„Jugend und Internet sind zwei Zauberwörter, ohne die die Zukunft ... der arabischen Welt nicht gedacht werden kann“

von Dr. Jos Schnurer
10.02.2011 | Sozialpolitik | Schwerpunkte Kommentare (0)

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Die (revolutionären) Entwicklungen, wie sie sich derzeit (auch) im arabischen Raum vollziehen, lassen die Frage laut werden, ob sich die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in der arabischen Welt auch ohne die neuen Technologien, ohne Internet, Handy, Facebook, Twitter und Co., so vollziehen würden. Eine Antwort lautet: Sicherlich auch ohne, aber nicht so schnell und intensiv! Insbesondere die westlichen Hoffnungen, dass sich in den eher autokratisch, zentralistisch, militärisch-bürokratisch und autoritär-diktatorisch verfassten Ländern des Islam eine Entwicklung hin zu demokratischen und menschenrechtsbestimmten Strukturen vollziehen möge, wie auch die Sorgen und Ängste, dass dabei religiös-fundamentalistische Formen entstehen könnten, bestimmen den politischen und medialen Diskurs. Er reicht von einer all zu vereinfachenden Sichtweise eines eher westlich gedachten Wandlungsprozesses, bis hin zu Euphorien, dass sich nun endlich so etwas wie eine friedliche, gerechte und demokratische EINE WELT [i] etablieren könnte.

War Tunesien der Anfang?

Während die Kommentatoren der aktuellen Entwicklung in den in Tunesien begonnenen, revolutionären, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen den ersten Dominostein sehen, der die Entwicklungen in den anderen arabischen und islamischen Ländern anstoßen und die undemokratischen Regime zu Fall bringen wird[ii], verläuft die soziologische, medien- und politikwissenschaftliche Auseinandersetzung auf eher längerfristig orientierten Wegen.

Eine Rezensions-Querschrift

Mit dieser Kurz-(Quer-)schrift soll auf einige Tendenzen verwiesen werden, wie sie sich im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs vollziehen; natürlich subjektiv ausgewählt und individuell verantwortet. Da haben wir zum einen den ja nicht zum ersten Mal unternommenen Versuch, den Zustand der Welt auch für dich und mich verständlich zu machen, gewissermaßen populärwissenschaftlich zu erklären, was wir, „vor Ort“ und in unserem Alltag, mit dem Eine-Welt-Denken zu tun haben und uns vorstellen können, dass die Welt ein Dorf wäre (z. B.: Donella Meadows, Wenn die Welt ein Dorf wäre? München 2003). Die österreichischen Wirtschafts- und Sozialhistoriker von der Universität Innsbruck, Josef Nussbaumer und Andreas Exenberger haben, zusammen mit dem Grafiker Stefan Neuner ein Büchlein mit dem Titel „“Unser kleines Dorf. Eine Welt mit 100 Menschen“ [iii]. Denn das dürfte, lokal und global, eine der größten (didaktischen und allgemeinbildenden)  Herausforderungen sein, die im wahrsten Sinne des Wortes gewaltigen und vielfältigen, gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und politischen Probleme auf der Erde verständlich lernend (im Sinne der wörtlichen Bedeutung als Verhaltensänderung) zu übersetzen.

Transnationalismus als Lösung?

„Die Welt- und Subjektentwürfe der Gegenwart begründen sich zusehends in den immer leistungsfähigeren Kommunikations- und Transporttechnologien, den verdichteten, grenzüberschreitenden Informations- wie Migrationsströmen und der dadurch manifesten Raum- und Zeitkompression“ – es sind die transnationalen Herausforderungen, die sich in allen Bereichen menschlichen Lebens und überall in der Welt zeigen. Es sind die Herausforderungen, die sich in der globalisierten Entwicklung positiv und negativ darstellen. Es sind die Fragen nach der globalen Gerechtigkeit [iv], nach den Normen- und Wertvorstellungen, die das menschliche Dasein bestimmen und vielfach ein globales, friedliches Zusammenleben der Menschen so schwierig machen [v]. Es ist die Suche nach den anthropologischen Wesenszügen des Menschen, die notwendig ist, die Wandlungs- und Veränderungsprozesse zu verstehen, die sich in der globalisierten Welt vollziehen [vi]. Und es ist die Frage danach, wie viel Transnationalismus die Kultur verträgt [vii] .

Die Bodenlosigkeit der Welt

Über kulturelle Dimensionen und Konflikte zu reflektieren und zu forschen, ist ohne Zweifel in der sich immer interdependenter, multikultureller und entgrenzender Einen (?) Welt zu einer wichtigen und drängenden Herausforderung geworden, soll nicht ego- und ethnozentriertes Denken und Handeln darüber bestimmen, welche Meinungen und Lösungen bei nationalen und internationalen Auseinandersetzungen gelten sollen [viii]. „Achtet, worauf ihr steht, geht – und lebt!“, diese Aufforderung gilt es heute mehr denn je zu beachten, angesichts der zunehmenden „Bodenlosigkeit“ des menschlichen, alltäglichen Lebens. Eine „Philosophie des Bodens“ ist gefragt in den Zeiten des Verschwindens des Verlässlichen [ix]. Weil jeder Mensch tagtäglich die Verantwortung für die Zukunft der Menschheit mit sich trägt, ist es unerlässlich, unser Menschenbild von den ethno- und eurozentrischen Bildern loszulösen und ein kosmopolitisches Weltbild zu erlangen [x].

Internet-Nutzung in der arabischen Welt

Ines Braune, die am Orientalischen Institut der Universität Leipzig mit ihrer Forschungsarbeit „Aneignungen des Globalen. Internet-Alltag in der arabischen Welt. Eine Fallstudie in Marokko“ [xi] promoviert hat, stellt fest, dass die Internetnutzung für die arabischen Jugendlichen, besonders in den urbanen Räumen „in höchstem Maße relevant und zentraler Bestandteil der Alltagsgestaltung“ ist; wie auch der bisherigen Meinung widersprochen werden muss, dass der Internet-Alltag eher Privatvergnügen sei und konsumtives Verhalten anzeige; vielmehr wird deutlich, dass die sofortige und jederzeitige Verfügbarkeit der virtuellen Kommunikation auch Berge versetzen, Verhaltensänderungen provozieren und politisches Bewusstsein erzeugen könne  - wie dies eindrucksvoll derzeit im Vorderen Orient vorgeführt wird.

Pharao und Prophet

Als ob der Bielefelder Soziologe und Leiter der Forschungsgruppe „Heilige Orte“ im Sonderforschungsbereich „Kulturelle und sprachliche Kontakte“ an der Universität Mainz und Mitglied einer internationalen Studiengruppe zu „Islam und Moderne“ am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, Georg Stauth, es geahnt hätte, was sich derzeit in den arabischen Ländern an politischen und gesellschaftlichen Veränderungen vollzieht, formuliert er in seinem Buch „Herausforderung Ägypten“, in dem er über Religion und Authentizität in der globalen Moderne reflektiert: „Der `Pharao` und der `Prophet` sind keine toten Größen oder schattenlose Denkmäler der Geschichte“, sondern Wirkmächte bei der Entstehung von verarmter Massen- und antreibender Konsumkultur [xii]. Bei der Einschätzung und Beurteilung von nationalen und internationalen Konflikten ist es notwendig, nicht nur die konkret vorfindbaren, politischen und gesellschaftlichen Ursachen und Wirkkräfte anzuschauen und zu analysieren, sondern auch die historischen, kulturellen, religiösen, emotionalen und mentalen Lebenszeichen der Menschen zu berücksichtigen. Die Wandlungsprozesse, wie sie sich in Ägypten, dem Ursprungsland des Monotheismus einerseits, der islamischen Orthodoxie andererseits und schließlich in den unterschiedlichen Facetten des globalen islamischen Modernismus darstellen, lassen sich auch für die aktuelle Situation in der Region deuten.

Wir hören euch – hören wir sie?

Obamas Ausruf, mit denen er sich an die Demonstranten in Ägypten wendet: „Wir hören euch!“, ist mit einem Echo versehen; es ist der Schrei nach Freiheit und Unabhängigkeit, der ohne Zweifel aus verschiedenen Motiven gesteuert und angetrieben wird – es sind ideele und materielle, egoistische und machtpolitische, aber auch ethische und menschenrechtsorientierte Gründe und Schreie nach Innen und Außen. Die Proteste gegen die autoritären Regime und Gesellschaftsstrukturen lassen sich allerdings auch als ein Flüstern deuten, weil die Protestanten  sich der ungewohnten eigenen Freiheitsvorstellungen, -wünsche und –hoffnungen nicht sicher sein können. Deshalb sind die Rufe nach einem Wandel auch Hilferufe an uns. Und es ist in unserem ureigensten Interesse, die vielfältigen Echos zu hören und mit unseren Mitteln darauf zu reagieren [xiii].

Globaler Humanismus und empathische Zivilisation

Die freiheitliche Welt, in welcher Intensität und ideellen oder realen Verfasstheit sie sich auch immer darstellt, sollte nicht mit den gewohnten Machtmitteln in die Konflikte im Vorderen Orient eingreifen, sondern mit den humanen, ethischen und moralischen Umgangsformen reagieren, wie sie in den Zeiten des globalen Humanismus [xiv] gefordert sind. Die Wandlungen des Homo egoicus und Homo oeconomicus hin zum Homo empathicus ist angesagt, um lokal, regional und global eine „empathische Zivilisation“[xv] zu schaffen und den ideologischen, undemokratischen, machtbesessenen, korrupten und kleptomanen Regimen überall in der Welt den Kampf anzusagen.

Fussnoten

[i] Jos Schnurer, Für Eine Welt – in Einer Welt. Überlebensfragen bei der Weiterentwicklung von Bildungs- und Erziehungsaufgaben der Schule, Verlag Dialogische Erziehung / Paulo Freire Verlag, Oldenburg 2003, 267 S.
[ii] Amr Hamzawy, Ja, es geht. Tunesiens Beispiel lässt sich nicht auf Ägypten übertragen. Aber es macht Hoffnung, in: DIE ZEIT, Nr. 5 vom 27.1.2011, S. 9 Willi Jasper (Hrsg.): Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur? Verlag Dr. Köster (Berlin) 2009. 350 Seiten. ISBN 978-3-89574-710-6. In: socialnet Rezensionen unter https://www.socialnet.de/rezensionen/8437.php
[iii] Josef Nußbaumer / Andreas Exenberger (Hrsg.), Unser kleines Dorf, IMT Verlag, Kufstein 2010, siehe https://www.socialnet.de/rezensionen/10572.php
[iv] vgl. dazu: Christoph Broszies / Henning Hahn, Hrsg., Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, Suhrkamp Verlag, Frankfurt / M., 2010, in: http;//www.socialnet.de/rezensionen/10481.php
[v] Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2010, in: https://www.socialnet.de/rezensionen/10807.php
[vi] Werner Petermann: Anthropologie unserer Zeit, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2010, in: https://www.socialnet.de/rezensionen/10567.php
[vii] Willi Jasper , Hrsg., Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur? Verlag Dr. Köster, Berlin 2009, in: https://www.socialnet.de/rezensionen/8437.php
[viii] Wilhelm Berger / Brigitte Hipfl / Kirstin Mertlitsch / Viktoria Ratkovic, Hrsg., Kulturelle Dimensionen von Konflikten, in: https://www.socialnet.de/rezensionen/10333.php
[ix] Charlotte Jurk / Reimer Gronemeyer, Hrsg., Bodenlos. Vom Verschwinden des Verlässlichen, Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt/M., 2011, in: https://www.socialnet.de/rezensionen/10750.php
[x] Christoph Antweiler, Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung, transcript Verlag, Bielefeld 2010, in: https://www.socialnet.de/rezensionen/10879.php
[xi] Ines Braune: Aneignungen des Globalen. Transcript Verlag, Bielefeld 2008, in: http;//www.socialnet.de/rezensionen/8133.php
[xii] Georg Stauth, Herausforderung Ägypten. Religion und Authentizität in der globalen Moderne, transcript Verlag, Bielefeld 2010, 272 S., ISBN978-3-8376-1201-1
[xiii] Niklas Reese / Judith Welkmann, Hg., Das Echo der Migration. Wie Auslandsmigration die Gesellschaften im globalen Süden verändert, Horlemann Verlag, Bad Honnef, 2010, in: https://www.socialnet.de/rezensionen/10775.php
[xiv] Jörn Rüsen / Henner Laass, Hrsg., Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, Wochenschau Verlag, Schwalbach 2009, in: https://www.socialnet.de/rezensionen/8537.php
[xv] Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Campus Verlag, Frankfurt/M., 2010, in: https://www.socialnet.de/rezensionen/9048.php