Die Krise schadet Familien zunehmend
Deutschland geht den Sommerferien entgegen. Das erste Halbjahr 2020 wird uns allen lange im Gedächtnis bleiben. Vor allem für Familien hat die Krise extreme Einschnitte bereitet. Dass die Schul- und Kitaschließungen nicht folgenlos bleiben würden, war den Verantwortlichen klar. Nun zeigt eine Studie der DAK Gesundheit, dass vor allem Mütter und jüngere Kinder am meisten unter den Folgen des Lockdowns zu leiden haben. Eine echte Entschleunigung ist nicht in Sicht, ob mit oder ohne Corona.
Während die kurzfristigen Auswirkungen des Lockdowns gut erkennbar sind, vor allem in Form deutlich gesunkender Covid-19-Fallzahlen, ist überhaupt noch nicht abzusehen, welche sonstigen gesundheitlichen Folgen der dramatische Einschnitt in den Alltag der Menschen haben wird. Deutschlands drittgrößte Krankenkasse, die DAK Gesundheit, hat aus diesem Grund eine repräsentative Befragung duchgeführt, mit der die aktuellen Auswirkungen der Einschränkungen auf Familien untersucht wurden. Vor dem Hintergrund der Schul- und Kitaschließungen mussten hunderttausende Familien von einem Tag auf den anderen ihren Alltag komplett umstellen.Viele Eltern, gerade Alleinerziehende, konnten aufgrund des fehlenden Betreuungsangebots gar nicht mehr arbeiten, andere mussten gleichzeitig Beruf, Beschulung der Großen und Betreuung der Kleinen organisieren, und das alles unter einem Dach.
Deutliche psychosomatische Auffälligkeiten bei Eltern und Kindern
Neben den sozialen Folgen, vor allem in Form einer dramatisch wachsenden Bildungsungleichheit, die seit Beginn der Krise deutlich thematisiert wurden, rücken nun also auch die gesundheitlichen Auswirkungen der Einschnitte in den Fokus. Die DAK Gesundheit legte in ihrer Befragung ihren Schwerpunkt insbesondere auf die Frage nach den psychischen und psychosomatischen Folgen. Die Ergebnisse: Fast fünfzig Prozent der Eltern fühlen sich „fast täglich erschöpft", etwa jede*r Dritte klagt über psychosomatische Beschwerden. Hierbei werden vor allem Schlafprobleme und Schmerzen genannt, Mütter berichten hiervon häufiger als Väter. Besonders deutlich zeigt sich der Unterschied bei der Frage, ob sich die Eltern häufig traurig fühlen, ein Indikator für mögliche Tendenzen zu Burnout oder Depressionen. Während jede vierte Mutter angibt, häufig traurig zu sein, ist dies nur bei 16% der Väter der Fall. Dies könnte an der insgesamt höheren Belastung der Mütter liegen, die bekanntlich bereits ohne Corona den Großteil der Haus- und Sorgearbeit übernommen haben.
„Man kann nicht einfach folgenlos die Schule ins Wohnzimmer holen!“
Neben den Eltern wurde immer auch jeweils ein Kind aus der Familie befragt, das allerdings mindestens 10 Jahre alt sein musste. Für die Auswertung teilen die Forscher*innen die Kinder und Jugendlichen in drei Gruppen ein (10-12 jährige, 13-15 und 16-17 jährige). Hierbei zeigte sich, dass vor allem bei den Themen Stress und Streit die jüngeren Kinder signifikant häufiger von einer zusätzlichen Belastung sprachen. Streit gaben in der jüngeren Altersgruppe 31% der befragten Kinder als Belastungsfaktor an, während dies bei den älteren (16-17 jährigen) nur bei 18% der Fall war. Dies könnte auf den größeren Unterstützungsbedarf bei schulischen Aufgaben zurückzuführen sein, wie Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der deutschen Kinder- und Jugendärzte bestätigt: „Häufiger Streit in den Familien macht uns Pädiater hellhörig. Wir sind stark auf das Kindeswohl fokussiert und erleben in unseren Praxen täglich, wie sehr gerade jüngere Kinder unter innerfamiliären Streitigkeiten leiden.“ Hierbei äußert er auch deutliche Kritik an den politischen Entscheidungen der vergangenen Wochen: „Die Studie der DAK ist in der aktuellen politischen Diskussion sehr hilfreich. Man kann nicht einfach folgenlos die Schule ins Wohnzimmer holen!“
Entschleunigung offenbar ohne positiven Effekte auf die Kinder
Prof. Dr. Reiner Hanewinkel vom Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung in Kiel zeigt sich von einem anderen Aspekt der Studie beeindruckt. So sei es aus seiner Sicht verwunderlich, dass der Ausfall der vielen Freizeitaktivitäten, denen Kinder heutzutage nachgehen, zu keinem positiven Effekt geführt habe. So sei zu erwarten gewesen, dass Kinder seltener über Beschwerden klagten: „Durch den Lockdown müssten Stressquellen, die die Schüler sonst haben, minimiert sein.", erklärt Hanewinkel. Es sei „erstaunlich, dass trotzdem relativ viele Kinder von körperlichen Beschwerden berichten." Möglicherweise fällt die ungewöhnliche Nähe zu Eltern und Geschwistern und das hieraus resultierende Streitpotential mindestens genauso stark ins Gewicht wie die Entschleunigung, die von vielen Kinder- und Jugendmediziner*innen, Therapeut*innen und Pädagog*innen in den letzten Jahren immer wieder eingefordert worden ist. Fast folgerichtig begrüßt eine breite Mehrheit der Eltern und Kinder die nun einsetzende schrittweise Wiedereröffnung der Schulen. Während knapp zwei Drittel der Kinder (63%) sich entsprechend äußern, sind es bei den Eltern 81%.
Offensichtlich ist das Bedürfnis der Eltern nach einer Rückkehr in den geregelten Vor-Corona-Alltag signifikant größer als das der Kinder. Dass Eltern im Jahr 2020 nicht mehr daran gewöhnt sind, ihre Kinder in Vollzeit zu versorgen, kann man kritisch sehen. Allerdings war die Notwendigkeit, dass nicht nur ein Elternteil arbeitet, um das notwendige Geld zu verdienen, angesichts der derzeitigen hohen Wohn- und Lebenshaltungskosten bei gleichzeitig relativ niedrigen Löhnen nie höher als heute. Wenn also das Mehrverdiener-Familienmodell als 'pathologisch' bezeichnet wird, wie dies von Seiten (rechts-)konservativer Strömungen häufig zu vernehmen ist, muss man gleichzeitig auch über finanzielle und zeitliche Entlastungsstrukturen nachdenken. Erst dann kann eine Entschleunigung für Eltern und Kinder körperlich und seelisch positive Wirkungen entfalten, gerne auch über Corona hinaus.
Sebastian Hempel