Foto: Heidi Scherm

Geschlechtergerecht Verteilen in Zeiten des Umbruchs

In Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, gilt ein wachsender Teil der Bevölkerung als arm. Besonders häufig sind Frauen an den unteren Enden der Einkommens- und Vermögensskalen zu finden. Gleichzeitig steigen die Vermögen Wohlhabender immer weiter an. Diese zunehmende Ungleichheit fordert die Demokratie heraus und droht sich in Anbetracht des klimabedingt notwendigen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft zu verschärfen. Höchste Zeit, die Verteilungsfrage unter Geschlechterperspektive zu stellen. Das fanden auch die Teilnehmer*innen der Fachveranstaltung des Deutschen Frauenrats „Wohlstand für alle?! Geschlechtergerechte Verteilungspolitik in Zeiten der Transformation“, die sich zahlreich am 21. Juni 2024 im Scandic Hotel in Berlin einfanden.

Armut keine Folge individuellen Scheiterns

In ihrer Eröffnungsrede räumte die Vorsitzende des Deutschen Frauenrats, Dr. Beate von Miquel, mit einem Vorurteil auf: Armut sei keine Folge individuellen Scheiterns, sondern Folge einer Politik, die Armut billigend in Kauf nehme, um Wertschöpfung und Profite an anderer Stelle zu entfesseln. Eine Vermögensverteilung, bei der wenige sehr viel und viele sehr wenig haben sei politisch geschaffen. Für mehr Verteilungsgerechtigkeit müssten die Strukturen reformiert werden, die diese Entwicklung ermöglicht haben und die vor allem Frauen benachteiligten.

Dr. Beate von Miquel (Foto: Heidi Scherm)Dr. Beate von Miquel (Foto: Heidi Scherm)

Ungleichheit wächst seit den 1970ern

Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg stellte in seiner anschließenden Keynote die Ergebnisse seiner Forschung an der Universität Bremen zu Verteilungsfragen vor: In Deutschland wächst die Ungleichheit seit den 1970ern. Während der Anteil der als arm geltenden Bevölkerung auf 11 Prozent zugenommen hat, ist auch der Anteil der Wohlhabenden angestiegen. Gelang es Menschen früher öfter der Armut zu entkommen, ist heute zu beobachten, dass arme Menschen vermehrt arm bleiben. Mit Blick auf die geschlechtliche Ausprägung skizzierte der Sozialwissenschaftler, dass Frauen trotz höherer Bildungsabschlüsse, besserer Kinderbetreuungsmöglichkeiten und gestiegener Erwerbsquote geringere Einkommen erwirtschafteten, weil sie nach wie vor den Großteil der Sorgearbeit übernehmen und deshalb häufig nur in Teilzeit erwerbsarbeiten. Ist der Gender Pay Gap direkt nach der Ausbildung zwischen den Geschlechtern noch gering, zieht er an, wenn Kinder geboren und groß gezogen werden. Als armutsverstärkende Faktoren führte Groh-Samberg Merkmale wie Bildung, Alter und Herkunft an.

Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg (Foto: Heidi Scherm)Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg (Foto: Heidi Scherm)

Steuern steuern – aber nicht geschlechtergerecht

Nach Vorstellung der eindrücklichen Zahlen und Fakten diskutierten Dr. Elke Baumann (Bundesministerium der Finanzen), Dr. Ulrike Spangenberg (Bundesstiftung Gleichstellung) und Julia Jirmann (Netzwerk Steuergerechtigkeit) den steuer- und finanzpolitischen Status Quo und nötige Reformen zugunsten einer geschlechtergerechten Verteilung. Baumann betonte, dass das deutsche Steuerrecht per se geschlechtsneutral sei. Ulrike Spangenberg ergänzte, dass sich das Steuerrecht jedoch unterschiedlich auf Männer und Frauen auswirke: Das Ziel von Besteuerung müsse sein, Gleichheit in der sozialen Wirklichkeit zu schaffen. Dass das aktuelle Steuerrecht Ungleichheit befördere, belegte Spangenberg mit dem Beispiel der Entfernungspauschale, die nicht nur klimaschädlich wirke, sondern von der Männer und Wohlhabende überproportional profitierten. Gleichzeitig seien Kosten für Kinderbetreuung nicht gut absetzbar, weil diese nach dem Steuerrecht nicht relevant für die Erwerbstätigkeit sei. In Deutschland herrschen niedrige Unternehmenssteuern und hohe Verbrauchssteuern, was einer Vermögensumverteilung von unten nach oben gleichkomme. Spangenberg plädierte für eine an ökologischen Kriterien ausgerichtete Steuerreform. Julia Jirmann verdeutlichte, wie einfach es für Vermögende ist, Steuern zu vermeiden. Als ausgleichende Maßnahme bewarb sie die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine Reform Erbschaftssteuer. Baumann betonte, dass Gerechtigkeit herzustellen Aufgabe des Sozialsystems sei und nicht des Steuersystems. Dass Frauen weniger Vermögen hätten, müsse hingegen  werden, z.B. durch Förderung des individuellen Finanzwissens bei Frauen.

Dr. Ulrike Spangenberg, Julia Jirmann (Foto: Heidi Dr. Ulrike Spangenberg, Julia Jirmann (Foto: Heidi Scherm) Moderatorin Andrea Blome, Dr. Elke Baumann (Foto: Heidi Scherm)Moderatorin Andrea Blome, Dr. Elke Baumann (Foto: Heidi Scherm)

Politische Rahmenbedingungen anpassen

Die zweite Podiumsdiskussion widmete sich dem Thema „Eigenständige Existenzsicherung in Zeiten der Transformation“. Dennis Becker (Universität Hamburg), Michaela Engelmeier (Sozialverband Deutschland e.V.) und Dr. Kirsten Wendland (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) diskutierten die bekannten Herausforderungen für Frauen, sich den eigenen Lebensunterhalt verdienen zu müssen und gleichzeitig Hauptverantwortliche für Sorgearbeit zu sein. Becker nannte Hürden wie Ehegattensplitting und Minijobs, die Gender Pay Gap und den Gender Hours Gaps begünstigen. Engelmeier stimmte dem zu, warnte vor Minijobs als Armutsfallen und forderte eine Sozialversicherungspflicht ab dem ersten Euro. Wendland betonte, dass sich Normen wandelten und die Politik ihren Beitrag dazu leisten müsse, diese zu aktualisieren – vor allem auch mit Blick auf Herausforderungen wie den Fachkräftemangel, dem nur mit der Arbeitskraft von Frauen beigekommen werden könne. Becker mahnte familienfreundliche Arbeitsbedingungen an, und betonte, dass sich Männer neben der Kinderbetreuung stärker in den Familien engagieren müssten.

Moderatorin Andrea Blome, Dennis Becker, Michaela Engelmeier, Dr. Kirsten Wendland (Foto: Heidi Scherm)Moderatorin Andrea Blome, Dennis Becker, Michaela Engelmeier, Dr. Kirsten Wendland (Foto: Heidi Scherm)

Strukturen reformieren, geschlechtergerecht umverteilen

Zum Abschluss las die Journalistin und Autorin Mareice Kaiser aus ihrem Buch Wie viel: Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht vor. Das ausgewählte Kapitel rückt die Perspektive, Erfahrungen und Nöte einer Reinigungskraft mit Einwanderungsgeschichte in den Fokus. Im anschließenden Publikumsgespräch teilte Kaiser eigene Erfahrungen, was es bedeutet in in Deutschland in einem Arbeiter*innenhaushalt aufzuwachsen und appellierte an die Zuhörenden, privilegierte Positionen zu nutzen, um weniger Privilegierten Platz zu machen.

Mareice Kaiser (Foto: Heidi Scherm)Mareice Kaiser (Foto: Heidi Scherm)

Abschließend zog DF-Vorstandsmitglied Susanne Maier, die den Fachausschuss Armut zwei Jahre geleitet hat, ein Resümee der Veranstaltung und betonte die Notwendigkeit, weiterhin für eine Verteilungspolitik zu streiten, die die Geschlechterperspektive einnimmt: Merkmale, die das Armutsrisiko erhöhen, wie ein Alleinerziehenden-Status, eine Beeinträchtigung, eine Migrationsgeschichte, Pflegebedürftigkeit und -verantwortung oder altersbedingte Einschränkungen bedeuten für Frauen häufiger ein Armutsrisiko als für Männer. Um die Armut von Frauen zu bekämpfen, müssen Strukturen dringend reformiert werden, um zu einer gerechteren Verteilung von Einkommen, Vermögen und Zugängen zu guter Infrastruktur zu kommen.


Quelle: Pressemitteilung des Deutschen Frauenrat vom 11.07.2024