Foto Martina Sander
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Syrerinnen im Exil: Flucht als Chance? Geschlechterforscherin Nisren Habib im Interview

Wie verändert sich das Verhältnis der Geschlechter, wenn Menschen ihre Heimat und ihre traditionellen Lebensumstände verlassen müssen? Diese Frage beschäftigt die in Syrien geborene Geschlecherforscherin Nisren Habib, die seit 2013 im Libanon lebt. Nach ihrem Diplom im Fach Women‘s Studies an der Beirut Arab University ist sie als Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Gast am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Mit der Geschlechterforscherin sprach Antonia Zimmermann*.

Wie nehmen Sie die Lage der Geflüchteten im Libanon wahr?

Die Situation dort ist äußerst schwierig, weil der Libanon die Flüchtlingskonvention nicht unterschrieben hat. Diese spricht Flüchtlingen gewisse Schutzrechte zu, im Libanon ist dies allerdings nicht der Fall. Die dadurch entstehenden legalen Barrieren machen das Ausüben eines Berufes oder den Zugang zu Bildung für Kinder unmöglich und erschweren die medizinische Versorgung enorm. Viele Geflüchtete fühlen sich, besonders nach der neuen Visumsregelung der Türkei, im Libanon gefangen und erhoffen sich in Europa ein einigermaßen normales Leben.

Sie sind Programm-Managerin der Organisation „SAWA for Development and Aid“, die sich im Libanon für Geflüchtete einsetzt. Was macht diese Organisation?

SAWA wurde 2011 als Reaktion auf die sich verschlimmernde Lage in Syrien gegründet. Junge Menschen wollten auf die grundlegenden Bedürfnisse der ersten Geflüchteten eingehen. Ende 2013 wurde SAWA eine registrierte Nicht-Regierungs-Organisation im Libanon. Seitdem sind wir hauptsächlich in drei Bereichen tätig: Wir organisieren Bildungsprojekte, Hilfsprojekte und Entwicklungsprojekte. Mit Hilfe unserer Freiwilligen, die aus dem Libanon, Syrien oder auch Europa kommen, konnten wir während des Ramadan täglich 4.000 Mahlzeiten aushändigen. Ich war ab 2013 ehrenamtliche Helferin, seit 2015 bin ich Programm-Managerin und leite somit alle drei Bereiche.

Wie hängt Ihre Diplomarbeit in „Women‘s Studies“ mit Ihrer Arbeit bei SAWA zusammen?

Ich glaube, dass das Engagement für die Rechte syrischer Frauen seit dem Beginn des Krieges in Syrien noch wichtiger geworden ist. Frauen sind in der Regel am stärksten durch Kriegsumstände und -folgen beeinträchtigt, haben aber auch die Fähigkeit, aus diesen schwierigen Situationen gestärkt hervorzugehen. Im Libanon ist mir aufgefallen, dass Frauen oft die aktivere Rolle spielen – sie sind es, die nach Unterstützung, medizinischer Versorgung und Arbeit suchen. Für meine Diplomarbeit habe ich untersucht, wie sich Geschlechterrollen durch die Flucht und die erschwerte Situation verändert haben. Dafür habe ich Interviews mit Frauen in Flüchtlingscamps geführt. Ich habe herausgefunden, dass die Frauen zwar oft neue Rollen angenommen haben, indem sie zum Beispiel angefangen haben, in der Landwirtschaft oder anderen Berufen mitzuarbeiten. Diese Rollen übten sie jedoch nur zuzüglich zu alten, traditionellen Rollen aus. In wenigen Fällen hatte das einen wirklich bestärkenden Effekt auf die Rolle der Frau. Meistens änderte sich aber an ihrer Stellung in der Familie nichts. Und oftmals nahmen die Fälle häuslicher Gewalt sogar zu, da ihren Ehepartner oder Brüdern die traditionelle männliche Rolle abhandengekommen war. Sie waren daran gewöhnt, zu arbeiten, aktiv zu sein und Geld zu verdienen, doch nun saßen sie meistens in den Zelten ohne irgendetwas zu tun. Diese neue Situation machte sie verzweifelter, pessimistischer und manchmal auch gewaltbereiter.

Sie sind bis November in Deutschland. Knüpfen Sie hier an diese Forschung an?

Die Situation der Geflüchteten in Deutschland ist eine grundlegend andere als im Libanon. Ich möchte während meiner Zeit am WZB erforschen, was für einen Einfluss ein Umfeld, das Frauenrechte in meinen Augen stark fördert, auf das Selbstverständnis der Frauen und die Rollenverteilung in der Familie und der Gesellschaft hat. Ist die neue Situation eine Chance oder Bedrohung für sie? Fühlen sie sich weiterhin durch traditionelle soziale Normen eingeschränkt? Dafür möchte ich syrische Frauen interviewen, die sich schon mindestens ein bis zwei Jahre in Deutschland aufhalten.

Was erhoffen Sie sich von Ihrer Forschung?

Ich möchte, von einer Genderperspektive ausgehend, die Rolle von Frauen in Syrien vor 2011 mit ihren jetzigen Rollen in Deutschland vergleichen. Ich versuche, so viele Erzählungen wie möglich zu Arbeit, Bildung und Privatleben von geflüchteten syrischen Frauen in Deutschland zu sammeln. Im besten Fall können meine Erkenntnisse genutzt werden, um Integrationsprogramme besser auf die Wünsche und Fähigkeiten syrischer geflüchteter Frauen auszurichten. Zum einen will ich zeigen, auf welche Barrieren diese Frauen hier stoßen. Ihre psychologische Verfassung, Sprachkenntnisse, aber auch soziale Normen und Religion können die Frauen stärker eingeschränken, als wir vielleicht annehmen. Ich möchte aber auch von den Ideen und Plänen erzählen, die diese Frauen entwickeln, um sich für ihre Unabhängigkeit und ihre Rechte stark zu machen.

* Das Interview wurde in englischer Sprache von Antonia Zimmermann geführt, Praktikantin in der Pressestelle des WZB. Sie studiert Internationale Beziehungen und Philosophie an der University of St. Andrews, Schottland.

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  • Petrus Han: Frauen und Migration. Strukturelle Bedingungen, Fakten und soziale Folgen der Frauenmigration. UTB (Stuttgart) 2003. 326 Seiten. ISBN 978-3-8252-2390-8. 18,90 EUR, CH: 33,40 sFr. Rezension unter https://www.socialnet.de/rezensionen/965.php

Quelle: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), mit freundlicher Genehmigung