Symbolbild: Verkehrsschild
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Tetralemma: Mit der Strukturaufstellung Blockaden lösen und Entscheidungen finden

von Gesine Köster-Ries
18.06.2024 | Dossier

Die Aufstellung eines Tetralemmas ist eine innovative Methode, die auch in der systemischen Beratung und Therapie Anwendung findet. Sie bietet eine strukturierte Möglichkeit, komplexe Probleme und Konflikte aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und zu lösen. Durch die Erweiterung der traditionellen dichotomen Lösungsansätze ermöglicht das Tetralemma Einsichten und kreative Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen und ein bestehendes Dilemma aufzulösen.

Inhalt
  1. Ursprung und Grundprinzipien des Tetralemmas
  2. Ein konkretes Beispiel zur Veranschaulichung der Positionen
  3. Wie wirkt die Anwendung in der systemischen Beratung und Therapie?
  4. Wann lässt sich das Tetralemma gut anwenden?
  5. Schritt-für-Schritt-Anleitung
  6. Vor- und Nachteile des Tetralemmas
  7. Die wichtigsten Tipps zur Anwendung des Tetralemmas

Ursprung und Grundprinzipien des Tetralemmas

Das Tetralemma ist eine Methode aus der indischen Logik und Philosophie, die von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd in die systemische Aufstellungsarbeit integriert wurde. Es bietet eine strukturierte Vorgehensweise, um komplexe Probleme und Konflikte aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und neue Lösungswege zu finden. Das klassische Tetralemma umfasst vier Positionen:

  1. These (A): Ein erster Standpunkt oder eine erste Möglichkeit.
  2. Antithese (B): Eine gegenteilige oder alternative Möglichkeit.
  3. Beides (A und B): Eine Position, die beide vorangegangenen Möglichkeiten vereint.
  4. Keines von beidem (Weder A noch B): Eine Position, die weder die erste noch die zweite Möglichkeit umfasst und eine neue, unkonventionelle Lösung darstellt.

Ein konkretes Beispiel zur Veranschaulichung der Positionen

Problemstellung: Ein 57-jähriger Klient steht vor der Entscheidung, ob er seine aktuelle Arbeitsstelle verlassen und eine neue Stelle annehmen soll. Es scheint ihm, dass er in seinem Dilemma nur zwischen zwei Optionen entscheiden kann:

  1. Das Eine (A): Der Klient bleibt in der aktuellen Arbeitsstelle.
  2. Das Andere (B): Der Klient nimmt die neue Stelle an.

Doch die Aufstellung in seinem systemischen Coaching zeigt ihm, dass es noch weitere Möglichkeiten gibt, zu einer Entscheidungsfindung zu kommen, die er vorher gar nicht bedacht hat. Die Aufstellung ermöglicht es ihm erst einmal, sich emotional und gedanklich tief in die einzelnen Optionen hineinzuversetzen, wo er zuvor immer hin- und hergesprungen ist. Seine Gefühle lassen sich nun klar verorten: (A) Seine aktuelle Stelle bietet ihm zwar finanzielle Sicherheit und er kann seine Expertise nutzen, aber sie langweilt ihn nach all den Jahren, da er sich nicht mehr weiterentwickeln kann. (B) Bei der neuen Stelle, die ihm eine Freundin vermittelt, würde er sich mehr ausprobieren können, aber er hat auch Sorge, ob er der Herausforderung überhaupt gewachsen ist. Was, wenn er merkt, dass es nicht passt – findet er dann noch eine andere so gut bezahlte Stelle für die Jahre bis zur Rente?

  1. Beides (A und B): Der Klient behält seine aktuelle Stelle, übernimmt jedoch parallel Projekte oder Aufgaben aus der neuen Position, um beides auszuprobieren.
  2. Keines von beidem (Weder A noch B): Der Klient entscheidet sich für eine komplett andere berufliche (Aus-)Richtung, z.B. eine Weiterbildung oder er geht in die Selbstständigkeit und nutzt seine zahlreichen Kontakte.

Durch die Betrachtung dieser vier Positionen kann der Klient seine Entscheidung aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten und weitere Möglichkeiten erkennen. Er bricht aus dem hin und her seiner Ambivalenz aus und erkennt, dass es mehr Optionen gibt, als die zwei, von denen er ausging.

Wie wirkt die Anwendung in der systemischen Beratung und Therapie?

Die systemische Strukturaufstellung des Tetralemmas wirkt auf mehreren Ebenen und fördert sowohl kognitive als auch emotionale Prozesse, die zu neuen Einsichten und Lösungen sowie zur Entscheidungsfindung in einem vermeintlichen Dilemma führen können:

  • Erweiterung der Perspektiven: Durch die strukturierte Betrachtung mehrerer Positionen ermöglicht das Tetralemma den Klient:innen, ihre Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen. Dies hilft, festgefahrene Denk- und Verhaltensmuster zu durchbrechen und eröffnet neue Lösungswege.
  • Kognitive Flexibilität: Indem Klient:innen verschiedene Möglichkeiten (These, Antithese, Beides, Keines von beidem) explorieren, fördert die Methode die kognitive Flexibilität. Klient:innen lernen, alternative Sichtweisen zu akzeptieren und in ihre Überlegungen einzubeziehen, was ihre Problemlösungsfähigkeiten stärkt.
  • Emotionale Klärung: Die Aufstellung der verschiedenen Positionen und deren Reflexion hilft den Klient:innen, ihre emotionalen Reaktionen auf die jeweiligen Möglichkeiten zu erkennen und zu verstehen. Durch die physische Basis einer Aufstellung fällt es vielen Klient:innen leichter, emotionale Reaktionen körperlich zu verorten und wahrzunehmen. Dies fördert die emotionale Klärung und kann zu einer Entlastung und besseren emotionalen Balance beitragen.
  • Erkenntnisprozesse: Durch die methodische Herangehensweise des Tetralemmas werden implizite Überzeugungen und Annahmen explizit gemacht. Durch die Räumlichkeit und Bewegung innerhalb der Aufstellung werden intuitive Reaktionen sichtbar. Klient:innen gewinnen Einsichten in ihre eigenen Denkmuster und können versteckte Zusammenhänge und Dynamiken erkennen.
  • Integration von Gegensätzen: Eine zentrale Wirkweise des Tetralemmas ist die Möglichkeit, Gegensätze zu integrieren. Indem Klient:innen Positionen wie „Beides“ (These und Antithese) oder „Keines von beidem“ betrachten, können sie hybride oder völlig neue Lösungsansätze entwickeln, die vorher unberücksichtigt blieben.
  • Körperliche und räumliche Verankerung: Die physische Aufstellung der Positionen im Raum kann die Reflexion und das Verständnis der verschiedenen Möglichkeiten unterstützen. Durch die körperliche Bewegung und das Einnehmen der verschiedenen Positionen wird die Erfahrung intensiviert und das Lernen verankert.
  • Kommunikation und Austausch: In einem therapeutischen oder beratenden Setting fördert das Tetralemma den Austausch zwischen Klient:innen und Berater:in. Die Methode schafft Raum für Dialog und Reflexion, was zu einer vertieften Kommunikation und einem besseren Verständnis der jeweiligen Perspektiven führt.

Durch diese vielschichtigen Wirkmechanismen unterstützt die Strukturaufstellung des Tetralemmas Klient:innen dabei, komplexe Probleme und Konflikte aufzulösen und kreative, nachhaltige Lösungen zu finden.

Wann lässt sich das Tetralemma gut anwenden?

In dem obigen Beispiel erläutere ich die Anwendung der Aufstellung anhand eines inneren Konfliktes einer einzelnen Person. Gerade in diesen Situationen, wenn sich eine ambivalente Person bei der Findung einer Entscheidung im Kreis zu drehen scheint, hilft die räumliche Visualisierung durch das Tetralemma, dem anhaltenden Prozess des Entweder-Oder zu entkommen.

Die Anwendung des Tetralemmas eignet sich aber auch bei verschiedenen Arten von Konflikten und Entscheidungsprozessen innerhalb von Gruppen. Im Arbeitsumfeld kann es im Team bei Unstimmigkeiten zwischen Kolleg:innen oder zwischen Mitarbeiter:innen und Vorgesetzten helfen, verschiedene Perspektiven zu verstehen und kreative Lösungen zu finden. In Beziehungskonflikten unterstützt das Tetralemma Paare oder Familienmitglieder dabei, ihre unterschiedlichen Sichtweisen und Bedürfnisse zu klären und gemeinsame Lösungen zu erarbeiten. Auch bei wichtigen Entscheidungen, sei es beruflich oder privat, hilft das Tetralemma, alle möglichen Optionen und deren Kombinationen zu berücksichtigen. Darüber hinaus fördert es die persönliche Entwicklung, indem es Klient:innen ermöglicht, ihre Ziele und Wünsche zu reflektieren und neue Wege zur persönlichen Weiterentwicklung zu finden.


 

Schritt-für-Schritt-Anleitung

Die Anwendung des Tetralemmas erfordert eine sorgfältige Planung und Moderation, um die verschiedenen Perspektiven und Dynamiken zu integrieren. Hier ist eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie die Methode effektiv angewendet werden kann:

1. Vorbereitung

Zunächst sollten Sie das Thema oder die Fragestellung klar definieren, die die Person oder  bearbeiten möchte. Bei Gruppen ist es wichtig, dass alle Teilnehmer:innen das Thema verstehen und sich darauf einigen.

2. Einführung des Tetralemmas

Erklären Sie die Grundprinzipien des Tetralemmas und die vier Positionen: These, Antithese, Beides, und Keines von beidem. Es kann hilfreich sein, Beispiele zu geben, um das Konzept zu verdeutlichen. Gerade bei Personen, die mit der systemischen Arbeitsweise nicht vertraut sind, ist es immer ratsam, die Methoden, insbesondere Aufstellungen zu erklären, um Verunsicherungen entgegenzuwirken.

3. Aufstellung der Positionen

Im Raum werden vier markierte Plätze für die Positionen des Tetralemmas eingerichtet. Jeder Platz repräsentiert eine der vier Möglichkeiten. Wenn es eine klare Ambivalenz gibt, werden die ersten beiden Positionen mit den sich widersprechenden Optionen besetzt, die weiteren bleiben offen und werden mit „beides“ und „weder-noch“ beschrieben.

4. Erkundung der Positionen

Die Einzelperson oder Teilnehmer:innen werden eingeladen, sich nacheinander auf die verschiedenen Positionen zu stellen und ihre Perspektiven zu äußern. Bei Gruppen sollten alle die Möglichkeit haben, zu jeder Position ihre Gedanken und Gefühle zu teilen.

In manchen Situationen, besonders wenn sich die Spannung des Konflikts durch die Aufstellung der ersten vier Positionen nicht lösen lässt, lohnt es sich zu einem späteren Zeitpunkt noch eine weitere 5. Position etwas entfernt außerhalb der Aufstellung der vier Grundpositionen hinzuzufügen. Diese kann z.B. mit „All das nicht und das hier auch nicht“ betitelt werden und lädt ein, sich emotional und gedanklich noch weiter aus dem Konfliktfeld zu entfernen. In solch eine Situation versetzt, kommen den Klient:innen manchmal Themen in den Sinn, die mit dem Grundthema der Aufstellung nur noch indirekt verbunden sind, aber für die Lösung oder Auflockerung des Konflikts relevant sein können.

5. Diskussion und Reflexion

Nach der Erkundung der einzelnen Positionen wird die Person oder Gruppe eingeladen, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse zu teilen. Als Berater:in moderieren Sie die Diskussion und unterstützen die Teilnehmer:innen dabei, ihre Gefühle und Gedanken zu ordnen und tiefere Einsichten zu gewinnen.

6. Integration der Erkenntnisse

Fassen Sie die gewonnenen Einsichten gemeinsam mit ihren Klient:innen zusammen und betten diese in den Kontext der ursprünglichen Fragestellung ein. Die Einzelperson überlegt bzw. die Gruppe diskutiert, wie die neuen Perspektiven in konkrete Handlungsschritte umgesetzt werden können.

7. Abschluss

Der Prozess wird mit einer Reflexionsrunde abgeschlossen. Sorgen Sie bei Gruppen dafür, dass alle Stimmen gehört werden und die Klient:innen mit einem klaren Verständnis der nächsten Schritte die Situation verlassen.


 

Vor- und Nachteile des Tetralemmas

Die Anwendung des Tetralemmas bietet zahlreiche Vorteile. Es ermöglicht eine erweiterte Perspektive auf Probleme und fördert die Entwicklung kreativer Lösungen. Klient:innen lernen, flexibler und offener im Denken zu werden, was ihnen hilft, tiefere Einsichten in ihre Situation und ihre Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen.

Allerdings gibt es auch Nachteile zu beachten. Die Methode kann für manche Klient:innen zunächst komplex und verwirrend wirken, und die ausführliche Betrachtung und Reflexion der verschiedenen Positionen erfordert Zeit und Geduld. Zudem erfordert die erfolgreiche Anwendung des Tetralemmas von professionell Helfenden Erfahrung und ein tiefes Verständnis der Methode. Trotz dieser Herausforderungen bietet das Tetralemma eine wertvolle Erweiterung traditioneller Methoden in der systemischen Beratung und Therapie.

Die wichtigsten Tipps zur Anwendung des Tetralemmas

Bereiten Sie sich darauf vor, dass der Prozess emotional intensiv sein kann. Eine klare und einfühlsame Moderation ist entscheidend, um sicherzustellen, dass alle Teilnehmer:innen gehört werden und der Prozess strukturiert verläuft. Es ist wichtig, dass Sie in der Moderationsrolle den Ablauf und die Grundprinzipien des Tetralemmas zu Beginn deutlich erklären und während des gesamten Prozesses als unterstützende und leitende Instanz fungieren. Wenn es aufgrund der Komplexität einer Situation zu einem längeren Prozess kommen sollte, wählen Sie Zeitpunkte für eine Pause mit Bedacht: In manchen Momenten ist eine Unterbrechung sogar hilfreich, in anderen könnte sie den Prozess stören. Achten Sie auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden und Transparenz in Ihren moderativen Entscheidungen. Ermutigen Sie die Teilnehmer:innen zu offener und respektvoller Kommunikation, um einen sicheren Raum für den Austausch von Gedanken und Gefühlen zu schaffen. Dies fördert ein vertrauensvolles Klima, in dem alle ihre Perspektive ohne Angst vor Bewertungen oder Konflikten äußern können.

Flexibilität ist ein weiterer wichtiger Aspekt: Sie sollten in der Lage sein, den Prozess an die Dynamik und die spezifischen Bedürfnisse der der Beteiligten anzupassen. Dies kann bedeuten, dass man mehr Zeit für bestimmte Positionen einräumt oder zusätzliche Reflexionsrunden einfügt, um sicherzustellen, dass es ausreichend Gelegenheit gibt, Gedanken und Gefühle auszudrücken.

Die Verwendung von visuellen Hilfsmitteln kann ebenfalls sehr hilfreich sein. Bodenmarkierungen, Karten oder andere Visualisierungen können dazu beitragen, die Positionen des Tetralemmas deutlich zu kennzeichnen und den Teilnehmer:innen zu helfen, sich besser in die verschiedenen Perspektiven hineinzuversetzen. Dies erleichtert nicht nur das Verständnis der Methode, sondern unterstützt auch die körperliche und emotionale Verankerung der unterschiedlichen Positionen.

Nehmen Sie sich ausreichend Zeit für jede Phase des Prozesses. Die ausführliche Erkundung und Reflexion der verschiedenen Positionen erfordert Geduld und sollte nicht überstürzt werden. Es ist in Gruppen z.B. sehr wichtig, dass alle Teilnehmenden die Möglichkeit haben, ihre Sichtweise umfassend darzulegen und die Perspektiven der anderen zu verstehen.