Gang einer gelb gefliesten U-Bahnstation

Alle Jahre wieder – ganz anders als gedacht

Meine Veranstaltung zum Thema Partnerschaftsgewalt konnte nicht stattfinden. Wegen der steigenden Infektionszahlen hat die Leitung schon frühzeitig alle offenen Angebote abgesagt. Jetzt machen wir nur noch die klassische SPFH, also die Termine mit den einzelnen Familien und keine flexiblen Gruppen oder Grüppchen mehr. Onlineberatungen sind immer noch nicht klar geregelt, da bewegen wir uns im Graubereich. Naja, das sind wir ja gewöhnt, das arbeiten im Graubereich und dass wir uns ständig anpassen. Das merken wir gar nicht mehr, dass wir uns ständig anpassen, an Menschen, an Räume, an Kommunikationsverhalten, an das Wetter, an Vorschriften und an Corona.

Ich habe mich an das Abstandhalten so sehr gewöhnt, dass ich jedes Mal einen Schritt zurücktrete, wenn sich mir jemand nähert, und die Maske trage ich auch, sobald sich mehr als zwei Menschen im Raum bewegen. Ob das gesund ist, bezweifele ich. Mein Verhalten hat eher Merkmale einer Angststörung oder einer sozialen Phobie, denn ich bin ja geimpft und sollte mich sicherer fühlen. Ich wüsste gern wie es um die psychische Gesundheit der Fachkräfte in den ambulanten Hilfen bestellt ist und entdecke eine Untersuchung über Corona und Menschen in Hilfen zur Erziehung. Da geht es aber um die Menschen, mit denen wir arbeiten und nicht um uns und die Erwartungen an uns und wie wir Fachkräfte mit den Anforderungen klarkommen und auch nicht darum, welche Lösungen gefunden werden.

Ich ärgere mich immer noch, dass wir Hausbesuche machen sollen, auch wenn sie gar nicht notwendig sind und ein ausführliches telefonisches Beratungsgespräch genauso gut wäre. Aber die Leitung sagt „ambulant heißt aufsuchend" und „aufsuchend heiß Hausbesuch" und ich ärgere mich, dass die Flexibilität nur von unserer Seite erwartet wird und man uns nicht genauso flexibel entgegenkommt. Ich fühle mich unwohl in den Öffentlichen, aber bei Regen und Kälte ist es auch mit dem Rad ungemütlich und ich müsste die Regenklamotten dann immer im Flur bei den Familien ausziehen und das möchte ich nicht. Meine Freundin Semra arbeitet auch in der Jugendhilfe, sie ist Ü 60 und lässt gerade prüfen, ob sie in Frührente gehen kann. „Der Job ist mir zu gefährlich", sagt sie. „Ich teste mich jedes Mal bevor ich meine Enkelkinder besuche, und trotzdem sitzt die Angst immer in der Spielecke dabei und wenn ich eine Geschichte vorlese und die Kleinen sich ankuscheln, habe ich Angst, dass ich sie anstecken könnte. Ich habe keine Lust, mir auf Arbeit was einzufangen und dann nachhause zu tragen." Wir hätten eine Gefahrenzulage verdient aber es gibt nicht mal eine Coronaprämie. Ich werde mal anfragen ob ich wenigstens ein paar Büchergutscheine bekomme, weil der Betrieb ja nun schon zum zweiten Mal das Geld für die Weihnachtsfeier gespart hat.

Immer wenn ich frustriert bin, mache ich Inventur und meine Coachin sagt, das ist auch gut so. Immer wieder fragen, warum mache ich den Job den ich mache? Was stört mich und was wäre mir lieber?

Mit den Familien mache ich am Jahresende auch Inventur. Was nehme ich mit? Woran erinnere ich mich gern? Was will ich hinter mir lassen? Und Frau K hat mich am meisten verblüfft. Im Sommer war sie zur Mutter-Kind-Kur und hat sich dort mit einer anderen Einelternfamilie angefreundet. Jetzt möchten die beiden Mütter mit ihren Kindern gemeinsam Weihnachten feiern. „Eine Tochter darf das!", sagt sie und sie meint, eine Tochter darf die Feiertage so verbringen wie sie möchte und mit Menschen, die ihr gut tun. In den letzten Jahren fühlte sie sich immer verpflichtet ihren Vater einzuladen obwohl er ihr jedes Mal die Stimmung vermieste, und auch über die „ungezogene" Kleine und den unbekannten Kindesvater herzog, und wenn er getrunken hatte war es besonders schlimm. Ich hoffe nur, dass - falls es wieder zu Kontaktbeschränkungen kommt - die erlaubten Kontakte nicht auf die Blutsverwandtschaft begrenzt werden.

Ihre Katja Änderlich