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"Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft"?

von Prof. Manfred Baberg
06.07.2011 | Behindertenhilfe | Schwerpunkte Kommentare (0)

Kritische Einschätzung zum Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

Gliederung

  1. Einleitung
  2. Aufbau
  3. Kritik von Behindertenverbänden
  4. Ausgewählte Handlungsfelder und Maßnahmen
  5. Fazit
  6. Literatur

1 Einleitung

Das „Übereinkommen der Vereinten Nationen über  die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention)  wurde am 13.12.2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen. Deutschland hat diese Konvention am 30.03.2007 unterzeichnet und am 24.02.2009 ratifiziert. Seither sind die Konvention und ein Zusatzprotokoll,  das einen UN-Ausschuss ermächtigt, Verletzungen des Übereinkommens  durch die Vertragsstaaten zu prüfen und ggf. Abhilfe zu schaffen, verbindlicher Handlungsrahmen für Bund, Länder und Kommunen.

Um den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention zur Verbesserung von Rechten und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gerecht zu werden, hat die Bundesregierung einen „Nationalen Aktionsplan“ erarbeitet, der Ziele und Maßnahmen für die nächsten zehn Jahre zu einer Gesamtstrategie zusammenfassen soll. Er muss ergänzt werden durch Initiativen und Aktionspläne der Länder, Kommunen, Unternehmen, Verbände, Institutionen und Einrichtungen (S. 8).
[Seitenzahlen ohne weitere Angaben (Verfasser, Jahreszahl) beziehen sich immer auf den Aktionsplan.]

2 Aufbau des Aktionsplanes

Nach einleitenden Anmerkungen zur bisherigen Behindertenpolitik und einem Überblick über die Entwicklung des Anteils von Menschen mit Behinderung an der Gesamtbevölkerung wird im 2. Kapitel der „Neue Behindertenbericht“ vorgestellt, der  eine aussagekräftige Datenbasis für die Planung von Maßnahmen zur Förderung von Menschen mit Behinderungen liefern soll.  Dieser Bericht wird sich künftig auf ein System von Indikatoren stützen, mit deren Hilfe die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen abgebildet werden soll. Der erste Bericht dieser Art soll 2012 erscheinen. Eine wichtige Neuerung wird sein, dass das vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erhobene Sozio-oekonomische Panel (SOEP) auch die Lage von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt und hierzu eine Datenauswertung für die Bereiche „Einkommensverläufe“, „subjektives Wohlbefinden“, „gesellschaftliche Teilhabe“, „soziale Sicherung“ sowie „Wohn- und Bildungssituation“ vornimmt.

Im 58 Seiten umfassenden 3. Kapitel werden die zwölf Handlungsfelder des Planes ausführlich beschrieben:

  • Arbeit und Beschäftigung
  • Bildung
  • Prävention, Rehabilitation, Gesundheit und Pflege
  • Kinder, Jugendliche, Familie und Partnerschaft
  • Frauen
  • Ältere Menschen
  • Bauen und Wohnen
  • Mobilität
  • Kultur und Freizeit
  • Gesellschaftliche und politische Teilhabe
  • Persönlichkeitsrechte
  • Internationale Zusammenarbeit.

Kapitel 4: „Information und Repräsentation“ hat das Ziel, die Bewusstseinsbildung In der Bevölkerung zu fördern, um durch Aufklärung und Abbau von Vorurteilen die Achtung der Rechte und der Würde von Menschen mit Behinderungen zu fördern. Es enthält die Unterpunkte

  • Presse- und Medienarbeit
  • Bildungsarbeit
  • Kulturarbeit
  • Kulturforschung.

In Kapitel 5: „Gelebte Partizipation“ wird die Entstehung und Umsetzung des Planes beschrieben. Gemäß der Zielsetzung der UN-Konvention, die Politik nicht für, sondern mit Menschen mit Behinderungen umsetzen möchte, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im Vorfeld zwei Kongresse mit den Themen „Teilhabe braucht Visionen“ und „Teilhabe braucht Maßnahmen“ durchgeführt, deren Ergebnisse in die Ziele und Maßnahmen des Aktionsplanes eingeflossen sind.

Federführend für die Umsetzung des Aktionsplanes sind das BMAS als staatliche Anlaufstelle („Focal Point“) und der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung für die Zusammenarbeit von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Besondere Bedeutung kommt der Monitoring-Stelle gemäß § 33 Abs. 2 der UN-Behindertenrechtskonvention zu, mit deren Wahrnehmung das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) beauftragt wurde. Diese Stelle hat die Aufgabe, auf der Basis anwendungsorientierter Forschung Öffentlichkeitsarbeit zu leisten und Empfehlungen an die Politik zu geben.

Der Nationale Aktionsplan soll evaluiert und fortgeschrieben werden, aber auch jederzeit für neue Projekte offen sein, wenn sich hierzu die Notwendigkeit ergibt.

In Kapitel 6 werden die geplanten Maßnahmen in den o.g. Handlungsfeldern dargestellt. Eine kommentierte Linkliste zu Institutionen und Organisationen, die für die Handlungsfelder von Bedeutung sind, der vollständige Text der UN-Behindertenrechtskonvention und ein Adressverzeichnis komplettieren den Plan.

3 Kritik von Behindertenverbänden

Den im Entwurf am 27.04.2011 veröffentlichten Aktionsplan haben Behindertenverbände z.T. heftig kritisiert. Sie waren zwar durch Teilnahme an den o.g. Kongressen an der Vorbereitung beteiligt, hatten jedoch keinen Einfluss auf die Planung der konkreten Einzelmaßnahmen.
Zentrale Kritikpunkte sind:

  • Fehlende menschenrechtliche Perspektive und fehlende Planungen zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen an Menschen mit Behinderungen
  • Mangelnde Übereinstimmung des Kapitels „Persönlichkeitsrechte“ mit der UN-Konvention
  • Inflationäre und z.T. unangemessene Verwendung des Begriffes „Inklusion“
  • Unzureichende Problembeschreibung in den einzelnen Handlungsfeldern (behinderte Eltern kennt die Bundesregierung überhaupt nicht)
  • Unverbindliche Absichtserklärungen ohne gesetzliche Absicherung Planungen.

Letzteres hat eine Analyse des Netzwerkes Artikel 3 empirisch belegt:

„Bei den insgesamt 196 beabsichtigten Maßnahmen der Bundesregierung soll es lediglich bei 5 Prozent um gesetzliche Änderungen gehen. 50 Prozent der Maßnahmen befassen sich mit eher unspezifischen Aktionen wie Prüfaufträgen, Zwischenberichten, Konzepterstellungen, Konferenzen, Sensibilisierungsmaßnahmen etc., deren Erreichung bzw. Umsetzung schwer zu kontrollieren ist“ (BIZEPS-INFO, 20. 5. 20011).

Die Berechtigung dieser Kritik soll im nächsten Absatz an ausgewählten Beispielen geprüft werden.

4 Ausgewählte Handlungsfelder und Maßnahmen

Es ist an dieser Stelle nicht möglich, sämtliche zwölf Handlungsfelder und die ihnen zugeordneten ca. 200 Einzelmaßnahmen darzustellen und zu bewerten. Stattdessen soll an Hand einiger ausgewählter Beispiele geprüft werden, inwieweit sie geeignet sind, die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen.

Bundesarbeitsministerin von der Leyen hat bei der öffentlichen Vorstellung des Aktionsplanes am 15.05.2011 den auch der UN-Konvention zugrundeliegenden Gedanken der Inklusion als Leitgedanken des Nationalen Aktionsplanes bezeichnet:

„Umdenken sei nötig: künftig sollten sich nicht die Menschen mit Behinderung an die Gesellschaft anpassen müssen, sondern es sollten ‚automatisch alle mittendrin sein in der Gesellschaft‘ “ (LN, 16. 6. 2011, S. 2).

Sie muss sich deswegen gefallen lassen, dass der Plan an dieser Vorgabe gemessen wird.

Die Monitoring-Stelle des DIMR hat Inklusion wie folgt definiert:

Inklusion ist ein qualitativer Begriff, der hohe Anforderungen in Bezug auf Strukturen, Prozesse und Ergebnisse formuliert und diesen Anforderungen nunmehr im Lichte der BRK eine menschenrechtliche Dimension verschafft. Es geht demnach nicht nur darum, auch für behinderte Menschen Raum zu schaffen (Integration), sondern staatliche und gesellschaftliche Strukturen und Prozesse so zu gestalten und zu verändern, dass sie der realen Vielfalt menschlicher Lebenslagen – gerade auch von Menschen mit Behinderungen – von vorneherein gerecht werden. Inklusion in Verbindung mit den einzelnen Rechten der Konvention ist darauf ausgerichtet, gesellschaftliche Strukturen grundsätzlich so zu verändern, dass die gesellschaftliche Partizipation für Menschen mit Behinderungen systemisch  und präventiv bedacht und die volle und gleichberechtigte Wahrnehmung ihrer fundamentalen Rechte gesichert ist – ohne gesellschaftliche strukturelle Behinderungen, ohne Segregation, ohne Diskriminierung, ohne Ausgrenzungen. Der Lackmus-Test eines inklusiven Systems besteht darin, auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf mit einzubeziehen (Monitoring-Stelle, 2011, Fußnote S. 4 f.).

Die hier geforderte systemische Sichtweise lässt sich gut am Beispiel „Schulreife“ konkretisieren. Während in traditioneller Sichtweise hierfür eine individuelle Anpassungsleistung des Kindes an die Anforderungen der Schule verstanden wird, fragt man aus systemischer Sicht nicht: „Ist dieses Kind reif für die Schule?“, sondern: „Ist diese Schule reif für dieses Kind?“

Im Folgenden  soll an einigen ausgewählten Beispielen geprüft werden, ob der Aktionsplan der systemischen Sichtweise von Inklusion gerecht wird.

4.1 Arbeit und Beschäftigung

Von den ca. drei Millionen Menschen mit Behinderungen im erwerbsfähigen Alter ist ein deutlich höherer Prozentsatz als bei nichtbehinderten arbeitslos. Nur 23% der schwerbehinderten Frauen und 30% der schwerbehinderten Männer nehmen am Erwerbsleben teil, während der Anteil von nichtbehinderten Frauen bei 53%, derjenige von nichtbehinderten Männern bei 71% liegt. Daraus resultiert ein klarer Handlungsbedarf, den die Bundesregierung auch anerkennt. Sie möchte deswegen mit der „Initiative Inklusion“ für mehr Menschen mit Behinderungen Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen. Hierfür sollen 100 Millionen aus dem Ausgleichsfonds zur Verfügung gestellt werden. Konkret sollen Maßnahmen zur besseren Berufsorientierung, zur Förderung von Ausbildung und Beschäftigung älterer Menschen mit Schwerbehinderungen und zur Inklusionskompetenz von Kammern zur Verfügung gestellt werden.

Schon die Tatsache, dass dieser Fonds z.T. aus Mitteln der Ausgleichsabgabe finanziert wird, mit deren Hilfe sich Unternehmen von der Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter Mitarbeiter freikaufen können, lässt Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Vorhabens aufkommen. Notwendig wären stattdessen eine Erweiterung der Beschäftigungspflicht, Abschaffung oder mindestens erhebliche Einschränkung der Befreiungsmöglichleiten von der Beschäftigungspflicht und die Verpflichtung der Unternehmen, im Sinne des in angelsächsischen Ländern verbreiteten customized employment solche Arbeitsplätze zu schaffen, die an die Fähigkeiten der schwerbehinderten Menschen angepasst sind – verbunden mit einem verbindlichen Zeitplan, innerhalb dessen diese Maßnahmen umgesetzt werden sollen.

Zweifel am Inklusionswillen weckt auch die Formulierung, mit welcher begründet wird, warum Werkstätten für Menschen mit Behinderungen weiter bestehen sollen: „Personen, die aufgrund der Art und Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können, werden auch in Zukunft weiter Anspruch auf Aufnahme in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen haben“ (S. 24).

Den  Lackmus-Test der Monitoring-Stelle des DIMR besteht diese Formulierung nicht, weil sie die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von deren individuellen Fähigkeiten abhängig macht. Notwendig wäre dagegen, die Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf zu beschäftigen.

Die geplante „Neuausrichtung des Werkstättenrechts“ mit der Zielsetzung, eine höhere Integrationsquote in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erreichen, ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, ohne die qualitative und quantitative Ausweitung der Beschäftigungspflicht für die Unternehmen aber unzureichend.

4.2 Bildung und Kinder

Im Aktionsplan werden die Handlungsfelder „Bildung“ sowie „Kinder, Jugendliche, Familie und Partnerschaft“ in getrennten Kapiteln behandelt. Hier werden sie z.T. zusammengefasst, weil der Schwerpunkt auf die Bildung der 0-6jährigen Kinder gelegt werden soll. Dies geschieht nicht, weil schulische oder hochschulische Bildung weniger wichtig wären – im Gegenteil. Sie fallen wegen der Kulturhoheit der Länder jedoch nicht in die Zuständigkeit der Bundesregierung. Maßnahmen zur Förderung von Inklusion in Schule und Hochschule gehören deswegen in vergleichbare Aktionspläne der Bundesländer, die von der Bundesregierung auch ausdrücklich angemahnt werden, weil das Defizit integrativer/inklusiver Förderung in der Schule besonders hoch ist: Im Schuljahr 2009/2010 wurden knapp 80% der Schülerinnen und Schüler mit sonderpaedagogischem Förderbedarf in Deutschland in Förderschulen unterrichtet. Die Förderschulquote ist zwischen 1998 und 2009/2010 sogar von 4,4% auf 5% angestiegen (S. 28). Die bisherigen Bemühungen der Länder und der Kultusministerkonferenz (KMK), diese Fehlentwicklung zu korrigieren, sind völlig unzureichend, wie die Monitoring-Stelle des DIMR zu Recht kritisiert:

Es trifft auf alle Länder zu, dass weiterhin enorme strukturelle Anstrengungen auf allen Handlungsebenen erforderlich sind, um die UN-Behindertenrechtskonvention mittel- und langfristig erfolgreich umzusetzen und überdies kurzfristig das individuelle Recht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu einem sinnvollen wohnortnahen Bildungsangebot an einer Regelschule praktisch einzulösen (S. 6).

Zu den Empfehlungen der KMK stellt die Monitoring-Stelle fest:

Die Papiere spiegeln die verbindliche Richtungsentscheidung der Konvention für ein inklusives Bildungssystem nicht wider. Sie fußen auf der Prämisse, es sei konventionskonform, dass die schulische Segregation auch in Zukunft aufrechterhalten werden könne. Damit eröffnet die KMK einzelnen Ländern vermeintlich den Raum, existierende Sonderschulen unhinterfragt weiterzuführen oder ihr bestehendes Sonderschulwesen sogar weiter auszubauen. An dem Ansatz der separierenden Förder- oder Sonderschule weiter festzuhalten, ist mit der Konvention nicht vereinbar – dies umso weniger, da inzwischen zwei Jahre seit Inkrafttreten der Konvention vergangen sind (S. 8).

Für die Bildung der 0-6jährigen Kinder ist primär der Bund rechtlich zuständig. Den Ländern obliegt es, auf der Basis der Vorgaben des Bundes Ausführungsgesetze zu erlassen und diese gemeinsam mit den Kommunen durchzuführen. Deswegen ist es verwunderlich, dass die Ausführungen des Aktionsplanes zu diesem Bereich äußerst dürftig sind. Es wird lediglich sehr allgemein ein „nachhaltiger Ausbau“ der inklusiven Kinderbetreuung und die Unterstützung der Länder und Kommunen bei einer qualitativen Verbesserung von Bildung, Betreuung und Erziehung in den nächsten Jahren angekündigt. Auch ohne die ebenfalls angekündigte Verbesserung der Datenbasis ist durch die Erhebungen des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und des SOEP bekannt, dass zum Stichtag 15. 3. 2006 ein erfreulich hoher Anteil von Kindern mit Behinderungen von 76,8% einen integrativen/inklusiven Kindergarten besucht hat, es aber erhebliche regionale Unterschiede gibt. So liegt in Thüringen die Integrationsquote bei 100%, weil in diesem Bundesland nach der Wiedervereinigung konsequent auf den Aufbau von Sondereinrichtungen verzichtet wurde. In Niedersachsen am anderen Ende der Skala besuchen dagegen nur 42,1% einen integrativen Kindergarten (Riedel, 2007, S. 147).

Noch problematischer ist, dass insbesondere in westlichen Bundesländern der Anteil von Kindern mit Behinderungen, die eine Tageseinrichtung besuchen, nicht ihrem prozentualen Anteil entspricht. Während in Thüringen der Anteil der Kinder mit Behinderungen bei 4,5% liegt (dies entspricht ihrem geschätzten Anteil an der Gesamtpopulation), sind es bundesweit nur 2,1% (Riedel, 2007, S. 153). Die Bundesregierung nimmt dies weder zur Kenntnis noch ergreift sie im Maßnahmenkapitel Initiativen, eine Gleichbehandlung von Kindern mit Behinderungen in den Bundesländern zu gewährleisten.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Verbesserung inklusiver Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen ist eine qualifizierte Aus- bzw. Fortbildung. Hierfür ist  der Bund zwar nur indirekt zuständig, weil er wesentlich zur Bezahlung der Absolventen beiträgt. Er könnte jedoch zur Verankerung inklusiver Module in den Ausbildungs- und Studiengängen für pädagogische Fachkräfte wenigstens Initiativen ergreifen, um die bisherige Spaltung in „Allgemeine Pädagogik“ und „Sonderpädagogik“ zu überwinden. Dies ist insbesondere für die mittlerweile zahlreichen neuen Studiengänge an Fachhochschulen und Universitäten notwendig, deren Ziel die Anhebung der pädagogischen Qualifikation von Fachkräften auf Hochschulniveau ist. Nur wenige dieser Studiengänge haben explizit einen inklusiven Schwerpunkt. Hier wäre ein Engagement der Bundesregierung mindestens genauso sinvoll wie für das im Maßnahmenkatalog vorgesehene Fortbildungsmodul „Inklusive Bildung, Erziehung und Betreuung in der Tagespflege“.

Uneingeschränkt positiv ist die geplante Zusammenführung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und von Fördermaßnahmen nach dem Recht der Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII zu werten. Die Beendigung der schon seit Jahrzehnten kritisierten Aufspaltung von Zuständigkeiten verhindert nicht nur Abgrenzungs- und Kompetenzstreitigkeiten. Sie trägt im Sinne des Inklusionsgedankens auch zur Bewusstseinsbildung bei, indem endlich auf Gesetzesebene die Aufspaltung in „Sonder“- und „Regelkinder“ aufgehoben wird.

4.3 Prävention, Rehabilitation, Gesundheit und Pflege

Die UN-Behindertenrechtskonvention verbietet in § 25 ausdrücklich die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen im Gesundheitsbereich:

„Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation, haben. Insbesondere

a) stellen die Vertragsparteien Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung wie anderen Menschen …

e) verbieten die Vertragsstaaten die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in der Krankenversicherung und in der Lebensversicherung, soweit eine solche Versicherung nach innerstaatlichem Recht zulässig ist; solche Versicherungen sind zu fairen und angemessenen Bedingungen anzubieten;“

Die gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland erfüllen diese Voraussetzungen, die privaten nicht. Die Bundesregierung behauptet dagegen, durch das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (§ 19 und 20) sei dieses Problem bereits gelöst:

„Mit Blick auf den Zugang zu einer privaten Krankenversicherung bestimmt § 19 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), dass eine Benachteiligung aus Gründen einer Behinderung beim Abschluss einer privaten Versicherung unzulässig ist. Eine unterschiedli-che Behandlung wegen einer Behinderung ist nur dann zulässig, wenn diese auf anerkann-ten Prinzipien risikoadäquater Kalkulation beruht. Seit dem 1. Januar 2009 haben behinderte Menschen im Übrigen grundsätzlich die Möglichkeit, sich in der privaten Krankenversiche-rung im so genannten Basistarif zu versichern“ (S. 33).

Die Formulierung in § 20 Abs. 2 des AGG lautet wörtlich:

„Eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität ist im Falle des § 19 Abs. 1 Nr. 2 nur zulässig, wenn diese auf anerkannten Prinzipien risikoadäquater Kalkulation beruht, insbesondere auf einer versicherungsmathematisch ermittelten Risikobewertung unter Heranziehung statistischer Erhebungen.“

Ob diese Argumentation juristisch stichhaltig ist, kann hier nicht beurteilt werden. Politisch ist sie in jedem Falle unsinnig, denn es verkehrt den Sinn der Konvention ins Gegenteil, wenn Menschen mit Behinderungen die Mehrkosten für eine größere gesundheitliche Beeinträchtigung aufgebürdet werden. Mit der gleichen Logik könnte man auch von ihnen verlangen, die Kosten für Rehabilitation, Assistenz oder andere Fördermaßnahmen selbst zu tragen, wenn sie nur richtig berechnet wurden.

Der Zugang zur grundständigen privaten Versicherung darf nicht durch höhere Prämien erschwert werden. Dies gilt auch für private Zusatzversicherungen z.B. für Krankenhausbehandlung.

4.4 Bauen und Wohnen

In diesem Handlungsfeld werden zahlreiche Einzelprojekte vorgeschlagen, die ein barrierefreies Bauen und Wohnen ermöglichen und fördern sollen: von der Weiterbildung von Architekten und Handwerkern zum Thema „Barrierefreiheit“ bis zu „Baumodellen der Alten- und Behindertenhilfe sowie zum „Technikunterstützten Wohnen“.

Obwohl dieses Kapitel auch einen Absatz „Inklusiver Sozialraum“ enthält, wird ein Thema jedoch völlig ausgeklammert: die mit der Gentrifizierung der Städte verbundene Vertreibung von sozial Schwächeren (auch Menschen mit Behinderungen) in ghettoähnliche Stadtteile für arme Bevölkerungsschichten. Hier bedarf es dringend einer Änderung der Stadtentwicklungspolitik, wenn weitere gesellschaftliche Spaltungen verhindert werden sollen. Es bleibt zu hoffen, dass die von der Bundesregierung angekündigte des SOEP nach Einkommenshöhe und -entwicklung auch für Menschen mit Behinderungen hier zu einem Umsteuern beiträgt.

4.5 Information und Repräsentation

In einem gesonderten Kapitel außerhalb der zwölf Handlungsfelder wird das Thema „Bewusstseinsbildung“ abgehandelt. Es fußt auf Artikel 8 der UN-Behindertenrechtskonvention, der die Vertragsstaaten verpflichtet, „ ‚sofortige, wirksame und geeignete Maßnahmen‘ zu ergreifen, um in der Bevölkerung ‚das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen‘, ‚Klischees und Vorurteile‘ zu bekämpfen‘ und das Wissen um ‚die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderungen‘ zu fördern“ (S 73).

Einen wesentlichen Beitrag können hierzu die Disability Studies nach anglo-amerikanischem Vorbild leisten, die Behinderung als historisches, soziales und kulturelles Phänomen sehen und damit einen wichtigen Beitrag zur Korrektur einer medizinischen und defizitorientierten Sichtweise leisten können. Es ist deswegen zu begrüßen, dass die Bundesregierung eine internationale Tagung zu diesem Thema in Berlin unterstützen möchte.

Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit darf sich in diesem Bereich jedoch nicht darauf beschränken, den öffentlichen Eindruck zu korrigieren, dass Betroffene überwiegend in sozialen und karitativen Kontexten als Problemfälle auftreten. Neben der Würdigung ihrer positiven Eigenschaften und Fähigkeiten ist es auch notwendig, die Ursachen von Abwertung und Vorurteilen zu analysieren, an denen der Mainstream der Politik in Deutschland einen wesentlichen Anteil hat.

Wenn die durch den Neoliberalismus induzierten neuen Ideale unserer Gesellschaft „Effizienz, Exzellenz, Leistung, Markt, Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Wachstum“ (Binswanger, 2010, 15) heißen, darf man sich nicht wundern, dass Menschen mit Behinderungen jedenfalls dann abgewertet werden, wenn sie diesen Idealen nicht entsprechen. Die Unterscheidung zwischen „Leistungsträgern“ und „Leistungsempfängern“ (denen dann auch noch „spätrömische Dekadenz“ attestiert wird), trägt ebenso dazu bei, sozialdarwinistische Tendenzen zu fördern wie Thilo Sarrazins millionenfach verkaufte Angst vor der überproportionalen Vermehrung intellektuell minderwertiger Menschen. Die Nähe zur rassistischen NS-Ideologie, die zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und letztlich  zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ geführt hat, ist offensichtlich.

Eine wirkungsvolle „Bewusstseinsbildung“ im Sinne der UN-Konvention ist nur möglich, wenn die herrschende neoliberale Ideologie in Frage gestellt wird und ihre aus human- und sozialwissenschaftlicher Sicht einseitige und falsche Verkürzung des Menschen auf den „homo oeconomicus“ korrigiert wird.

5 Fazit

Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung enthält eine Fülle von Einzelmaßnahmen, die als erste Schritte in Richtung Inklusion von Menschen mit Behinderungen gewertet werden können. Seine Grenzen findet er jedoch dort, wo größere strukturelle Veränderungen im Interesse der Betroffenen herbeigeführt werden müssten. Öffentliche und private Unternehmen werden von der Bundesregierung ebenso wenig zur Anpassung von Arbeitsplätzen an die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen verpflichtet wie die Länder sich zur Inklusion von Kindern mit Behinderungen in das Regelschulsystem bereitfinden. Hierzu fehlen offenbar Mut und Wille.

Notwendige strukturelle Veränderungen wie die Überführung privater Krankenversicherungen in eine solidarische Bürgerversicherung ohne Diskriminierung nach gesundheitlichem Risiko werden ebenso wenig angegangen wie Eingriffe in die Stadtentwicklung zur Verhinderung einer Ghettoisierung von exkludierten Gruppen der Bevölkerung. Solche grundlegenden Änderungen sind auch nicht zu erwarten, wenn segregierende und diskriminierende Ideologien „in der Mitte der Gesellschaft“ angekommen sind.

6 Literatur

Binswanger, M. (2010): Sinnlose Wettbewerbe. Warum wir immer mehr Unsinn produzieren. Freiburg, Herder

BIZEPS-INFO (2011): Deutschland: Einhellige Kritik am Aktionsplan der Bundesregierung. 20. 11. 2011 

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2011): Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über Rechte von Menschen mit Behinderungen. Referentenentwurf nach Ressortabstimmung Stand: 27. 4. 2011 

Deutsches Institut für Menschenrechte (2011): Stellungnahme der Monitoring-Stelle: Eckpunkte zur Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems (Primarstufe und Sekundarstufen I und II). Empfehlungen an die Länder, die Kultusministerkonferenz (KMK) und den Bund. 31. 3. 2011

Lüdenscheider Nachrichten (LN, 2011): Konkrete Hilfen für Behinderte. Aktionsplan der Regierung soll Alltag von 7,1 Millionen Menschen verbessern. 16. 6. 2011, S.2

Riedel, B.: Kinder mit Behinderungen. In: DJI: Zahlenspiegel 2007, 141 – 157. München 2007.

Autor
Prof. Manfred Baberg
Hochschullehrer i.R., Hochschule Emden - Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Arbeitschwerpunkte: Integrationspädagogik, Behindertenarbeit und Sozialpolitik mit den Schwerpunkten soziale Inklusion und Gesundheit

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