Missbrauchsbeauftragter fordert deutlich kindgerechtere Verfahren

Verfahrensabläufe für sexuell missbrauchte Kinder in Deutschland sind deutlich verbesserungswürdig. Anlässlich der Fachtagung „Missbrauch entdeckt – was dann?“ der World Childhood Foundation forderte der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, die Politik auf, das zu verändern. In einem Positionspapier beschreiben der Beauftragte und sein Beirat Lösungsmöglichkeiten für eine kindgerechte Begleitung durch die Verfahren. Rörig fordert: „Unsere Hilfe- und Rechtssysteme müssen mehr an den Bedürfnissen der betroffenen Kinder orientiert sein. Dadurch könnten beispielsweise Mehrfachvernehmungen oft vermieden werden.“

Die Fachtagung „Missbrauch entdeckt – was dann?“ der World Childhood Foundation fand im Beisein der Gründerin der Organisation, I.M. Königin Silvia von Schweden statt. Vorgestellt und diskutiert wurde dort das skandinavische „Barnahus“-Modell („Kinderhaus“-Modell). Dort wo das Modell bereits angewandt wird, so in Schweden und Island, gilt als vorbildlich in der Begleitung betroffener Kinder und Jugendlicher durch die einzelnen Systeme, nachdem sexueller Kindesmissbrauch zur Anzeige gekommen ist. Angeregt durch dieses „Barnahus“-Modell ist das Positionspapier „Hilfsangebote und strafrechtliche Fallbearbeitung bei sexuellem Missbrauch – vom Kind her denken und organisieren und dabei entwicklungsspezifische Bedürfnisse von Kindern berücksichtigen“, enstanden. Rörig: „Wir werden uns intensiv dafür einsetzen, dass unsere Empfehlungen bei der Ausformulierung neuer Ziele im Kinderschutz in der nächsten Legislaturperiode von der Politik berücksichtigt und umgesetzt werden. Aktuell gibt es in Deutschland eine Vielzahl spezialisierter Rechts- und Hilfesysteme, die wenig aufeinander abgestimmt und nicht aus der Perspektive des Kindes heraus gedacht sind. Nach wie vor dauert es sehr lange, bis betroffene Kinder effektiven Schutz, Hilfe und wenn nötig Therapie erhalten. Strafjustiz und Kinderschutz arbeiten oft nicht Hand in Hand im Interesse der betroffenen Mädchen und Jungen. Bestehende Möglichkeiten im Strafrecht, wie beispielsweise der Einsatz der Videovernehmung, um belastende Mehrfachvernehmungen zu vermeiden, werden leider viel zu wenig genutzt.“ Der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Mitglied im Beirat des Beauftragten, bekräftigte die Forderungen: „Für ein achtjähriges Kind sind ein bis zwei Jahre bis zum Ausgang eines Straf- oder familiengerichtlichen Verfahrens eine unendlich lange Zeit, das ist ein Viertel seines Lebens. Die entwicklungsbedingte Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit von Kindern muss bei der Verfahrensgestaltung stärker berücksichtigt werden.“ Laut Fegert müssten sich die Strukturen an den Bedürfnissen von belasteten Kindern und Jugendlichen orientieren und nicht an Systemlogiken. „So darf beispielsweise ein akuter Therapie- oder Hilfebedarf von Kindern nicht deshalb zurückgestellt werden, weil für eine mögliche Strafverfolgung die Aussage des Kindes möglichst unverfälscht erhalten bleiben soll.“ Der Frankfurter Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Ludwig Salgo, ebenfalls Mitglied im Beirat, weist vor allem auf die Bedeutung der Aus- und Weiterbildung hin: „Ein wirksamer Kinderschutz hängt nicht zuletzt von der Qualifikation der professionellen Akteure und einer guten interdisziplinären Vernetzung ab.“ Studierende, die in ihrem späteren Beruf mit Kindeswohlgefährdung zu tun haben, müssten bereits in der Ausbildung an den Hochschulen und Universitäten mit diesem Themenfeld vertraut gemacht werden, erklärte Salgo weiter. „Das gilt auch und gerade für die Aus- und Weiterbildung von Richterinnen und Richtern, die vielfach kein oder nur wenig Wissen zu sexuellem Kindesmissbrauch haben.“

Das Positionspapier sowie weitere Informationen finden Sie unter:
https://beauftragter-missbrauch.de/nc/presse-service/pressemitteilungen

Informationen zur World Childhood Foundation und der Fachtagung „Missbrauch entdeckt – was dann?“ unter: http://de.childhood.org/aktuelles/archiv/fachtagung-2016

Quelle: Pressemitteilung des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs vom 7. Oktober 2016