rolle spielen. Er diskutiert Formen dynamischen Erlebens in Psychotherapie, Entwicklungspsychologie und den Künsten. Dabei verweist er auf die Existenz und Eigenständigkeit von dynamischen Vitalitätsformen. Im Zeitalter des kulturellen „prinzipiellen Polyglottismus“ (Juri Lotman) ist es angezeigt, auch diejenigen psychischen, vitalen Ausdrucksformen näher zu betrachten, die sich umgangssprachlich, scheinbar spontan und ungerichtet aufdrängen, etwa, wenn ein Gedanke auf einen „hereinbricht“ oder „aufscheint“, „sich nach und nach entwickelt“ oder „blitzartig überfällt“[20].

Die Bedeutung individueller religiöser Erfahrung

Über die Zukunft des Glaubens werden genau so viele Spekulationen, Vermutungen und Prognosen angestellt, wie über die Zukunft des Unglaubens. Der 1918 in Ostpreußen geborene, 2002 in München verstorbene Philosoph, Mitbegründer der Humanistischen Union und Verleger Gerhard Szczesny verstand sich als kritischer Aufklärer gegen den Dogmatismus und den Absolutismus von Weltanschauungen. Er wollte, so betonte er in einem Briefwechsel, den er mit dem Theologen Friedrich Herr führte, keinesfalls Gläubige zu Ungläubigen machen; vielmehr ging es ihm darum, Glauben und das wirkliche Leben der Menschen auf der Erde zusammen zu bringen, bzw. kritisch zu hinterfragen und jede Form von fundamentalistischem Denken und Handeln abzulehnen. In seinem 1958 erschienenem Buch „Die Zukunft des Unglaubens“, legt er ein Bekenntnis für das Menschenrecht der Glaubensfreiheit ab und bemängelt, dass sich in unserer christlich dominierten Kultur der Nichtchrist wie ein Dieb in der Nacht verhalten muss, um seine Überzeugung entweder als Andersgläubiger oder als Atheist ausdrücken zu können. Die Heidelberger Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) will mit dem wissenschaftlichen Nachdenken über religiöse Wertvorstellungen und Erfahrungen verdeutlichen, dass religiöses Denken und Handeln eine diesseitige Aufgabe der Menschen darstellt[21]. Im November 2009 haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von FEST und der Universität Erfurt bei einer Tagung darüber auseinandergesetzt, wie „individuelle Spielräume religiösen Handelns sowie die durch diese Spielräume eröffneten Optionen der Gestaltung religiöser Traditionen und die religiösen Reflexionen auf Individualität“ wirksam sind. Dabei gingen die Forscher von der Annahme aus, dass „religiöse Individualisierung … (im) Verhältnis zwischen vollzogener Religion und ihrer begrifflichen Reflexion verschiebt“. Der Tagungsband „Religiosität und intellektuelle Redlichkeit“ greift in die Höhen und Tiefen religionsphilosophischen Denkens. Den Gefahren und Tretminen von Fundamentalismen und Alleinstellungsargumenten sind die Autorinnen und Autoren geschickt entgangen; sie haben dabei die im theistischen und atheistischen Diskurs gesetzten Bojen umschifft und Karambolagen vermieden, aber durchaus Kontroversen aufgezeigt[22].

Nach Gott suchen heißt, nach Vertrautheit Ausschau halten

 Wem geht es nicht auch so, wenn etwa am Sonntag Vormittag im Radio eine irgendwie eindringliche, gedämpfte und eher im langsamen Takt ertönende Stimme zu hören ist, dass sofort der Eindruck entsteht: Hier redet ein Pfarrer oder jemand, der über Gott spricht! Ist die religiöse Rede eine andere als die alltägliche oder wissenschaftliche? Die theokratische Entwicklung der Kommunikation der Menschen, die in der aristotelischen Philosophie dadurch zum Ausdruck kommt, dass der anthrôpos Anteil am göttlichen Geist Anteil hat, steht ja im Gegensatz zum antitheokratischen Denken. Der französische Sozialwissenschaftler Bruno Latour hat sich zur Jahrtausendwende in einer persönlich wirkenden Rede über die religiöse Rede Gedanken gemacht und historische wie aktuelle Entwicklungen der Suche nach „Gott“ reflektiert. In einem glänzenden Essay, die wie eine „Rede zu sich selbst“ wirkt, wie ein Selbstgespräch und gleichzeitig eine Parole an die Leserinnen und Leser, vermittelt der Autor Einblicke und ermöglicht Draufsicht. Es ist ein Ringen und Zweifeln, ein Sagen eines Unsagbaren, das danach fragt, ob es einen Gott gibt, und wie es sich darstellt, wenn sich die Überzeugung oder Ahnung durchgesetzt hat, dass es einen oder keinen gibt, etwa wissenschaftlich verifizier- oder falsifizierbar mit dem (wissenschaftlichen) „Doppelklick“ der virtuellen Information . „Da steh‘ ich nun, ich armer Tor, und bin zu klug als wie zuvor“. Es sind Fragen nach dem „guten Leben“, des Glückens etwa einer Liebesbeziehung, oder des Missglückens, die immerhin so etwas wie Bedingungen herausfiltern: Klare, verständliche Rede, situationsbedingtes Handeln, eindeutige und wirkungsvolle Reaktionen und ganzheitliches Tun. Es sind freilich immer auch die Vorbehalte, die Glauben zu Unglauben machen können, die von der Reflektion und dem Phantasieren hinkommen müssen zu den Realitäten des aktuellen Lebens. Und dabei kommt einem in die Quere, oder zu Hilfe, was sich im wissenschaftlichen und religiösen Diskurs als Gegensatz darstellt: Glauben und Ratio. Die durchaus verzweifelt wirkenden, in jedem Fall aber „nach der Wahrheit“ suchenden Gedankengänge führen eben nicht auf einen vorbezeichneten, leicht begehbaren Weg, der ohne Mühe begangen werden kann; sie münden, überraschend oder auch erwartet, in eine für die einen ungeheuerliche und häresische, für die anderen eine logische Auffassung: „Gott ist nur eine Redeweise“. Damit aber erhält das „Wort“ eine Bedeutung, die durchaus menschenverbindend sein kann: „Das Wort ist Mensch“. Was übrig bleibt ist die Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz und das Wagnis, „den Blick vom Fernen abzuwenden, um das Nahe wiederzufinden“[23].

Religion ist eine Form des Wissens über das Nichtwissen – auch die Kunst?

Religiöse Ordnungen beanspruchen, dass das Lebens- und Handlungsrecht der Menschen auf der Erde „von Gott gegeben ist“ und ihm nur von Gott oder den Göttern wieder genommen oder geändert werden kann. Diese in den Heiligen Büchern und Überlieferungen der Glaubensgemeinschaften in Stein gemeißelten, von den Orakeln immer wieder prophezeiten und von den „Geistlichen“ an den „Heiligen Orten“ verkündeten, nicht in Frage zu stellenden „Wahrheiten“, beruhen auf der philosophischen Auffassung, dass der Mensch als vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen „Anteil am unvergänglichen und göttlichen Geist“ hat (Aristoteles). Vom „Du sollst dir kein Bild von deinem Gott machen“, dem „Bilderverbot“, wie es insbesondere von den monotheistischen Religionen etabliert wurde, bis hin zu den Schöpfungsgeschichten, in denen der Mensch als das „Abbild Gottes“ dargestellt wird – immer war der Mensch, trotz des „Ebenbildes“, ein von den göttlichen Gewalten, die sich in den Naturgewalten ausdrückten, abhängig und ihnen untertan. Das Gebot „Glaube, und du lebst!“ steht der Verdammung gegenüber: „Wenn du nicht glaubst, bist du ein Nichts!“. Diese Abhängigkeiten wollten die Menschen mit der Aufklärung abschütteln. Im Departement „Design & Kunst“ der Schweizer Hochschule Luzern wurde das Forschungsprojekt „Holyspace, Holyways“ mit dem Ziel durchgeführt, die Rolle des zeitgenössischen Kunst- und Kulturschaffens bei der Vermittlung und Repräsentation privater und öffentlicher Religiosität am Beispiel der Innerschweiz unter den Aspekten des Zugangs zum Religiösen zu untersuchen. Kunst böte, so die Forschungsthese, ein offenes und zunächst neutrales Feld für Auseinandersetzungen mit religiöser Ikonographie und Traditionen an und leiste eine wichtige Vermittlungsarbeit für den aktuellen gesellschaftlichen Wandel. Kunst und Religion seien beides Symbolsysteme, die das aufbewahre, was die moderne Wissensgesellschaft ausblende und was sich deshalb umso mehr zurückmelde als postsäkulare Entwicklung. Die Kulturwissenschaftlerinnen Silvia Henke, Nika Spalinger und Isabel Zürcher geben den Sammelband „Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen“ als kritischen Reader heraus. Den einzelnen Beiträgen, die sich auf die oben genannten Zielsetzungen des Forschungsprojektes beziehen, liegen die folgenden Forschungsannahmen zugrunde: Religion, insbesondere die christliche, ist ein sehr nachhaltiges Symbolsystem.
Kunst und Religion stehen symboltheologisch und symboltheoretisch in einem engen Verhältnis.
Es sind die unterschiedlichen gesellschaftlichen Wirkungsweisen, die die religiöse, bildende Kunst bedeutsam machen.
Religion ist eine Form des Wissens, die das Nichtwissen einschließt.
Die Wissensgesellschaft hat sich in der Unglaubwürdigkeit einer Politik eingerichtet, die durch Sehen glauben machen will und dabei den Rückfluss des Spirituellen nicht beachtet. Der Diskussionsband, der sich mit den spannenden Frage des Verhältnisses von „Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen“ auseinandersetzt, fokussiert die Themenbereiche zwar überwiegend auf „Schweizer Verhältnisse“, und hier sogar eingegrenzt auf solche in der Innerschweiz. Den Autorinnen und Autoren jedoch gelingt es, anhand der Auseinandersetzungen mit den konfessionellen und künstlerischen Zugangsweisen zum Religiösen die übergreifenden Zusammenhänge und Problemstellungen theoretisch und praktisch aufzuzeigen. Die jeweils den Texten beigegebenen Bilddarstellungen sind ohne Zweifel geeignet, die Bedeutsamkeit von Kunst und Spiritualität künstlerisch und religiös aufzuzeigen und in eigenes künstlerisches Schaffen und didaktisches Handeln einzubringen[24].

Macht und Vorherrschaft des lokalen und globalen kapitalistischen Systems

Das einzige Weltsystem, das im 19./20. Jahrhundert existierte, war das kapitalistische“. Ob die in der Vergangenheitsform formulierte soziologische Einschätzung gerechtfertigt ist und mit einer neuen, anderen Entwicklung ad acta gelegt werden kann, darf bezweifelt werden. Immerhin: Die zunehmende lokale und globale Gesellschaftskritik, die sich mehr und mehr zu einer Kapitalismuskritik geriert, macht deutlich, dass das weiterhin dominante, global-herrschende kapitalistische System nicht mehr ungefragt als die „natürliche“, „selbstverständliche“ ökonomische Grundlage menschlichen Wollens und Handelns hingenommen wird. Die Alternativen freilich, wie ein modernes Weltsystem aussehen könnte, finden sich in der Spannweite von utopischen, prognostischen bis zu real-existierenden Modellen wieder. Gerhard Hauck, Professor für Soziologie im Ruhestand und Mitarbeiter der vierteljährlich vom Verlag Westfälisches Dampfboot herausgegebenen Zeitschrift „Peripherie“ (Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt) bezieht in elf Essays Positionen: „Es gilt, den ‚methodischen Nationalismus‘, den Essentialismus, für den Staaten, Nationen, Kulturen, Gesellschaften jeweils wesensmäßig von einander geschiedene Größen darstellen, die ihre Dynamik alleine aus sich selbst beziehen, zu überwinden“; denn „sie alle sind hybride, in sich widersprüchliche Gebilde mit durchlässigen Grenzen, sind Außeneinflüssen und historischem Wandel unterworfen“. Um nämlich die Macht und Vorherrschaft des kapitalistischen Weltsystems verstehen zu können, bedürfe es des historischen Blicks und der Erkenntnis, dass „für das gegenwärtige, das kapitalistische Weltsystem entscheidend ist die koloniale Differenz, durch die seit Beginn der Kolonialexpansion ein Machtungleichgewicht zwischen Metropolen und Peripherien festgeschrieben ist“. Die Postkolonialismus-Aspekte sind jedoch nur ein Anliegen des Autors; insgesamt geht es um „Ideologiekritik“; angesichts der vielfältigen, seit Jahrzehnten vorliegenden Bestandsaufnahmen zur Lage der Welt Heute und Morgen. Die Essays können als eigenständige Analysen zur Globalisierungsdebatte gelesen werden. Allen gemeinsam ist, dass der Autor den (überwiegend) im herrschenden (westlichen) Entwicklungsdiskurs favorisierten Auffassungen widerspricht, dass es vor allem (in Afrika) die „Regulationsmacht“ der Mächtigen sei, gepaart mit „Neopatrimonialismus“, die Entwicklungsdefizite schaffe. Er sieht auch nicht (alleine) im „Good Governance“ – Konzept die Lösung des Problems, weil in ihm „konstitutiv mit eingebauten Beschränkungen seiner instrumentellen Unterordnung unter das Ziel der Wirtschaftsentwicklung und seiner ideellen Unterordnung unter die kapitalistische Eigentumsordnung“ steht. Die bis auf wenige bereits in anderen Publikationen in den Jahren von 2004 bis 2010 erschienenen, überarbeiteten, aktualisierten und aufeinander abgestimmten Beiträge wurden vom Autor mit dem Ziel neu publiziert, die in der Soziologie, der Entwicklungspolitik und der Anthropologie in der Moderne formulierten Theorien, Aspekte und Programme durch eine Ideologiekritik zu ergänzen, „um kritische Analyse von aktuellen soziologischen und politologischen Ansätzen, die mittels essentialistischer Gesellschaften als ontologische Gegebenheiten betrachtender, die weltgesellschaftlichen Zusammenhänge ignorierender Konzepte, Gesellschaftsanalyse zu betreiben suchen“[25].

Kollektivitätsverständnis

Im philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen und -kritischen Denken wird die Spannweite zwischen distributiven und kollektiven Einstellungen immer wieder kontrovers diskutiert. Während erstere Haltung, abgeleitet vom lateinischen distributive – jedem Einzelnen für sich – der individualisierte und eher egoistische Gedanke zugrunde liegt, wird „collective“ verstanden als „alle zusammen genommen“. Ein Kollektivbewusstsein wird demnach bestimmt von der „politeia“, die eine rechtlich-soziale, ökonomische und sittliche Ordnung in einem Gemeinwesen ermöglicht. Weil aber die Wirklichkeiten der Herrschaftsverhältnisse, der gesellschaftlich gemachten und gewordenen Strukturen und der subjektiven Alltagspraktiken immer auch in Abhängigkeit des Subjekts von der Herrschaft von anderen Personen, Institutionen und Verhältnissen stehen, bedarf es eines Blickwechsels, der im poststrukturellem Bewusstsein wegführt von einem „Kollektivitätsverständnis im Sinne einer weitgehend homogenen Solidar- und Interessengemeinschaft“. Diese Perspektivenerweiterung provoziert gleichsam eine Reihe von Fragen zur Beziehungshaftigkeit des Subjekts: „Inwiefern lässt sich das Eingewobensein in soziale Bezüge in einem stärkeren Sinn als Form kollektiver Bindung verstehen? – Um welche Art von Kollektiven handelt es sich dabei? – In welchem Verhältnis stehen derartige Kollektivitätsverständnisse zu jenen, die in der feministischen Intersektionalsitätsdiskussion eine Rolle spielen? – Wenn das eine Subjekt im Vielen seiner Beziehungen aufgeht, wenn das einheitliche Selbst einer Vielzahl von Stimmen weicht, muss dann nicht in einem neuen Anlauf diese Pluralität selbst zum Untersuchungsgegenstand werden?“. Diese Fragen stellten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den interdisziplinären Bereichen der Politischen Theorie, der Politischen Philosophie, der Sozialtheorie, der Rechtstheorie, der Soziologie, der Literatur- und Kulturwissenschaft, der Erziehungs- und Religionswissenschaften. Sie kamen vom 28. bis 30. Juni 2012 am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin zusammen, um sich im wissenschaftlichen Diskurs damit auseinander zu setzen, wie „sich Gemeinschaften denken lassen und wie Kollektivität vorgestellt werden kann, wenn die scheinbar zentrale Kategorie zur Vergemeinschaftung, die Kategorie der Identität, zum kritischen Projekt geworden ist“. Die Germanistin und Geschäftsführerin des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin, Gabriele Jähnert, die Philosophin Karin Aleksander und die Soziologin Marianne Kriszio, legen die deutschsprachigen Beiträge der Konferenz „Kollektivität nach der Subjektkritik“ vor. Kritisches wissenschaftliches Arbeiten ist dadurch bestimmt, dass es den Blick und das Bewusstsein weitet, wie sich gesellschaftliche und politische Entwicklungen vollziehen, mit dem Ziel, Veränderungen hin zu einem guten, gelingenden Leben für alle Menschen in der jeweiligen Gesellschaft und weltweit mit bewirken zu helfen. Die vielfältigen, interdisziplinären, auch kontroversen Zugänge zu Fragen und Entwicklungen im wissenschaftlichen Kollektivitätsdiskurs nehmen die Tatsache auf, dass Formen von Kollektivität in nahezu allen Lebenslagen und gesellschaftlichen Bezügen der Menschen wirksam sind. Die Frage, „wie sich Gemeinschaften denken lassen und wie Kollektivität vorgestellt werden kann, wenn die scheinbar zentrale Kategorie zur Vergemeinschaftung, die Kategorie der Identität, zum kritischen Projekt geworden ist“, lässt sich weder als Ordre Mufti, noch als Ideologie beantworten. Im wissenschaftlichen Dialog wird nach möglichen Antworten und Lösungsansätzen gesucht[26].

Lebensbekenntnisse (1)

Die Frankfurter Buchmesse hat 2006 das Schwerpunktthema „Indien“ ausgewiesen. Neben Reiseliteratur, aktuellen politischen Analysen, historischen Beschreibungen, Romanen und Medien galt die Aufmerksamkeit des Literaturmarktes auch mystischen, spirituellen und religiösen Fragestellungen in diesem riesigen Land mit mittlerweile fast 1,3 Milliarden Menschen. Ein Autorenpaar, der indische Psychoanalytiker und Schriftsteller Sudhir Kakar und die aus Deutschland stammende Religionswissenschaftlerin Katharina Kakar stellten dabei ihr Buch „Indien“ vor, in dem sie interkulturell auf die Unterschiede im indischen und westlichen Denken aufmerksam machen: „In Indien entsteht Identität eher durch Dehnung, durch die Erweiterung von Grenzen als durch Abkehr oder Abgrenzung“. Ganz aktuell und durch die Diskussionen und Auseinandersetzungen um Frauenrechte auf der Tagesordnung in Indien, wird in dem Buch auch darauf hingewiesen: „Indien war und ist noch immer eine patriarchalische Gesellschaft“, mit dem Ergebnis, dass sich Frauen im Allgemeinen unterzuordnen haben und entmachtet sind. Die schwierigen und langwierigen gesellschaftlichen, patriarchalen und weltanschaulichen Veränderungsprozesse, die sich derzeit in Indien vollziehen, nehmen wir im Westen wahr durch die medialen Aufmerksamkeiten und Wortmeldungen, wie sie etwa von der 19jährigen Studentin Raveena Chaudhray an der Universität in Delhi und Demonstrantinnen und Demonstranten gegen die traditionellen Strukturen geäußert werden: „Es wird lange dauern, bis wir die Gesellschaft ändern können und Frauen gleichberechtigt sind. Damit fangen wir gerade erst an!“ (DIE ZEIT, Nr. 3 vom 10. 1. 2013, S. 59). Mit dem Buch „Die Seele der Anderen“ legt Sudhir Kakar seine Lebensbilanz vor und stellt sich erneut als Analytiker und Vermittler zwischen Kulturen dar und präsentiert sich als ein Lebenskünstler, der zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Präsenz und Scheinbarkeit, zwischen Lieben und Nutzen, zwischen Erleben und Erleiden sich darum bemüht, als Romantiker und Realist zu existieren, sehr wohl wissend, dass die Reflexionen über das eigene Leben immer auch die Leben der Anderen einschließen, ob man will oder nicht will! Memoiren können Schatzkästchen oder Rumpelkammern sein. Beides finden wir in Sudhir Kakars Lebenserinnerungen „Die Seele des Anderen“. Mit dem Spagat zwischen Osten und Westen und zwischen den Kulturen kommt der sympathische Psychoanalytiker, der gleichzeitig Ingenieur ist, zu der bescheidenen wie gleichzeitig anspruchsvollen Erkenntnis, dass das Memoirenschreiben nicht dazu dienen sollte und kann, ein vollständiges Selbstportrait von sich selbst abzuliefern, sondern nur zu versuchen, dem eigenen Selbstwertgefühl dabei keinen ernsthaften Schaden zuzufügen. Wenn dann dabei noch herauskommt, sich durch Erinnerung selbst besser kennen zu lernen und zu verändern und Leserinnen und Leser dabei glaubhaft Anteil nehmen zu lassen, dann ist die Anstrengung gelungen! Es mag an der immer wieder (von Westlern) beschriebenen indischen Sinnlichkeit und Sanftmut, aber auch an der (im Westen gelernten?) Rationalität und Zielgerichtetheit liegen, dass Sudhir Kakars Memoiren nichts „Exotisches“, sondern viel Menschliches anhaftet![27].

Lebensbekanntnisse (2)

In der sich immer interdependenter und entgrenzender bildenden (Einen?) Welt wird die Frage immer drängender, auf welchen Weltbildern die Entwicklung der Menschheit in der Gegenwart und Zukunft beruht. Die hoffnungsvolle Erwartungshaltung, dass sich ein Bewusstsein entwickeln möge, das jeder Mensch tagtäglich die Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft der Menschheit mit sich trägt[28]. dazu:), wird im bildungstheoretischen und pädagogisch-praktischen Diskurs nach wie vor durch die Überhöhung des abendländischen und der Tabuisierung oder zumindest der Nichtwahrnehmung des morgenländischen Denkens vollzogen. An der Universität Heidelberg hat die Sozialwissenschaftlerin Christine Kupfer ihre Dissertationsschrift „Bildung zum Weltmenschen. Rabindranath Tagores Anthropologie und Pädagogik“ vorgelegt. Es ist ein Beispiel dafür, wie informativ und überraschend ein Blick auf einen außereuropäischen Denker sein kann, der im westlichen, erziehungswissenschaftlichen Diskurs bisher nur allzu einseitig wahr genommen wird, um nicht zu sagen vergessen wurde. Rabindranath Tagore (Thakur) lebte von 1861 bis 1941 im heutigen indischen Bundesstaat Westbengalen. Für sein literarisches, vor allem poetisches Schaffen wurde er 1913 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. In Indien und Bangladesh werden seine Lieder weiterhin gesungen, seine Gedichte rezitiert und seine Romane gelesen. Bei seinen Deutschlandbesuchen 1921, 1926 und 1930 entwickelte sich beinahe im Lande ein Tagore-Kult. Die Veranstaltungen mit ihm waren ausverkauft. Als „Weiser aus dem Morgenland“ wurde er gefeiert. Bertold Brecht, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse und Albert Schweitzer haben seine Gedichte gelesen, teilweise übersetzt und sind von seiner Philosophie beeinflusst worden. Doch danach erlosch die Begeisterung für sein Werk. Erst jetzt wieder, 2011, hat die Deutsch-Indische Gesellschaft aus Anlass seines 150. Geburts- und 70. Todestages sich des indischen Weltgelehrten erinnert, z. B. mit der Tagung „Tagore und Deutschland“, vom 10. – 11. 3. 2011 in Marburg. Die Arbeit von Christine Kupfer besticht zum einen dadurch, dass es ihr gelingt, Tagores pädagogische Philosophie und Anthropologie sichtbar und nachvollziehbar zu machen. Dabei kann weder von Heiligsprechung noch von Überhöhungen gesprochen werden. Die Autorin lässt in ihrer Arbeit auch eine Reihe von Kritiken und Gegenpositionen zu Wort kommen. Die Darstellung der pädagogischen Bedeutung Tagores als Pädagoge, Anthropologe und Philosoph stellt sich als Berichterstattung und Analyse dar. Zum anderen bietet die Forschungsarbeit die Chance, im historischen und interkulturellen erziehungswissenschaftlichen Diskurs Vergleiche anzustellen, Parallelen aufzufinden und nicht zuletzt die globale Diskussion um das „gute, gelingende Leben“ (Aristoteles) anzustoßen. „Von Tagore lernen“ heißt ja nicht, blindlings und mit fliegenden Fahnen seine Ideen zu übernehmen (oder ideologisch danach zu suchen, wie sie zu verdammen wären), sondern im echten Sinne des Wissenserwerbs offen zu sein für anderes Denken und andere Erfahrungen.[29].

Fazit

Die Hinweise auf die (subjektiv ausgewählte) wissenschaftliche Literatur zum philosophischen, soziologischen und gesellschaftspolitischen Diskurs um die Spannweite und den Spagat von „Individuum und Gesellschaft“ wollen auch darauf aufmerksam machen, dass es sich bei den  individuelle und kollektive Wahrnehmungen und , Selbstvergewisserungen um interdisziplinäre Phänomene handelt, die der Denk-, Gedächtnis- und Erinnerungsanstrengung des Menschen bedürfen[30]. Es sind die vielfältigen, rapide, lokal und global sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Weltsichten und –bilder, die sich als Herausforderung der Moderne alltäglich, gesellschaftlich und im wissenschaftlichen Diskurs ergeben. Die Erkenntnis, dass der Mensch grundsätzlich und existentiell ein wandelbares Lebewesen ist, durchzieht die Menschheitsgeschichte von Anbeginn an; aber die Versuche, Selbstbestimmung und Selbstwertigkeit ideologisch, machtpolitisch oder anthropo-orientiert zu interpretieren und festzulegen, sind gleichzeitig als Markierungen in die Entwicklungsgeschichte der Menschen eingelassen[31]. Die sich dabei ergebenden Festlegungen wie Irritationen zeigen sich in allen Bereichen menschlichen Daseins und Wirkens[32]; und sie stellen sich nicht zuletzt als soziokulturelle Dimensionen des Erinnerns dar[33]. Die (Lern-)Auseinandersetzung mit dem Themenbereich „Individuum und Gesellschaft“ ist gefordert! Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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[1] Hellmut Flashar, Aristoteles. Lehrer des Abendlandes, 2013, zur Rezension

[2] Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 640 S.

[3] Louis Althusser, Das Kapital lesen, 2014, zur Rezension

[4] Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S. 347

[5] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48

[6] Enrique Barón Crespo, Das Doppelgesicht Europas, in: UNESCO-Kurier 7/8-1992, S. 5

[7] Bruno Latour, Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt/M., 2007, 488 S.; sowie: Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, 2014, zur Rezension

[8] vgl. dazu auch: Richard Sennett, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, 2012, zur Rezension

[9] Arno Bammé, Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt, 2011, zur Rezension

[10] Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht,2012, zur Rezension

[11] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1995), 2. erweit. Ausg. (Kurzfassung), Bonn 1997, S. 18

[12] Jürgen Straub, Hg., Der sich selbst verwirklichende Mensch. Über den Humanismus der Humanistischen Psychologie, 2012, zur Rezension

[13] Stephan Haltmayer, Hrsg., Homo universalis. Evolution, Information, Rekonstruktion, Philosophie ; Erhard Oeser zur Feier seines 70. Geburtstages, 2011, zur Rezension

[14] Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, zur Rezension

[15] Jos Schnurer, Wer philosophiert – lebt!, 28.01.2014, zur socialnet Materialie

Benedikt Fait, Hrsg.,: Identität - Logik - Kritik. Festschrift für Ulrich Pardey zum 65. Geburtstag, 2014, zur Rezension

[17] Franz Josef Wetz, Rebellion der Selbstachtung. Gegen Demütigung, 2014, zur Rezension

[18] Daniel N. Stern / Nadia Bruschweiler-Stern / Karlen Lyons-Ruth / Alexander C. Morgan / Jeremy P. Nahum / Louis P. Sander, Veränderungsprozesse. Ein integratives Paradigma, 2012, zur Rezension

[19] Helmut Junker, Intersubjektivität und implizites Gedächtnis. Reflexionen veränderter therapeutischer Praxis, 2013, zur Rezension

[20] Daniel N. Stern, Ausdrucksformen der Vitalität, 2011, zur Rezension

[21] Richardt Edtbauer / Alexa Köhler-Offierski, Hrsg., Welt – Geld – Gott, 2012, zur Rezension

[22] Gerald Hartung / Magnus Schlette, Hrsg., Religiosität und intellektuelle Redlichkeit,  2012, zur Rezension

[23] Bruno Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, 2012, zur Rezension

[24] Silvia Henke / Nika Spalinger / Isabel Zürcher, Hrsg., Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen, 2012, zur Rezension

[25] Gerhard Hauck, Globale Vergesellschaftung und koloniale Differenz, 2012, zur Rezension

[26] Gabriele Jähnert, Hrsg., Kollektivität nach der Subjektkritik. Geschlechtertheoretische Positionierungen, 2013, zur Rezension

[27] Sudhir Kakar, Die Seele der Anderen. Mein Leben zwischen Indien und dem Westen, 2012, zur Rezension

[28] Christoph Antweiler, Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung, 2010, zur Rezension

[29] Christine Kupfer, Bildung zum Weltmenschen. Rabindranath Tagores Philosophie und Pädagogik, 2013, zur Rezension

[30] Christian Gudehus / Ariane Eichenberg / Harald Welzer, Hrsg., Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2010, zur Rezension

[31] Bernhard Rathmayr, Selbstzwang und Selbstverwirklichung. Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen, Bielefeld 2011, zur Rezension

[32] Philip Thelen, Vergleich in der Weltgesellschaft. Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik, Bielefeld 2011, zur Rezension

[33] Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2011, zur Rezension