Einkommen, Mitsprache, Anerkennung: Erfahrungen im Job können demokratische Einstellungen stabilisieren – oder unterminieren
Das Erstarken rechtsextremer und anti-demokratischer Einstellungen in Deutschland steht mit Erfahrungen sozialer Desintegration in Verbindung, mit denen sich ein relevanter Teil der Bevölkerung konfrontiert sieht. Dazu zählen unter anderem Befürchtungen, den eigenen Lebensstandard nicht halten zu können, Sorgen um die Alterssicherung und um die berufliche Zukunft, die beispielsweise bei Erwerbspersonen, die zur AfD tendieren, weit überdurchschnittlich verbreitet sind (siehe Abbildung 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Aber auch mangelnde Mitsprache am Arbeitsplatz und das damit verbundene Gefühl, mit tiefgreifenden Veränderungen in Arbeitsleben und Gesellschaft ohne Möglichkeit zur Einflussnahme nicht Schritt halten zu können – oder der Eindruck, dass die berufliche Leistung vom Arbeitgeber nicht ausreichend anerkannt wird, sind wichtige Faktoren (Abbildung 2 in der pdf-Version). Das zeigen aktuelle Studien, unter anderem des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, über die WSI-Direktorin Prof. Dr. Bettina Kohlrausch in einer neuen Kurzanalyse einen Überblick gibt.: „Es ist für Demokratien lebensbedrohlich, wenn ein wachsender Teil der Bevölkerung die Gestaltung der Gesellschaft zwar im Rahmen demokratischer Rechte mitverantwortet, die grundlegenden Werte und Regeln, die sie ausmachen, aber nicht teilt. Menschen müssen sich die Demokratie und ihre Werte zu eigen machen, damit sie funktioniert“, warnt die Soziologin.
Einer der Faktoren, die zu einer Erosion demokratischer Einstellungen führen können, ist die Erfahrung von Anerkennungsverlusten bzw. Anerkennungsbedrohungen, ergeben unter anderem Untersuchungen des Soziologen Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer oder die Leipziger Autoritarismus-Studie. Die Forschung am WSI der letzten Jahre hat auf empirischer Basis herausgearbeitet, dass sich solche Bedrohungs- und Verlustgefühle aus geringer oder fehlender materieller, sozialer und demokratischer Teilhabe speisen. „Alle drei Dimensionen von gesellschaftlicher Teilhabe sind relevant und stehen mit anti-demokratischen Einstellungen in Zusammenhang“, betont Kohlrausch. „Unsere Befragungsdaten zeigen, dass unter Menschen, die zur Wahl der AfD tendieren, solche subjektiven Bedrohungs- und Verlusterfahrungen überdurchschnittlich verbreitet sind.“ So finden sich in den unteren Einkommensgruppen besonders viele Wähler:innen der AfD. „Oft verbinden sich Bedrohungs- und Verlustgefühle dann mit migrationskritischen bis -feindlichen Stereotypen, die insbesondere AfD-Stammwähler:innen sehr oft vertreten. Der AfD gelingt es im aktuellen politischen Diskurs erfolgreich, oben-unten Konflikte in innen-außen Konflikte umzudeuten.“
Personen mit großen wirtschaftlichen Sorgen wollen deutlich häufiger AfD wählen
Es sei auch deshalb besonders problematisch, dass gerade Menschen mit niedrigeren Einkommen im Zuge der Corona-Krise und der Teuerung infolge des Kriegs in der Ukraine überproportional belastet wurden, was zu einem massiven Anstieg finanzieller Sorgen in diesen Einkommensgruppen führte, analysiert Kohlrausch. Das ergeben unter anderem die regelmäßigen Auswertungen der Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung. Personen mit großen wirtschaftlichen Sorgen und Belastungen wiederum wollen häufiger AfD wählen – je nach spezifischer Fragestellung waren etwa die Anteile bei der Befragungswelle vom Juli 2023 unter mehr als 5000 Erwerbstätigen und Arbeitsuchenden teilweise doppelt so hoch wie bei Wähler:innen anderer Parteien.
Ebenfalls bedeutsam für Verunsicherungen, die antidemokratische Einstellungen triggern können, ist das Gefühl mit den „rasenden“ gesellschaftlichen Veränderungen dieser Zeit nicht mithalten zu können. Diese Veränderungen bergen neben materiellen Bedrohungen auch die Gefahr des Verlustes sozialer Anerkennung. „Dies geschieht zum Beispiel, wenn Wissen und Können, welches im Laufe eines Lebens angeeignet wurde, an Bedeutung verliert oder gar nicht mehr gefragt ist. Wer jahrelang stolz darauf war, am Diesel gebaut zu haben und jetzt plötzlich nur noch klimafeindliche Technik von gestern produziert, der sieht eben nicht nur den Arbeitsplatz bedroht, sondern auch den eigenen Stolz – vielleicht sogar den einer ganzen Region“, schreibt WSI-Direktorin Kohlrausch.
Besonders problematisch ist dies, wenn Menschen den Eindruck haben, nicht zu verstehen, wie und warum sich die Gesellschaft verändert und dass sie die Auswirkungen dieser Veränderungen auf ihren konkreten (Arbeits-)Alltag nicht mitgestalten können. Menschen, die das Gefühl haben, dass ihnen die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen „einfach passieren“, sie aber keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung haben, neigten eher zur antidemokratischen Einstellung. Dies betreffe nicht zuletzt die Auswirkung von Digitalisierung und sozial-ökologischem Wandel auf den konkreten Arbeitsalltag, so Kohlrausch.
Tarifautonomie und Mitbestimmung als Ressourcen der Demokratie
„Die multiplen Krisen dieser Zeit und die großen gesellschaftlichen Veränderungen wie die Digitalisierung, die Dekarbonisierung und der demographische Wandel haben zur Folge, dass sich Verteilungskonflikte einerseits zuspitzen und anderseits zentrale gesellschaftliche Fragen neu ausgehandelt werden müssen“, erklärt die Soziologin. Ein zentraler Aushandlungsort ist laut Kohlrauschs Analyse nach wie vor der Betrieb. Faktoren wie die Tarifautonomie oder das Betriebsverfassungsgesetz bestimmten ebenso wie soziale Schutzrechte für Beschäftigte den formalen Rahmen dieses Aushandlungsprozesses – und seien daher wichtige Ressourcen auch für die politische Demokratie. „Sie sorgen dafür, dass im betrieblichen Kontext trotz des genuinen Machtungleichgewichts zwischen Beschäftigen und Arbeitgeber:innen ein Interessenausgleich möglich wird“, so die WSI-Direktorin. In Zeiten großer Transformationsprozesse fokussiere dieser Interessenausgleich nicht nur Fragen der Entlohnung, sondern auch die Gestaltung der Transformation, wenn zum Beispiel über den Einsatz digitaler Technologien am Arbeitsplatz entschieden wird.
Untersuchungen, unter anderem des WSI, zeigen, dass Beschäftigte seltener zu anti-demokratischen Einstellungen neigen, wenn dieser Interessenausgleich gelingt. Konkrete Mitsprachemöglichkeiten im Arbeitsumfeld stärken demokratische Einstellungen und verringern die Wahrscheinlichkeit, AfD zu wählen. So geben beispielsweise in der Böckler-Erwerbspersonenbefragung unter den Wählenden anderer Parteien deutlich mehr Menschen an, Mitspracherechte bei strategischen Entscheidungen am Arbeitsplatz zu haben als Personen, die der AfD zuneigen (siehe Abbildung 2). In eine ähnliche Richtung weisen Studien von Forscher:innen der Universitäten Lüneburg und Trier auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Danach sind Beschäftigte in Betrieben mit Betriebsrat im Schnitt zufriedener mit der Demokratie in Deutschland als diejenigen ohne Mitbestimmung. Und: Gibt es in einem Betrieb eine Arbeitnehmervertretung, tendiert die Belegschaft weniger zu rechtsradikalen Parteien.
Für die meisten Menschen ist Erwerbsarbeit die wesentliche Grundlage ihrer materiellen Absicherung und zwar sowohl im Hinblick auf die Entlohnung als auch auf die soziale Absicherung im Falle von Erwerbsunfähigkeit oder im Alter. Darüber hinaus ist Erwerbsarbeit eine wichtige Ressource sozialer Anerkennung, konstatiert Kohlrausch. Beide Aspekte korrelierten mit Wahl oder Nichtwahl der AfD. „Erwerbspersonen, denen ihre Arbeit langfristig ein sicheres und ausreichendes Einkommen garantiert, wählen seltener AfD. Solidarität, Stolz auf die eigene Leistung (Produktionsstolz) aber auch die Anerkennung dieser durch Kolleg:innen und Vorgesetze sind wesentliche Aspekte sozialer Anerkennung. Wer diese im Rahmen der eigenen Erwerbsarbeit erfährt, wählt seltener AfD“, schreibt die WSI-Direktorin. Trotz derartiger Befunde werde in der Debatte über das Erstarken anti-demokratischer Einstellungen und rechtsextremer Parteien die Bedeutung des Betriebs und die Rolle von Erwerbsarbeit häufig vernachlässigt, so Kohlrausch.
Positive, die Demokratie stärkende Elemente müssten sowohl eine ausreichende materielle Absicherung als auch das Erleben sozialer Anerkennung und demokratischer Beteiligungsmöglichkeiten umfassen.
Hierzu gehöre zunächst, die Primärverteilungsfunktion des Arbeitsmarktes zu stärken, um Beschäftigten materiell angemessen abzusichern. Die Stärkung der Tarifbindung identifiziert die Soziologin als einen wichtigen Baustein dafür.
Ebenso wichtig sei es, Beschäftigten Mitsprachemöglichkeiten einzuräumen, wenn es darum geht, Transformationsprozesse im Betrieb zu gestalten. Eine Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung auf mehr Betriebe – aktuell haben nur rund 43 Prozent der Beschäftigten in Deutschland einen Betriebs- oder Personalrat an ihrer Seite – sei hierfür nur ein erster Schritt. „Damit sich betriebliche Mitbestimmung auch in reale Teilhabemöglichkeiten von Beschäftigten übersetzt, brauchen Betriebsräte mehr Rechte, um die aktuellen Veränderungen mitgestalten zu können, zum Beispiel im Hinblick auf Digitalisierung oder Qualifizierung, die eine wichtige Voraussetzung ist, um mit den Veränderungen der Arbeitswelt mithalten zu können. Hierfür braucht es eine grundlegende Reform des Betriebsverfassungsgesetzes“, so Kohlrausch. Eine von arbeitsrechtlichen Expert:innen der Gewerkschaften, der Hans-Böckler-Stiftung sowie der Universitäten Göttingen und Bremen vorgeschlagene Neufassung sehe übrigens auch vor, Beschäftigten, eine Stunde Demokratiezeit in der Woche einzurichten, betont Kohlrausch. „Eine funktionierende Sozialpartnerschaft ist eine wichtige Säule der Demokratie, denn im Betrieb ist Demokratie immer in Arbeit.“
Quelle: Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 12.03.2024