Vielfalt nicht Einfalt -Reden hinter der Hand

von Dr. Jos Schnurer
25.08.2015

Warum wir im Bildungs- und Erziehungsprozess bewusst machen sollten, dass „Lästern“ kein harmloses Geplänkel ist, sondern Böses bewirken kann

Collage, zusammengestellt von Dr. Jos Schnurer
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In der Lithografie „Das Gerücht“ [1] wird die „heimliche Rede“ eindrucksvoll und entlarvend dargestellt. Wenn Menschen über andere Menschen hinter vorgehaltener Hand und in ihrer Abwesenheit reden, mit dem Ziel, bestimmte (negative) Eigenschaften, Gewohnheiten und Handlungsweisen hervorzuheben, steckt meist die „Lust, über andere herzuziehen“ dahinter. In der Sprachwissenschaft wird „Lästern“ in mehrere Synomymgruppen gegliedert: In der Bedeutung „abfällig reden“, „schlecht machen“, „verdammen“, „herabwürdigen“, „aufstacheln“, „beleidigen“, „verleumden“, „schmähen“, „herabsetzen“ und „ausplaudern“. Die Psychologie unterscheidet bei den „Gerüchten“ zwischen solchen, die auf Mentalitäten und gesellschaftlichen Gewohnheiten und von daher nicht immer nur böse oder schädigend sind, sondern vielmehr auch verbindenden Charakter für die Gerüchtemacher  und –verbreiter haben können, und solchen, die von vornherein darauf angelegt sind, anderen Menschen zu schaden und dadurch, dass sie nur immer wieder laut und überzeugend genug geäußert werden, sich zu einem Shitstorm auswachsen und Karrieren vernichten, Freundschaften zerrütten und Vorhaben zerstören können [2].

Menschliches Verhalten ist ein weites Feld

Was ist der Mensch? Ist er ein zôon politikon, ein politisches Lebewesen, das, wie Aristoteles ausgedrückt hat, in der Lage und fähig ist, seinen Verstand zu gebrauchen und ein „gutes (humanes) Leben“ zu führen [3]. Oder ist der Mensch eine „neuronale Maschine“, die abhängig ist davon, wie die Neuronen des Gehirns das Verhalten steuern? In der empirischen Einstellungs-, Werte- und Persönlichkeitsforschung steht die Frage auf der Agenda, wie individuelles Verhalten erklärt werden kann. Insbesondere in der Persönlichkeitspsychologie ist bedeutsam, mit welchem Ansatz (Menschenbild) menschliches Verhalten analysiert wird. Es geht letztlich um die Frage, wie Verhalten ist und gemacht ist, welche inneren Einstellungen und äußeren Einflüsse auf menschliches Verhalten wirken. Der Politikwissenschaftler am Institut für Politikwissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, Siegfried Schumann, legt ein (Lehr-)Buch vor, in dem er, aus der Sicht der Sozialwissenschaften, die wichtigsten Theoriebildungen und Methoden der Persönlichkeits-, Werte- und Einstellungsforschung in Grundzügen beschreibt und an Forschungsbeispielen und -ergebnissen die theoretischen und praktischen Unterschiede verdeutlicht. Er stellt verschiedene Ansätze, Modelle und Methoden vor, wie eine sozialwissenschaftliche Erforschung von Einstellungen, Werten und Persönlichkeiten möglich ist. Weil eine der wichtigsten Ziele der Persönlichkeitspsychologie die Erklärung menschlichen Verhaltens ist, orientieren sich die diskutierten Paradigmen auch an diesem Forschungsfeld, immer gespiegelt in den Implikationen für die Erklärung politischen Verhaltens, das „nicht vollständig determiniert und damit prinzipiell nicht vollständig vorhersagbar ist“ [4].

Paradoxien

„Ein Tisch ist ein Tisch…“ – in der Kurzgeschichte von Peter Bichsel schreit die Verzweiflung darüber, wie Benennungen und Bezeichnungen sich dann als absurd gestalten, wenn der Mensch nach der Logik fragt, die entweder Logik oder keine ist. Oder wenn Ernst Jandl in seinem Gedicht „lichtung“ meint, lechts und rinks könne man nicht velwechsern, werch ein illtum. Das Spiel mit Paradoxien ist ein bekanntes Abenteuer, Behauptungen ad absurdum zu führen. Im philosophischen Denken, etwa bei Aristoteles, unterliegt die Bezeichnung eines Gegenstandes oder einer Überlegung entweder einer Wahr-Falsch-Dichotomie oder einer Wesensdefinition, die sich als weder wahr noch als falsch darstellt und von daher einer zweiwertigen Logik unterliegt. Um Diskrepanzen und Widersprüche erklären zu können, muss auf „moderne Diskontinuität(en)“ hingewiesen werden. Es gilt, Begrifflichkeiten zu klären, wie sie im Diskurs um den „Momentanismus“ historisch und in der Moderne benutzt werden; etwa, was unter „Verzeitlichung“ beim angesagten Gesetz der Moderne verstanden wird. Der „Moment als Funktion“ und der „Moment als Substanz“ verdeutlichen sich in zahlreichen (literarischen und philosophischen) Fundstellen und machen deutlich, dass „der Wechsel von Funktion zur Substanz innerhalb der Verzeitlichungsmethaphorik nicht einfach epochenhistorisch erklärbar ist“ [5].  Selbständige Denkprozesse unterliegen also immer einer „Wahrheits“ - Diskrepanz [6], wie natürlich auch der intellektuellen Anstrengung [7] „Wer lebt, muss mit Paradoxien umgehen“, hinter dieser Tautologie steckt eine gehörige Portion Wahrheit und Explosivität. Während mit der aristotelischen „zweiwertigen Logik“ die Möglichkeit eröffnet wird, „Widersprüche als nicht zulässig auszuschließen“ und damit Erkenntnis zu gewinnen, zeigt der Blick in die „Wirklichkeiten des Lebens“, dass es notwendig ist, den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Paradoxien zu lenken, um davor gefeit zu sein, „sich irgendetwas Positives von solch falschen Gewissheiten zu versprechen“. Eine Grenzwanderung von „Unentscheidbarkeit der Wahrheit oder Falschheit von Aussagen“ unternimmt der Mediziner, Soziologe und Organisationsentwickler von der Universität Witten/Herdecke, Fritz B. Simon, mit seinem Buch über Paradoxiemanagement. Dabei nimmt er sich die Füllbereiche vor, wie sie sich im Familienleben, in der Wirtschaft und Politik darstellen. Weil unser individueller Alltag wie unser gesellschaftliches Dasein von hochkomplexen, „logischen“ Paradoxien bestimmt ist, sind wir gefordert, unser Denken und Handeln über einfache „Entweder-Oder-Prinzipien“ hinaus zu entwickeln. Ordnung und Unordnung sind die zwei Seiten derselben Medaille: „Um die Entstehung von Unordnung zu erklären, müssen wir die Entstehung von Ordnung studieren, und um herauszufinden, was eine bestimmte Ordnung herbeiführt, erhält, verändert oder auflöst“. „Wenn rechts links ist und links rechts“ – diese Aussage kann ja ein Verzweiflungsruf sein, wie auch ein Resignationsparameter, oder auch als strukturalistische Methode ein Ordnungs- und Organisationsprinzip, das Logik von Rationalität unterscheidet. Der Grenzgang, an sich psychologische und psychiatrische Konzepte auf sozialwissenschaftliches Denken und Forschen anzuwenden, lässt sich mit Hilfe der Systemtheorie ermöglichen, auch deshalb, weil „man sowohl Psyche als auch die Organisation als kognitives System betrachten kann“ [8].

„Der Andere könnte ich selber sein“,

so hat der zweifache Oskar-Preisträger und UNICEF-Botschafter Sir Peter Ustinov in seinen Lebenserinnerungen 2003 für Toleranz und Respekt gegenüber anderen Menschen plädiert. Vorurteile sind Denk- und Verhaltensweisen, die sich in Ablehnung, Antipathie, Diskriminierung, Stigmatisierung, Fremdenfeindlichkeit oder rassistischer Haltung gegenüber Individuen und Gemeinschaften zeigen. Diese von Gordon W. Allport formulierte Begriffsbestimmung ordnet Vorurteile und Stereotypenbildung als negative Einstellungen ein, die es zu erkennen und zu revidieren gilt; zuallererst in der Erziehung und Bildung der Menschen und als Anforderung für eine „vorurteilsbewusste Bildung“. Die 1999 gebildete Sir Peter Ustinov-Stiftung und die daraus entstandenen Forschungsinstitute und Kinder- und Jugendprojekte engagieren sich in vielfältiger Weise dafür, in der schulischen Bildung und in der wissenschaftlichen Forschung Rassismen, Fremdenfeindlichkeit, Ethisierungen und allen Formen von Diskriminierung den Kampf anzusagen und beizutragen, dass Vorurteile erkannt, ihre Entstehung analysiert und ihre Überwindung gefördert wird. Der Politikwissenschaftler der Central European University in Budapest und Direktor des Instituts für Konfliktforschung an der Universität Wien, Anton Pelinka, hat, zusammen mit Karin Bischof und Karin Stögner das „Handbook of Prejudies“ (New York 2009) herausgebracht. Pelinka legt nunmehr als Herausgeber die überarbeitete deutsche Ausgabe, unter Mitarbeit von Birgit Haller, vor. Dabei geht es nicht darum, das Vorurteil per se zu verdammen oder gar ausmerzen zu wollen; vielmehr kommt es darauf an sich bewusst zu machen, dass „Vorurteile ( ) das Produkt einer bestehenden Gesellschaft (sind)“. Sie werden also weder in die Gene noch in die Wiege gelegt. Damit wird gleichzeitig deutlich, dass es Aufgabe des Aufgabe des zôon politikon, des politischen Lebewesens Mensch (Aristoteles) ist, sich der negativen Ausprägungen von Vorurteilsbildungen bewusst zu sein. Die wissenschaftliche Vorurteilsforschung liefert Hinweise dafür, dass es nicht darauf ankommt, Vorurteile zu negieren oder aus der Welt schaffen zu wollen, sondern „Wege zu finden, mit Vorurteilen umzugehen, sie zu reduzieren und ihre explosiven, ihre mörderischen Potentiale zu kontrollieren“. Um dies wirksam werden zu lassen, bedarf es keiner Rezepte, sondern eines ganzheitlichen Blicks, der sich – interdisziplinär – in der Form eines Handbuchs weitet und objektive Maßstäbe zur Bewertung und zum Umgang mit Vorurteilen liefert [9].

Habitus - Krise und/oder Prozess?

Wenn Bildung als Transformationsprozess bei der Erkennung und Bewältigung von Selbst- und Weltverständnis (Marotzki) verstanden wird, differenziert sich auch die Benennung von Lern-, Wissens- und Bildungsverläufen. So wird die Suche nach vermittelnden Kategorien [10], wie auch zu Anschlüssen im Findungsprozess von Theorie und Praxis, sowie einer „Theorie der Praxis“ (Bourdieu) zu einer Debatte um die Ambivalenz von Bildungsprozessen. Wenn Bildung also die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen konstituiert, erfordert die Betrachtung des Lernbegriffs als Erlangung eines Wissenszuwachses eine differenzierte Zugangsweise. Dafür bietet sich eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen bildungstheoretischen Ansätzen - Existentiell-phänomenologische (Marotzki), diskurstheoretische (Koller und Lüders), habitustheoretische (Alheit und Herzberg) und pragmatisch-wissenschaftssoziologische (Nohl) - an. Florian von Rosenberg formuliert einen philosophisch fundierten (theoretischen)  Bildungsbegriff, um ihn empirisch anschlussfähig zu machen und damit „Bildungsphilosophie und empirische Bildungsforschung in ein fruchtbares Wechselverhältnis zu stellen“. Mit dem biographieorientierten Ansatz, auf der Grundlage von biographischen Erzählungen, filtert er Phasen der Habitusdifferenzierung heraus, mit denen er die vorgefundenen Defizite der Selbst- und Weltwahrnehmung in Bezug auf die Rekonstruktion der sozialen Welt füllt [11].

Anders zu sein ist ein Menschenrecht

Der Historiker, em. Professor der TU Berlin, Antisemitismusforscher und Publizist, Wolfgang Benz, geht der Frage nach: „Welche Vorurteile und Feindbilder drücken unserer Zeit den Stempel auf?“. Im Sammelband „Ressentiment und Konflikt. Vorurteile und Feindbilder im Wandel“ setzen sich Experten aus den verschiedenen Fach- und Wissenschaftszweigen  mit dem lokalen und globalen Trend auseinander, dass Egoismen, Kapitalismen und Rassismen zur Ausgrenzung und Diskriminierung von gesellschaftlichen Gruppen und Völkern führen und demokratische Prozesse bedrohen [12]

Intoleranz und Fundamentalismus

Die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum setzt sich mit Fragen der religiösen Intoleranz, Fanatismus und Fundamentalismus auseinander. Es ist das „innere Auge“ und das „empathische Gefühl“, die eine „Habacht“ für ein friedliches, gerechtes und soziales Miteinander der Menschen auf der Erde signalisieren und Respekt einfordern. Angelehnt an die sokratische Aufforderung, dass Menschen, wollen sie friedlich und gerecht miteinander in der EINEN WELT leben, ein „selbsterforschtes Leben“ führen sollten. Wie dies aussehen könne, darüber reflektiert Martha Nussbaum über Sokrates hinaus – und hinein in unsere reale Welt. Sie kann human nur entwickelt werden, wenn es Allgemeingut und Selbstverständlichkeit wird, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren, mit Vernunft und Gewissen begabt und fähig sind, einander im Geiste der Brüderlichkeit zu begegnen, wie dies in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt und in Artikel 18 spezifiziert wird: „Jedermann hat das Recht auf Gedanken- Gewissens- und Religionsfreiheit“. Um das zu erreichen braucht es Zuversicht und die Abkehr von Angst: „Wir brauchen ( ) den Geist der Neugier und der Freundschaft“. Es gibt Stimmen, die die Bereitschaft und Fähigkeit des Islam infrage stellen, ja sogar die von allen monotheistischen Religionen, sich im Sinne eines inter- und transreligiösen Denkens zu verändern. Diese Auffassung teilt Martha Nussbaum nicht; vielmehr fordert sie dazu auf, ein hoffnungsbestimmtes Denken zu entwickeln und Tabus und Formen von  „Indiskutabel“ gegen eine offene Dialogbereitschaft zu ersetzen. Dabei ist es in diesem Sinne unerheblich, ob die Auseinandersetzung nihilistisch oder religiös geführt wird. Vielmehr könnte ein weiteres Bild den notwendigen Dialog befördern, nämlich das vom „aufrechten Gang“, den alle Menschen gehen lernen sollten, um miteinander in kultureller Vielfalt und globaler Empathie leben zu können [13]

Der aufrechte Gang: Sprungbrett des anthrôpos

Der anthrôpos, der Mensch, ist, so lernen wir bereits seit der griechischen Antike, ist eine „durch seine Zweibeinigkeit charakterisierte Gattung der Lebewesen“. Durch seine Vernunft- und Sprachbegabung habe er Anteil am unvergänglichen und göttlichen Geist. Durch seine aufrechte Körperhaltung stehe er auf der obersten Stufe der scala naturae und nehme dadurch eine Mittelstellung zwischen Gott und Tier ein. Er sei fähig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, Allgemeinurteile zu fällen und sittlich zu handeln. Die Frage „Was ist der Mensch?“ wird philosophisch, anthropologisch, ethisch, moralisch, biologisch, psychologisch… über die Jahrtausende menschlichen (Nach-)Denkens hinweg immer wieder kongruent und konfrontativ diskutiert und analysiert, und in der neueren Zeit in verstärktem Maße auch neurologisch erforscht. Die Frage, ob der Mensch des Menschen Freund sein könne oder Wolf sein müsse, bestimmt das abendländische Denken. Nicht zuletzt mit der Beantwortung dieser Kontroverse hängt zusammen, welche ethischen und moralischen Einstellungen sich als Lebens- und Verhaltensnormen in einer Gesellschaft entwickeln und gelebt werden sollen. Der an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster Praktische Philosophie lehrende Kurt Bayertz stellt fest, dass im Denken der Menschen zwar die Bedeutung des aufrechten Gangs in vielfachen Formen präsent ist; dass aber eine „Geschichte des aufrechten Gangs“ aus anthropologischer und philosophischer Sicht bisher nicht vorliegt. Dies will er mit seinem Buch ändern. Er will damit aufzeigen, welche verschiedenen Interpretationen die Tatsache des menschlichen aufrechten Gangs über die Jahrhunderte hinweg vorgenommen wurden, danach Ausschau halten, wie diese Deutungen in den jeweiligen historischen und kulturellen Zusammenhang gestellt wurden und dadurch die Hauptentwicklungslinien des anthropologischen Denkens aufzeigen.Die Geschichte vom aufrechten Gang (des Menschen) aus anthropologischer Sicht wird zur Geschichte des anthropologischen Denkens. Kurt Bayertz legt eine spannende, interdisziplinäre, alltagsfähige und intellektuell anspruchsvolle Betrachtung über die Tatsache vor, dass der Mensch mit seinem aufrechten Gang mehr ist als ein anderes Tier auf zwei Beinen. Dabei begibt er sich zum Glück nicht auf die gefährlichen, ideologischen und fundamentalistischen Gleise eines „allmächtigen“ Menschseins, sondern bleibt auf der Straße des „Natürlichen“. Damit zeigt er Perspektiven auf, die die Fähigkeit des aufrecht Gehens des Menschen nicht nur als physische, körperliche Fähigkeit notiert, sondern insbesondere als evolutions- und geistesgeschichtliche Entwicklung – und damit auch als Herausforderung – präsentiert! [14].

Gesellschaftliche Ausschließung oder Partizipation?

Der Begriff „soziale Ausschließung“ zielt auf Herrschafts- und Gesellschaftskritik und wird verstanden „als verweigerte( r ) Zugang zu gesellschaftlich erzeugten Ressourcen und einer zumindest erschwerten Teilnahme an Gesellschaft sowie die Betrachtung von sozialen Ausschließungen als ‚graduelle Prozesse‘“. Dieses soziale, pädagogische und solidarische (soziale) Arbeitsfeld befasst sich mit Formen und Anlässen, die Ausschließungen, Diskriminierungen und Benachteiligungen bewirken. Weil es kein Richtiges im Falschen gibt (Adorno), und „Wenn das System falsch programmiert ist, stößt der gute Wille des Einzelnen an Grenzen“ [15], kommt es darauf an, die von Menschen gemachten Wirklichkeiten kritisch zu befragen; durch Herrschaftskritik und Auseinandersetzungen darüber, wie es gelingen kann, Macht von Menschen über Menschen demokratisch zu legitimieren, aber auch Machtmissbrauch zu verhindern. Die als Festschrift zu Ehren des 65. Geburtstags der Frankfurter Sozialwissenschaftlerin Helga Cremer-Schäfer thematisierten Analysen und Bestandsaufnahmen von lokalen und globalen gesellschaftlichen Befindlichkeiten, Missständen und Exklusionen spießt nicht nur individuelle und gesellschaftliche Fehlentwicklungen auf, sondern verweist auch auf Alternativen und Perspektiven für demokratische Gesellschaften [16]

Zivilcourage ist eine demokratische Grundtugend

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, so steht es zuoberst in der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, als globale Ethik und der Überzeugung, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“. Die Verwirklichung dieser allgemein ethischen Prämisse kann nicht allein durch eine tolerante Haltung – „Ich habe ja nichts dagegen, dass du anders bist als ich…“ – gelingen, sondern bedarf des aktiven Handelns, wenn das Recht auf Menschenwürde von anderen Menschen missachtet und einem anderen Menschen oder einer Menschengruppe abgesprochen wird, in Gedanken, Worten und Werken. Diese Haltung, für das Menschenrecht und die Menschenwürde eines anderen Menschen einzutreten, wird als Zivilcourage oder sozialer Mut bezeichnet [17].„Die Freiheit ist keine Torte, die genossen, sondern ein Muskel, der trainiert werden will“; diese Auffassung vertrat der 2011 verstorbene Bühnen- und Fernsehautor Ulrich Beer. Zivilcourage ist bedachter Mut! So wie es notwendig ist, Demokratie zu lernen, so bedarf es nicht nur der Bereitschaft zum sozialen und Friedensmut, sondern auch der Einübung in zivilcouragiertes Verhalten. Zwischenrufe wie die von Ulrich Beer können dazu beitragen, die Überzeugung zu leben, dass Zivilcourage aus Lebensmut und Lebenshoffnung besteht. Der kurze, prägnante Text, der die Vielfalten für die Haltung „Zivilcourage“ thematisiert, lässt sich gut für den Bildungs- und Erziehungsprozess in der Schule einsetzen und in der Politischen Bildung für Erwachsene verwenden! [18]

Eine gelingende, empathische und dialogische Kommunikation

Eine auf Verständigung ausgerichtete Kommunikation bedarf der Kompromissfähigkeit. Dabei ist der Begriff „Kompromiss“ in vielfacher Weise vorbelastet, und die Bedeutung wird bestimmt von ethischen und moralischen, wie von Nützlichkeits-, Zweckmäßigkeitsüberlegungen und egoistischen Prämissen. Nicht zuletzt ist der Kompromiss für den einen „sin Uhl, för den anern sin Nachtigal“, was bedeutet, im Individuellen wie im Kollektiven, dass die Betrachtung über den Wert und gar über den Mehrwert eines Kompromisses unterschiedlich ausfällt. Betrachten wir also die Alltags-, wie die semantisch-regulative Bedeutung des Begriffs, so merken wir bald, dass wir uns auf ein glitschiges, undurchsichtiges Gebiet von Interpretierbarem und Deutendem bewegen; für kommunikative Bedeutsamkeiten ein äußerst gefährliches und missverständliches Terrain. Was haben Kompromisse im individuellen, regionalen, nationalen und internationalen Zusammenleben der Menschen nicht alles aus- und angerichtet? Welche Verständigungen, Missverständnisse und Tragödien haben sich ereignet zum Nutzen und Schaden der Menschen? Wie zeigen sich die Folgen von Kompromissen in der jeweils aktuellen Situation? Wie in der Vergangenheit? Welche sind für die Zukunft zu erwarten? Dieses Bündel von Fragen wirkt wie ein unentwirrbares Knäuel; oder wie ein Teufels-, oder doch auch ein Engelsgeflecht. Der israelische Philosoph und Mitbegründer der Friedensbewegung Peace Now, Avishai Margalit, stellt eine für unsere Selbsteinschätzung erst einmal irritierende These auf: „Wir sollten eher nach unseren Kompromissen beurteilt werden als nach unseren Idealen und Werten“. Dabei geht es ihm nicht in erster Linie um die ethischen und moralischen Vorstellungen, die das Idealbild des Individuums als grundsätzlich gutes, nach Zusammenhalt und einem gerechten Leben strebenden Lebewesen bilden; vielmehr drückt er sein Erstaunen darüber aus, dass in der Moralphilosophie der Begriff „Kompromiss“ kaum in Erscheinung tritt; wenn doch, dann höchstens als negative Haltung oder als ein eher abzulehnender Pragmatismus und schnödem, egoistischem Nützlichkeitsdenken unterworfene Einstellung. Er unterscheidet zwischen guten, schlechten und faulen Kompromissen. Während der erstere wünschenswert und hilfreich für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben der Menschen ist, stellt der zweite möglicherweise eine in der jeweiligen Situation hinnehmbare Entscheidung dar, während der dritte als eine absolut unannehmbare und unakzeptable Haltung betrachtet werden muss. Kompromisse als Mittler zwischen dem unabdingbaren Nein und dem unbedingten Ja gilt es zu suchen, weil es notwendig ist, die Extreme zu erkennen und zu entlarven: Sektierertum auf der einen und Fundamentalismus auf der anderen Seite [19].

Wege zur Erkenntnis

Der am Institut d´Études Politiques de Paris (IEP) lehrende Soziologe und Philosoph Bruno Latour wird mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten hochgelobt. Die Zeitung Le Monde bezeichnet ihn sogar als „Hegel unserer Zeit“. Mit der von ihm in den 1980er Jahren entwickelten „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT) weist er darauf hin, dass die Prozesse, die die Welt bewegen, netzwerkartig agieren, was bedeutet, dass die sozialen Elemente aus verschiedenen Zusammenhängen bestehen, sich aber in ihren unterschiedlichen Phänomene und Wirkungsweisen gegenseitig ergänzen, miteinander korrelieren und Handlungspotentiale anbieten. Es geht darum, mit dem Geist und den Werkzeugen der Wissenschaft „Assoziationen nachzuzeichnen“; ja vielleicht sogar eine „Assoziologie“ daraus zu machen. Dabei stellt „sozial“ einen „Verknüpfungstyp zwischen Dingen (dar), die selbst nicht sozial sind“. Mit der ANT will Bruno Latour im wissenschaftlichen, intellektuellen und alltäglichen Diskurs eine neue Form einer digitalen Kommunikation kreieren, die den möglichen Wahrheiten in der Welt näher kommt, als dies mit den üblichen, traditionellen Mitteln und Gewohnheiten möglich ist. Es geht darum, den „Widerspruch zwischen den Erfahrungen der Welt und den Berichten, in denen darüber … Rechenschaft gegeben wird“ aufzulösen, zumindest aber habhafter zu werden. Der Originaltitel seines neuen Werkes, das er 2012 in der Pariser Éditions Découverte vorgelegt hat, lautet: „Enquête sur le mode d´existence. Une anthropologie des modernes“. Der Suhrkamp-Verlag bringt es mit dem deutschen Titel „Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen“ heraus. Bemerkenswert dabei ist, dass Latour nicht von der „Moderne“ spricht, sondern von den „Modernen“, womit er zum Ausdruck bringen will, dass die modernen Entwicklungen so vielfältig sind und betrachtet werden müssen, wie Menschen und Gesellschaften sind [20].

Das Unbewusste wird mit dem Bewussten erklärt

In psychologischen, psychoanalytischen und –therapeutischen Prozessen kommt dem Unbewussten eine große Bedeutung zu. “Es gibt keine mentalen Prozesse ohne Realitätsbezug und ohne Vergewisserung der Wirklichkeit, genauso wie es keine Realitätswahrnehmung ohne Bewusstsein gibt“, das ist eine Erkenntnis, die sich bei dem vielfältigen Suchen nach den Ursachen, Zuständen und Wirkungen von bewusstem und unbewusstem Handeln von Menschen in den verschiedenen Lebenssituationen herausbildet. Der in Hamburg lebende Psychoanalytiker Helmut Junker sieht als „schreibender Therapeut“ die Schriftlichkeit beim psychoanalytischen Theorie- und Praxisdiskurs als eine tragende Säule an. Mit seinen „Reflexionen veränderter therapeutischer Praxis“ unternimmt er eine Standortbestimmung über den (kontroversen) psychoanalytischen Diskurs. Er plädiert dafür, implizite Erfahrungen bei intersubjektiv bestimmten Therapien einzubeziehen und „Toleranz gegenüber dem schwer verfügbaren Grund, dem Nichtverstehbaren im eigenen und im fremden Selbst“ zu üben. Mit den Begriffsfeldern „explizit – implizit“ will er verdeutlichen, dass sich Bewusstsein entweder im bewussten Gedächtnis und Tun artikuliert, oder/und als nichtbewusstes Gedächtnis darstellt. Es ist die immerwährende, ratifizierte oder kontroverse Diskussion darüber, welche positiven oder negativen Wirkungen bei psychotherapeutischen Prozessen zwischen Therapeut und Patient ablaufen, mit welchen Theorien und Methoden zustande kommen oder verhindert werden. In der intersubjektiv orientierten Psychotherapie haben implizite Vorgänge eine besondere Bedeutung [21]..

Das Leben ist (k)ein Traum(a)

Die 1929 geborene New Yorker Psychoanalytikerin, Lehranalytikerin und Supervisorin, Vorstandsmitglied der New York Freudian Society, Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), Marion M. Oliner, ist Überlebende von Holocaust-Opfern. Sie, wie auch ihre Mutter und deren Vorfahren, wurden in Andernach am Rhein, ihr Vater in Merxheim bei Bad Kreuznach geboren. Nach einer wahren Odyssee gelang es, sie mit einem Kindertransport in die Schweiz und in die USA zu bringen; Ihre Eltern wurden 1942 in das Konzentrationslager in Auschwitz gebracht und dort ermordet. Das Trauma, als durch äußere, gewaltsame oder nicht kontrollierbare und nicht zu verhindernde seelische Verletzung, gehört in der Psychopathologie, -analyse und -therapie zu den wichtigen, komplexen Behandlungsanlässen. Dabei kommt es darauf an, analytische Unterscheidungen vorzunehmen zwischen „den Ereignissen der äußeren Realität und ihren Folgen“. Es sind Formen der sich verstärkenden unbewussten Omnipotenz, die Traumata hervorrufen und, besonders bei der Behandlung von Überlebenden, entweder zu erfolgreichen oder auch erfolglosen Behandlungen führen können. Es ist das Dilemma, das sich zwischen der Notwendigkeit auftut, dass traumatisierte Menschen Abwehrmechanismen benötigen, um überhaupt (über-)leben zu können und der konkreten Vergegenwärtigung des traumatisierenden Vergangenen. Weil die subjektive Erfahrung eines Traumas auf dem Erinnern beruht, werden Bewältigungsmodelle und -methoden mit den vielfältig auftretenden, realen, gewordenen und gemachten Erfahrungen konfrontiert. Es sind die nicht selten zwanghaften, unbewussten Bestrebungen von Angenommensein, Integration und Verweigerung und Trennung, die besonders bei Traumata von Überlebenden erkennbar werden. Für ihre professionelle Arbeit erhält die mittlerweile 86jährige Autorin auch in der deutschen Community Aufmerksamkeit und Anerkennung, etwa durch die Herausgabe ihres (Lebens-)Werks „ Psychische Realität im Kontext“, sowie bei zahlreichen Mitwirkungen bei wissenschaftlichen Vereinigungen und Kongressen. Für unsere Fragestellung des „Lästerns“ sind die psychischen Aspekte von Bedeutung [22].

Erkenntnisse über menschliches Denken

„Die meisten Eindrücke und Gedanken tauchen in unserem Bewusstsein auf, ohne dass wir wüssten, wie sie dorthin gelangten“, diese eher als unspezifisch und schwammig anmutende Aussage könnte man als Sprech abtun, würde sie nicht ein Zipfelchen eines Denkprozesses erkennen lassen, der sich damit befasst, Fehler in unserem intuitiven Denken auf die Spur zu kommen. Von der Antike an, und sicherlich schon vorher und über alle Zeiten hinweg, haben Menschen darüber nachgedacht, wie die intellektuelle Erkenntnistätigkeit, das Denken, als dianoia, Verstand, zustande kommt, der den anthrôpos vom zôon, dem Tier, unterscheidet und ihn auf die oberste Stufe der scala naturae stellt. Denn es ist die Fähigkeit, Gutes von Bösem zu unterscheiden und eine eigene, rationale Entscheidung treffen zu können, die uns zu Menschen macht. Es ist das intuitive Denken, das in den Wissenschaften bewusst angewandt wird und im Alltag oftmals eher unbewusst abläuft. Es sind nicht nur die Philosophen, sondern auch die Anthropologen, Psychologen, Neurologen, Pädagogen - und Ökonomen, die darüber nachdenken, welche Bedeutung die Intuition im menschlichen Bewusstsein hat. Die Aufmerksamkeit und das Erstaunen der Welt besonders auf Denkvorgänge, die aus den ökonomischen Forschungen entstanden sind, zeigte sich insbesondere dadurch, dass im November 2009die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom für ihr Konzept des „Gemeingut-Denkens“ den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt [23]. Bereits 2002 wurde der israelisch-US-amerikanische Psychologe und Hochschullehrer Daniel Kahneman, zusammen mit seinem Kollegen Vernon L. Smith mit den Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnet. Kahnemans „Prospect Theory“, die er zusammen mit Amos Tversky entwickelte, erklärt, wie Entscheidungsfindungen in Situationen der Unsicherheit und bei Risiken zustande kommen. Die intellektuellen, emotionalen, mentalen, bewussten und unbewussten Denkprozesse unterliegen Phänomenen, die sich, nach Kahneman, in zwei unterschiedlichen Kategorien und Denksystemen darstellen lassen: Intuitives und bewusstes Denken. Die neueren, neurologischen und psychologischen Forschungsergebnisse zeigen, „dass das intuitive System einflussreicher ist, als dies nach unserem subjektivem Erleben der Fall zu sein scheint“, also gewissermaßen als geheimer Urheber von vielen Entscheidungen und Urteilen gelten kann. Die auf den zwei (Denk-)Systemen des intuitiven, schnellen und des rationalen, langsamen Denkens beruhenden, psychologischen Theoriebildungen über Verzerrungen und Fehler in unserem intuitiven Denken, das (mehrheitlich) unser Denken und Handeln bestimmt, dürfen nicht als ein Manko und als Herabsetzung des menschlichen Intellekts verstanden werden; vielmehr bedarf es eines Verständnisses und Bewusstseins darüber, wie Urteile und Entscheidungsprozesse im individuellen und gesellschaftlichen Handeln zustande kommen [24].

„Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt!“

Der bekannte Spruch aus Wilhelm Buschs Moralgeschichten will ja erklären, worum es geht, wenn Vertracktes, Unerklärbares, Merkwürdiges und Seltsames auf Wirklichkeit trifft und Handlung erfordert. Wir sind bei der Frage nach den Tugenden [25], nach den An- und Herausforderungen, zwischen Handeln und Unterlassen zu unterscheiden [26], und der Hektik Gelassenheit entgegen zu setzen. Mit dem etwas unglücklich, irritierenden und missverständlichen Begriff der „negativen Ethik“ werden die Bemühungen bezeichnet, im Denken und Handeln einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, Gewohntes quer zu denken und den anthropologischen, moralphilosophischen Betrachtungen vom „guten Leben“ mit einer Gesellschaftskritik (Adorno) zu begegnen: „Negative Ethik bricht den Primat, den die Neuzeit dem Tun und Machen zuerkennt. Ihre erste Frage ist nicht ‚Was sollen wir tun?‘, sondern ‚Was sollen wir lassen?‘“. Aus Anlass der Emeritierung des am Geschwister-Scholl-Instituts für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrenden Philosophen Henning Ottmann haben seine Schüler und Weggefährten 2010 an einem „locus amoenus“, der Fraueninsel im Chiemsee, ein Symposium durchgeführt, in dem interdisziplinär darüber reflektiert wurde, wie Einstellungen und Verhaltensweisen zur Entschleunig des Lebens begründet und propagiert werden können. Dass dieser Perspektivenwechsel in gar keiner Weise als Ewig-Gestriges und Überholtes zu verstehen ist, sondern mit dem „Mut zu lassen“ neue, gegenwartsbezogene und zukunftsorientierte, humane Perspektiven aufzeigt, vermitteln die einzelnen Beiträge in differenzierter und überzeugender Weise [27].

Die Entdeckung der Empathie

Der Begriff Empathie wird aus dem griechischen empátheia (Leidenschaft) abgeleitet. Im alltäglichen wie im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird Empathie als die Fähigkeit des Menschen bezeichnet, sich in das  Denken, Dasein und Verhalten eines anderen Menschen hineinversetzen zu können. Empathische Empfindungen äußern sich in Mitgefühl, Zugewendetheit, Geschätztheit und Hilfsbereitschaft. Emotion und Kognition sind wichtige Bestandteile dieser Gefühlshaltung. Der Zusammenhang von Verstandesbenutzung und gefühlsbetonter Haltung ist wichtig, damit aus Empathie nicht der pure Zwang zum Helfen und zum Helfersyndrom entwickelt. Empathie kann, das zeigen die psychologischen, soziologischen und pädagogischen Forschungen, ansteckend sein. Ein empathischer Mensch wirkt in seiner Umgebung sympathisch und lädt zu einem empathischen Verhalten ein; denn es ist die Bereitschaft und Fähigkeit, einen Perspektivenwechsel im eigenen Denken und Handeln zu übernehmen. Im Sprichwort heißt das, „in eine andere Haut schlüpfen“. Neurowissenschaftliche Forschungen zeigen – und zwar nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Tieren, z. B. bei Rhesusaffen, dass Spiegelneuronen in der Großhirnrinde Nachahmungseffekt und empathisches Verhalten bewirken, die sich in der Entwicklung des Individuums verstärken, aber auch reduzieren können. Im pädagogischen Sprachgebrauch kann man deshalb sagen: Empathie ist lernbar! Mit Pathos bezeichnet der griechische Philosoph Aristoteles das Gefühl, was einem widerfährt, was man erleidet. „Als lustvolle oder schmerzhafte Zustände haben die Emotionen direkten Einfluss auf das Strebevermögen oder stellen selbst Erscheinungsformen des arationalen ... und rationalen Streben(s) dar (Aristoteles-Lexikon). Der US-amerikanische Soziologe, Ökonom und Schriftsteller Jeremy Rifkin [28] plädiert dafür, Auswege aus dem materialistischen und der „Haben-Mentalität“ (Erich Fromm) eingeschliffenen, menschheitsbedrohenden Dilemma zu suchen und der „Evolution der menschlichen Empathie“ eine größere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Er legt „eine völlig neue Interpretation der Geschichte der Zivilisation“ vor, indem er auf Forschungsergebnisse von Biologen und Kognitionswissenschaften, von Hirnforschern und Entwicklungspsychologen aufmerksam nacht, in denen die bisher gültigen Auffassungen, dass wir Menschen aggressive, materialistische, utilitaristische und egoistische Lebewesen seien, in Frage gestellt werden: Wir sind dem Wesen nach eine empathische Spezies! Empathie wird dabei nicht als eine Illusion oder Wunschvorstellung thematisiert, sondern als natürliche, humane Tugend verstanden: „Der Mensch ist eine der vielen Konkretionsformen der Welt und in allem mit dieser Welt verbunden, die zu ihm geführt hat und in ihm wirkt“ [29]. Die Würde des Menschen ist empathisch!

Fazit

Aus den subjektiv ausgewählten Wortmeldungen zur eingangs formulierten Begründung - Warum wir im Bildungs- und Erziehungsprozess bewusst machen sollten, dass „Lästern“ kein harmloses Geplänkel ist, sondern Böses bewirken kann – sollte deutlich werden, welche vielfältigen Aspekte bei den (Lern)Auseinandersetzungen zur „geheime Rede“ beachtet werden sollten, damit das Lästern nicht zum Shitstorm, zum Flächenbrand und zu persönlichen Katastrophen führt. Ihm lässt sich begegnen durch Einstellungen wie passivem Verhalten - „Was kümmert's den Mond, wenn ihn die Hunde anbellen?“ – oder durch aktives Tun und dem Wissen über menschliche Eigenschaften.
Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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[1] A. Paul Weber, Hoppla Kultur. 50 Bilder zur Herrlichkeit unserer Zeit, C. Bertelsmann-Verlag, 1954, Abb. 30

[2] vgl. dazu: Georg Cadeggianini / Steffen Jan Seibel, Forschungsgegenstand: Lästern. Über die unheimliche Kunst des heimlichen Sprechens, Feature, Deutschlandfunk, 28.08.2015, 20.10 Uhr

[3] Ottfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart2005, 640 S.; siehe dazu auch: Hellmut Flashar, Aristoteles. Lehrer des Abendlandes, 2013, zur Rezension

[4] Siegfried Schumann, Individuelles Verhalten. Möglichkeiten der Erforschung durch Einstellungen, Werte und Persönlichkeit, 2012, zur Rezension

[5] Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, zur Rezension

[6] Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, zur Rezension

[7] Jürgen Stock, Das wäre doch gedacht! Wie wir uns aus der Falle eingefahrener Denkmuster befreien, 2011, zur Rezension

[8] Fritz B. Simon, Wenn rechts links ist und links rechts. Paradoxiemanagement in Familie, Wirtschaft und Politik, 2013, zur Rezension

[9] Anton Pelinka, Hrsg., Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung, 2012, zur Rezension

[10] vgl. dazu: Thorsten Fuchs, Bildung und Biographie, 2011, in: socialnet Rezensionen, zur Rezension

[11] Florian von Rosenberg, Bildung und Habitustransformation. Empirische Rekonstruktionen und bildungstheoretische Reflexionen,2011, zur Rezension

[12] Wolfgang Benz , Hrsg., Ressentiment und Konflikt. Vorurteile und Feindbilder im Wandel, 2014, zur Rezension

[13] Martha Nussbaum, Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst, 2014, zur Rezension

[14] Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, 2013, zur Rezension

[15] Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2010. Einfach besser leben. Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil, 2010, zur Rezension

[16] Ellen Bareis /, Christian Kolbe / Marion Ott / Kerstin Rathgeb / Christian Schütte-Bäumner , Hrsg., Episoden sozialer Ausschließung. Definitionskämpfe und widerständige Praxen, 2013, zur Rezension

[17] Gerd Meyer, Lebendige Demokratie. Zivilcourage und Mut im Alltag, 2004, zur Rezension; sowie: Dieter Lünse, Jörg Kowalczyk, u.a., Zivilcourage können alle! Ein Trainingshandbuch für Schule und Jugendarbeit, 2011, zur Rezension

[18] Ulrich Beer, Zivilcourage, 2011, zur Rezension

[19] Avishai Margalit, Über Kompromisse - und faule Kompromisse, 2011, zur Rezension

[20] Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, 2014, zur Rezension

[21] Helmut Junker, Intersubjektivität und implizites Gedächtnis. Reflexionen veränderter therapeutischer Praxis, 2013, zur Rezension

[22] Marion Oliner, Psychische Realität im Kontext. Reflexionen über Trauma, psychoanalyse und die persönliche Geschichte, 2014, zur Rezension

[23] Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, zur Rezension

[24] Daniel Kahneman, Thorsten [Übers.] Schmidt: Schnelles Denken, langsames Denken, zur Rezension

[25] Asfa-Wossen Asserate, Deutsche Tugenden. Von Anmut bis Weltschmerz, 2012, zur Rezension

[26] Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, 2014, zur Rezension

[27] Henning Ottmann / Stefano Saracino / Peter Seyferth, Hg., Gelassenheit – Und andere Versuche zur negativen Ethik, 2014, zur Rezension; sowie: Thomas Strässle, Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt, 2013, zur Rezension

[28] Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, zur Rezension; sowie ders., Die dritte industrielle Revolution. Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter, 2011, zur Rezension

[29] Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, zur Rezension