Ein Gruß ist ein Gruß ist ein Gruß ist ein Gruß

von Dr. Jos Schnurer
18.04.2020

Sich grüßen gilt als Form der Kommunikation. Es sind Gesten, die sich kulturell entwickelt haben. Und es sind Gebärden und Gewohnheiten, die Gefühle und Gesinnungen ausdrücken. Eine Reflexion in den Zeiten der Covid-19-Pandemie

Bild anklicken zum Vergrößern

Der Gruß in den verschiedenen Darstellungsformen, als Ansprache, Handdruck, Verbeugung, Umarmung, Wangenkuss, ist verbunden mit rationalen und emotionalen Einstellungen, die sich aus individuellen und kollektiven Situationen ergeben. Eine Umarmung etwa kann in der einen Begegnung ein intimer Ausdruck der Verwandtschaft und Freundschaft, in der anderen eine alltägliche Geste der Begrüßung, auch von Fremden, sein. Bedeutsam sind kulturelle und mentale Gewohnheiten, die sich zu meist selten aktiv bewussten und reflektierten Gesten und Verhaltensweisen entwickelt haben.

Als eines der kennzeichnenden Merkmal des Grüßens gilt, wie die sich Begegnenden die körperlichen und haptischen Formen von Nähe und Distanz praktizieren. Die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme  vom Center for Social and Affective Neuroscience in Linköping geht davon aus, dass „Human Touch“ nicht nur positive seelische und soziale, sondern auch gesundheitliche Wirkungen hat[i]. Diese, unter Beachtung des durchaus auch vorhandenen Missbrauchs von Nähe, etwa in der Pädophilie und Gewalt, hat beim (Be-)Grüßen einen hohen Stellenwert. Er wird eingeschränkt und sogar verhindert in Zeiten von Ausgangs- und Kontaktsperren, wie sie etwa bei lokalen und globalen Seuchen und Pandemien verordnet werden. Im gesellschaftlichen und pädagogischen Diskurs wird deshalb eine besondere Aufmerksamkeit auf das Spannungsfeld von Nähe und Distanz gerichtet[ii]. Es sind die positiven wie negativen Veränderungsprozesse, wie sie durch die sich immer interdependenter, entgrenzter und globaler Entwicklung ergeben, durch Informationen, tatsächliche und virtuelle interkulturelle Begegnungen ergeben und durch Sprichwörter und Mentalitäten weitergegeben werden[iii].

Ruhe und Unruhe als Lebenslehre

Der Soziologe Hartmut Rosa kritisiert die in den Zeiten des Momentanismus, des Egozentrismus und Populismus auftretenden Entwicklungen des „Ich-will-alles-(für-mich)-und-das-Sofort-Denkens“ und plädiert für lokal- und global-individuelles und kollektives Denken und Tun, das sich in den Lebenswerten Gelassenheit, Bedenklichkeit, Für- und Vorsorge, Verantwortlichkeit, Aufmerksamkeit, Zufriedenheit und Empathie ausdrückt: „Dem Fortschritt der Moderne wohnt eine Verschleiß-Unruhe inne, während die Vergangenheit zunehmend entwertet und die Zukunft ihrer Substanz beraubt wird[iv]. Bei der Diskussion darüber, ob und ggf. was die Menschen aus der globalen Corona-Epidemie, wenn sie vorbei ist, gelernt haben werden und wie sie sich an den Appell der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ von 1995[v]  erinnern - „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ -  keimt die Hoffnung auf, dass es eines lokalen und globalen Perspektivenwechsels geben möge[vi].

Crashed

Krisen, ob ökonomische, ökologische, kulturelle oder existentielle, begegnet der Mensch grundsätzlich in zweierlei Hinsicht: Die eine drückt sich aus in dem Phlegma, der Bequemlichkeit, Täuschung und Vergesslichkeit, dass das Unangenehme vorbei sei und Gegenwärtiges und Künftiges nur besser werden könne – ob mit oder ohne eigenes Zutun – und die andere in der Erkenntnis, dass Entwicklungen hin zum Guten[vii] nur mit eigener, aktiver Beteiligung möglich sind. In Krisenzeiten, wie der Corona-Krise, werden nicht selten vergangene, historische Zustände bemüht, wie etwa die mittelalterlichen und neuzeitlichen Seuchen, und nach Parallelen oder Unterschieden gesucht. Mit der Aufforderung, z. B.: „Camus lesen“, wird aufgefordert, philosophisch das „Absurde“ zu denken und sich bewusst zu werden, dass das menschliche Streben nach Sinn in einer sinnleeren Welt notwendigerweise vergeblich, aber nicht ohne Hoffnung bleiben muss“[viii]. Der Historiker und Volkswirtschaftler Adam Tooze nimmt sich mit seiner Studie „Crashed“ die Situationen vor, die 2008 zur globalen Finanzkrise geführt haben. Anhand von zahlreichen Belegen aus den Entwicklungen in den USA, in Europa und anderen Teilen der Welt zeigt er Veränderungen und Bewältigungsstrategien auf und verweist auf politische Entwicklungen wie Kapitalismus- und Populismusgläubigkeit, die verändert werden müssen. Es sind Parallelen, die sich durch die Bewältigung der Covid-19-Pandemie ergeben: „Nichts ist heute mehr so, wie es vor der Finanzkrise war“. Es gilt zu verstehen, wie die Menschheitskrisen entstanden sind, um sich gegen zukünftige Krisen wappnen zu können[ix].

Profit und Unverstand

Die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Ute Scheub plädierte am 27.3.in der taz für einen „Neustart Deutschland“. Sie nimmt die zunehmenden Fragen auf, wie die Menschen nach dem Ende der Corona-Krise weiterleben wollen: „Weiter wie bisher“, oder mit dem Vorsatz: „Mit dem menschen- und planetenfeindlichen Wirtschaften aufzuhören und eine wahre Solidargemeinschaft zwischen Menschen und Natur zu gründen“. Es sind die zahlreicher werdenden Kritiken am weltumspannenden, scheinbar urwüchsigen und unzerstörbaren kapitalistischen Denken und Handeln[x]. Und es sind die Appelle, dass sich die Menschheit darauf besinnen möge, dass die unteilbare und nicht relativierbare Menschenwürde es ist, die die conditio humana ausmacht und gelebt werden muss. Der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar betont mit Rückgriff auf den bengalischen Dichter und Philosophen Rabindranath Tagore (1861 – 1941), dass Mitgefühl als ethische Haltung die höchste Manifestation der menschlichen Seele darstellt[xi]. Der Darmstädter Philosoph Friedrich Voßkühler zeigt in seinen Reflexionen über den „revolutionären Humanismus“ auf, dass „Liebe… als die Grund gebende Weise der Zwischenmenschlichkeit zu begreifen, als das Grund gebende Zwischen-den-Menschen-Sein“ zu verstehen ist[xii]. So ist Nächstenliebe Menschenliebe, und die Zusammenführung des Selbst- und Weltdenkens und -handelns[xiii].

Anerkennung und Unterscheidung

Kein Mensch ist bloß Mittel, sondern grundlegend Selbst und Eigen. Der anthrôpos, das mit Vernunft begabte menschliche Lebewesen, ist fähig und in der Lage, Selbstbewusstsein zu entwickeln. Diese bereits aus der anthropologischen, aristotelischen Philosophie herleitbare Kompetenz wird verbunden mit der Erkenntnis Hegels, wenn dieser in der „Phänomenologie des Geistes“ (1807) erklärt, dass sich das Individuum seines Selbstbewusstseins nur durch die Anerkennung des anderen Selbstbewusstseins, von dem es selbst anerkannt und bestätigt wird, bewusst sein kann. In der Anerkennungsforschung werden insbesondere Fragen der „Anerkennung von Differenz“ thematisiert. Sie sind eingebunden und verbunden mit den individuellen, lokal- und globalgesellschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Aspekten, wie: Diversität – Geschlecht – Weltanschauung – Behinderung – Alter – sexuelle Orientierung. Die ethischen Zugangsweisen vermitteln sich durch rationales und emotionales Bewusstsein und Wertvorstellungen wie etwa: Verantwortung, Vertrauen, Zuversicht, Selbstbewusstsein, Menschenliebe. Die Literaturwissenschaftlerinnen Christine Kanz und Ulrike Stamm legen einen Sammelband vor, in dem der wissenschaftliche Diskurs zu den differenzierten Aspekten der Diversitätsforschung thematisiert wird. Die Werte und Einstellungen, wie sie sich in interpersonellen und interkulturellen Prozessen vollziehen und als ergänzende und kontroverse Vorstellungen und Verhaltensweisen, als Erkennung, Anerkennung und Aberkennung darstellen, zeigen sich als anthropologische, psychologische, ethische – und in unserem Fall – literarische Grundlagen für ein friedliches, gleichberechtigtes und gerechtes Zusammenleben der Menschheit[xiv].

Die neuen Wirs

Der Versuch, die Geste des Grüßens mehr als eine Floskel und Gewohnheit zu verstehen, und das Nachdenken darüber, wenn Grußformen und Kontakterfahrungen durch Imponderabilien und Krisen in Unordnung geraten, in Frage gestellt und sogar verboten werden, sollte nicht in Verzweiflung, Angst und Resignation enden, sondern Gelegenheiten schaffen, Alternativen erproben und Perspektivenwechsel vollziehen. Es wäre zu wünschen, dass neue Sozialrevolutionen entstehen[xv].



[i] Rebecca Böhme, Human Touch. Warum körperliche Nähe so wichtig ist. Erkenntnisse aus Medizin und Hirnforschung, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25261.php

[ii] Margret Dörr, Hrsg., Nähe und Distanz. Ein Spannungsfeld pädagogischer Professionalität, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26070.php

[iii] Jos Schnurer, Vor einem Affenhaus schlägt man keine Purzelbäume. Sprichwörter als Zugang zum Verständnis von afrikanischen Kulturen, in: Eine Welt in der Schule, 12/1994, S. 16 - 22

[iv] Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25302.php

[v] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, 2., erweit. Ausgabe, Bonn 1997, S. 18

[vi] Elisabeth von Thadden, Die berührungslose Gesellschaft, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25766.php; sowie: Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/...php  

[vii] Max Fuchs, Das gute Leben in einer wohlgeordneten Gesellschaft. Bildung zwischen Kultur und Politik, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26614.php

[viii] Albert Camus, 1913 – 2060, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Camus; vgl. auch: Ralf Lutz, Sinnvergessenheit in der Professionalisierung? Ein empirischer Vergleich zweier Theoriekonzepte, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26075.php

[ix] Adam Tooze, Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24965.php

[x] Joseph Stiglitz, Der Preis des Profits. Wir müssen den Kapitalismus vor sich selbst schützen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26587.php 

[xi] Sudhir Sakar, Was ist menschlich? In: DIE ZEIT, Nr. 16 vom 8. 4. 2020, S. 49; sowie: Sudhir Kakar, Die Seele der Anderen. Mein Leben zwischen Indien und dem Westen, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14535,php

[xii] Friedrich Voßkühler, Ich – Du – Wir. Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit?, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23740.php

[xiii] Werner Vogd, Selbst- und Weltverhältnisse. Leiblichkeit, Polykontextualität und implizite Ethik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24084.php

[xiv] Christine Kanz / Ulrike Stamm, Hrsg., Anerkennung und Diversität, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25033.php 

[xv] Börries Hornemann / Armin Steuernagel, Hg., Sozialrevolution! 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22517.php