Die faszinierende Welt der Biografiearbeit
Lebensgeschichten entdecken und verstehen
Was ist Biografiearbeit? Für wen und wann ist sie geeignet, und wo werden Grundlagen und Methoden vermittelt? Der folgende Artikel gibt einen Überblick in die Vielfalt des biografischen Arbeitens.
Begegnung mit sich selbst
Biografiearbeit ist die aktive Beschäftigung mit dem eigenen Gewordensein und macht Erfahrungen der Vergangenheit nutzbar für die Gestaltung von Zukunft. Systemische Biografiearbeit versteht die persönliche Lebensgeschichte im Kontext von Familie, Gesellschaft, Weltgeschehen und mit deren Wechselwirkungen.
Orte für Biografiearbeit
Biografiearbeit kann überall dort stattfinden, wo Menschen einander begegnen. Einsatzgebiete für die professionelle Lebensbegleitung sind beispielsweise die Erwachsenenbildung, in der Altenpflege, in der Arbeit mit Kindern und Familien, in Rehakliniken, im Bereich der Selbsterfahrung und in Gemeindezentren.
Übergänge begleiten
Biografiearbeit kann als Einzelarbeit oder für Gruppensettings konzipiert werden und eignet sich insbesondere zur Begleitung von Übergängen, wenn das Gewohnte sich verändert oder wenn eine Veränderung in Gang gesetzt werden soll.
Erwachsene kommen oft mit dem Anliegen, entwicklungsbehindernde Muster zu erkennen und diese aufzulösen. In der Biografiearbeit mit Kindern kann der Wechsel von Kita zur Schule, die Geburt eines Geschwisterkindes oder die Trennung der Eltern thematisiert werden. Wenn aus Kindern Jugendliche und schließlich Erwachsene werden, können sowohl Angebote für die jungen Menschen konzipiert werden als auch für die Eltern, die ja nun ebenfalls herausgefordert sind, sich einer neuen Lebensphase zuzuwenden. In der Altenpflege und wenn Themen wie Krankheit oder Tod im Raum stehen, kann kreative Biografiearbeit zum Ausdruck von Gedanken, Gefühlen, Sorgen und Wünschen hilfreich eingesetzt werden.
Biografiearbeit kann ankern, auch schmerzhaften Erfahrungen einen Platz geben, ungeliebte Anteile integrieren und macht frei für das, was kommt. Für Menschen, deren Leben bald zu Ende geht, kann es wohltuend sein, wenn ein Gegenüber da ist, dem die eigene Geschichte erzählt werden kann. Doch nicht jeder Mensch möchte sich erinnern und Widerstände wollen sensibel wahrgenommen und respektiert werden.
Voraussetzungen für die Praxis
Wer andere zur Beschäftigung mit den Themen des Lebens einladen möchte, sollte sich mit der eigenen privaten und beruflichen Geschichte auseinandergesetzt haben, für neue Erkenntnisse offen und sich der eigenen Grenzen bewusst sein. Im gemeinsamen Tun kann die begleitende Person mit eigenen Lebensthemen konfrontiert werden, die gesehen und bearbeitet werden wollen.
Je nach Ausbildung, Berufserfahrung und Projektvorhaben ist die Unterstützung der Fachkraft, zum Beispiel durch Supervision in angemessener Form zu gewährleisten. Biografiearbeit ist wertschätzend und ressourcenorientiert und kann nur freiwillig gelingen. Wer Biografiearbeit anbietet, sollte Methoden und Übungen, die zur Anwendung gebracht werden sollen, in Selbsterfahrung erprobt haben.
Der große Vorteil von Biografiearbeit liegt im Zugewinn an Selbstkenntnis. Risiken bestehen, wenn sie falsch angewendet wird, wenn die Fachkraft beispielsweise die Wahrheit der biografisierenden Person nicht respektiert, durch intensive und bohrende Fragen eine Dynamik auslöst, die sie nicht auffangen kann, im Vorfeld nicht kommuniziert wurde, wie mit Geheimnissen umgegangen wird oder das Leben des Gegenübers nach eigenen Maßstäben beurteilt.
Material und Methoden
Bei Projekten, in denen Menschen verschiedener Herkunftsländer oder Generationen aufeinandertreffen, sollte die Fachkraft sich Wissen über politische, gesellschaftliche und kulturelle Gegebenheiten aneignen, um dem, was ihr fremd ist, mit einem besseren Verständnis begegnen zu können. Als Material für die gemeinsame Arbeit bieten sich beispielsweise Landkarten, offizielle Dokumente, Symbole, Kochrezepte, persönliche Gegenstände, Zeitungsartikel an.
Die Arbeit mit dem Zeitstrahl kann in kreativer Abwandlung die persönliche(n) Lebensgeschichte(n) mit Zeitgeschichte in Verbindung setzen. Der Baum als Symbol für Lebenskraft und Wachstum kann beispielsweise als Lebensbaum oder Familienbaum angelegt und gestaltet werden.
Die Biografiearbeit nutzt alle Sinne. Nicht nur in der aktivierenden Pflege und in der Arbeit mit an Demenz erkrankten Menschen können durch Musik, Gerüche, Speisen, Fotos, Bilderalben, Literatur Erinnerungen geweckt werden. Gleichzeitig wird der Zugang zur fremden Lebensgeschichte für die begleitende Person auf vielfältige Weise möglich.
Je nach Kontext, Zielgruppe und Anliegen des oder der Biografisierenden ist die Fokussierung auf Wohnbiografie, Berufsbiografie, Suchtbiografie oder Gesundheitsbiografie denkbar. In der Arbeit mit Einzelnen, Familien oder Gruppen können Lebensbücher, Erinnerungsbücher, Erzählmemorys und vieles andere entstehen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Biografiearbeit lernen
Die meisten systemischen Ausbildungsinstitute bieten Fachveranstaltungen für Biografiearbeit an. Zur Auswahl stehen Schnupperworkshops, Intensivseminare sowie die einjährige Weiterbildung mit Zertifizierung zur Mentorin/zum Mentor für Biografiearbeit. Neben der Vermittlung theoretischer Grundlagen können hier verschiedene Methoden in Selbsterfahrung geübt werden. Die Veranstaltungen richten sich i.d.R. an Fachkräfte, die sich beruflich mit Lebensgeschichten von Menschen beschäftigen, einige sind offen für Interessierte, die sich ganz privat mit ihrer eigenen Biografie oder Familiengeschichte auseinandersetzen wollen.
Zusammenfassung und Ausblick
Die Biografiearbeit ist vielfältig und bunt. Zur Anwendung kann auf einen umfassenden Methodenpool zugegriffen werden. Im konkreten Vorhaben sind ein geschützter Rahmen, Vertraulichkeit und eine wertschätzende Grundhaltung erforderlich. Darüber hinaus sollten Angebot und Methoden dem jeweiligen Tätigkeitsfeld entsprechend sowie den Anliegen und Möglichkeiten der Nutzer und Nutzerinnen angepasst sein.
Menschen, die mit Menschen arbeiten, sind immer wieder aufgefordert, ihr professionelles Handeln zu reflektieren. Die Biografiearbeit als Selbsterfahrung sollte in der Aus- und Weiterbildung für die Soziale Arbeit, Erziehung und therapeutische Tätigkeitsfelder fest verankert sein. Hier ist noch viel Entwicklungspotenzial.
Literaturempfehlung
Gudjons, Wagener-Gudjons, Pieper, 2020. Auf meinen Spuren - Übungen zur Biografiearbeit. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-1600-7
Röhrbein, Ansgar, 2019. Und das ist noch nicht alles - Systemische Biografiearbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH. ISBN 978-3-8497-0266-3
Schindler, Herta, 2022. Sich selbst beheimaten – Grundlagen systemsicher Biografiearbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN 978-3-525-46279-9