Bielefelder Erklärung 2014
Die Gilde Soziale Arbeit lädt jährlich Fachkräfte und Interessierte der Sozialen Arbeit zur Jahrestagung nach Bielefeld Sennestadt in das Haus Neuland ein. Anlässlich der 74. Jahrestagung vom 28. bis 31. Mai 2014 zum Thema „Rechtsextremismus als erneute Herausforderung für Soziale Arbeit?“ veröffentlicht die Gilde Soziale Arbeit folgende Bielefelder Erklärung:
Menschenrechte sind unteilbar
Eine der wichtigsten Errungenschaften der Moderne ist die Zurückweisung der Vorstellung, wonach die Stellung des einzelnen Menschen in der Gesellschaft bereits mit seiner Geburt und durch Herkunft vorbestimmt ist. Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besagt, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren und mit Vernunft und Gewissen begabt sind. Damit wird die Gleichheit der Menschen mit ihrer Würde und Freiheit begründet, die sich wiederum in ihrer prinzipiellen Fähigkeit zu vernünftiger Autonomie ausdrücken. Aufgabe des demokratischen Sozialstaats ist einerseits die Autonomie zu gewährleisten, andererseits ihre Entfaltung durch die gesellschaftlichen Institutionen zu unterstützen, zu denen neben anderen die Soziale Arbeit zählt. Vor diesem Hintergrund sind institutionelle Regelungen im Bildungssystem, die die Selektion im Kindes- und Jugendalter verschärfen und die Regeln des Förderns und Forderns im System der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) nicht mit dem Prinzip gleichberechtigter Teilhabe vereinbar.
Die Sicherung der Gleichwertigkeit und der physischen und psychischen Unversehrtheit aller Menschen sind Voraussetzungen für ein möglichst angstfreies Zusammenleben von Individuen und Gruppen unterschiedlicher ethnischer, religiöser, sozialer oder kultureller Herkunft. Ungleichwertigkeit und Ungleichheit ist die Basis für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wie sie über viele Jahre im Bielefelder Projekt „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) von Wilhelm Heitmeyer und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermittelt wurde. Menschenfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen rechtfertigen die Abwertung und Ausgrenzung sozialer Gruppen und stellen deren Integrität infrage. Das Phänomen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hat in den vergangenen Jahren mit der Ökonomisierung sozialer Beziehungen und den wirtschaftlichen Krisen negative Vorurteile gegenüber speziellen Gruppen und das Diskriminierungsverhalten befördert. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und die Abwertung von Menschen betreffen Menschen die Asyl suchen, Sinti und Roma, Menschen mit anderen als christlichen Überzeugungen wie Juden und Muslime. Einbezogen sind auch Menschen anderen Geschlechts oder anderer sexueller Orientierung, Wohnsitz-, Obdach- und Langzeitarbeitslose und Menschen mit Behinderung.
Die Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit ist der gemeinsame Kern der Abwertung von Gruppen. Die Ungleichwertigkeitsideologie trachtet letztlich ausschließlich danach, soziale Ungleichheit zwischen Gruppen herzustellen. Neben die soziale Erniedrigung tritt die Behauptung moralischer Unterlegenheit mit der ideologischen Funktion, Überlegenheit und Machtpositionen zu sichern.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit kein Randphänomen
Menschenfeindlichkeit ist kein gesellschaftliches oder soziales Randphänomen. Durch ihre Verwurzelung mit aktuellen politischen und gesellschaftskulturellen Diskursen haben sie sich zu vermeintlich gesichertem gesellschaftlichen Wissen verfestigt. Die aktuelle ökonomische Krise und die Ökonomisierung des Sozialen (Unterwerfung der Arbeitsmarkt-, Gesundheits-, Sozial- und z. B. Hochschulpolitik unter Markt- und Wettbewerbslogiken) befördern die Ideologie der Ungleichwertigkeit und damit einhergehend die sie befördernden sozialen Mentalitäten.
Mit der Entdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011 hat die Diskussion über Rechtsextremismus in Deutschland neue Fahrt aufgenommen, nachdem es den Rechtsterroristen gelungen war, sich mehr als 10 Jahre hinter einer kleinbürgerlichen Fassade zu verstecken. Das ist nicht allein mit dem Versagen der Sicherheitsbehörden zu erklären. Hinzukommt die Erkenntnis, dass die solchem Extremismus zugehörigen Einstellungen – von Sympathien für autoritäre Strukturen bis hin zu antisemitischen und fremdenfeindlichen Tendenzen – unabhängig vom Alter bis in die Mitte der Gesellschaft reichen.
Rechtsextremismus ist nicht in erster Linie dem Propagandaerfolg der rechtsextremen Gruppierungen und Parteien geschuldet, sondern durch soziale und politische Beeinflussungsprozesse verursacht, die die Ideologie der Ungleichwertigkeit als Legitimation bedient. Als Beispiele seinen hier nur angeführt die politische Diskussion um Leitkultur, Armutszuwanderung und um die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts. Politische Entscheidungen, wie die Regelungen von Aufenthalts- und Beschäftigungsverboten für bestimmte Zuwanderungsgruppen, die Hartz IV-Regelungen, die aktuelle Asyl- und Zuwanderungspolitik u. a., die soziale Desintegration für Gruppen in der Gesellschaft erzeugen und menschenfeindliche Einstellungen befördern, schaffen ein negatives soziales Klima und beschädigen die demokratische politische Kultur in den Städten und Gemeinden. Menschenfeindliche Einstellungen und Haltungen und rechtspopulistische Aktivitäten wiederum schaffen die Legitimation sowohl für den subkulturellen als auch für den organisierten Rechtsextremismus.
Staatliche Repression und ordnungs- und strafrechtliche Maßnahmen werden nicht dazu führen, menschenfeindlicher rechter Ideologie den Nährboden zu entziehen. Auch die notwendige Intensivierung der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Faschismus im Geschichtsunterricht der Schulen und der außerschulischen Jugendbildung wird nicht wirklich weiterführen, so hilfreich Gedenkstättenpädagogik auch sein mag. Historisches Wissen alleine genügt nicht.
Demokratieerziehung von Anfang an
Erforderlich ist Demokratieerziehung von Anfang an, die Demokratisierung der schulischen und beruflichen Ausbildung, der Ausbau der schulischen vor allem aber der außerschulischen politischen Bildung. Erforderlich ist die finanzielle Ausstattung der Jugendhilfe, die es ihr ermöglicht „dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“ (§ 1,Abs. 3.4 SGB VIII).
Eine erfolgreiche Strategie Sozialer Arbeit gegen Rechtsextremismus liegt
- im Ausbau der Gemeinwesenarbeit,
- dem Ausbau bürgerschaftlichen Engagements durch Verbesserung der Partizipation von Kindern und Jugendlichen und der Bürgerinnen und Bürger im Gemeinwesen unabhängig von Ethnie, Geschlecht, Religionszugehörigkeit und Behinderung,
- in der Stärkung der Zivilgesellschaft,
- im Ausbau der wohnortnahen außerschulischen Jugendarbeit, der politischen Jugendbildung und
- in der internationalen Jugendarbeit.
Dort wo sich rechtsextreme Strukturen bereits fest etabliert haben, wie in manchen ländlichen Räumen, sind mobile Beratung und Beratungsteams dauerhaft zu etablieren und auszubauen.
Demokratieerziehung muss ein Pflichtgegenstand in der Ausbildung der Sozialarbeitenden werden, dazu gehört auch die Demokratisierung der Ausbildung selbst.
Rechtsextremistischen, menschfeindlichen und antidemokratischen Mentalitäten und Einstellungen und deren Entstehung den Boden zu entziehen ist eine Daueraufgabe Sozialer Arbeit. Die finanzielle Sicherstellung eine dauerhafte Pflicht des Staates. Eine Politik, die sich immer nur entschließt, aus aktuellem Druck Projekte gegen Rechtsextremismus zeitlich befristet zu finanzieren, betreibt nur Symbolpolitik und ist an der Sicherung der Grundlagen unserer Demokratie nicht wirklich interessiert.
Angesichts des Entstehens rechtspopulistischer Parteien in Europa ist die Gründung eines europäischen Netzwerks von Hochschulehrer_innen und Sozialarbeiter_innen gegen Rechtsextremismus, Rechtpopulismus und Rassismus unerlässlich.
Es ist deshalb Aufgabe einer sich als kritisch verstehenden Sozialen Arbeit, aufklärerisch zu wirken und aufzudecken, wo und wie sich politische Rhetorik an der sozialen und politischen Wirklichkeit bricht.
Es fehlt der Politik und mancherorts auch der Sozialen Arbeit der konkrete Wille, den Menschenrechten radikal zum Durchbruch zu verhelfen. Das zu ändern ist seit 1925 Anliegen der Gilde Soziale Arbeit.