AWO: "An 600 000 arbeitslosen Jugendlichen darf nicht gespart werden"

ISS-Fachtag fordert: Statt Kürzen endlich effiziente Konzepte für den Übergang Schule-Beruf

"Die Sparbeschlüsse der Bundesregierung für den Arbeitsmarkt sind unrealistisch und kontraproduktiv", kritisiert der AWO Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler. Das gilt insbesondere für die dringend notwendige Qualifizierung und Vermittlung von mehr als 600 000 arbeitslosen Jungen Erwachsenen. "Wer an diesen jungen Menschen spart, raubt ihnen nicht nur Lebenschancen, sondern bürdet unserer Gesellschaft insgesamt hohe Folgekosten auf", betont Stadler. Nach wie vor verlassen jedes Jahr mehr als 70 000 junge Erwachsene die Schule ohne Abschluss und sind damit auf dem Arbeitsmarkt praktisch chancenlos. "Es ist ein Skandal, dass wir das zulassen", sagt der AWO Bundesvorsitzende. Stadler fordert längst überfällige Korrekturen des höchst selektiven Bildungssystems und den Einsatz effizienter Konzepte für den Übergang Schule und Beruf. Wie das gehen kann, zeigte ein Fachtag des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) in Frankfurt/Main. Unter dem Titel "Zerrieben zwischen Paragraphen - Jugendliche an der Schnittstelle der Sozialgesetzbücher"zeigte ISS-Expertin Claudia Schreier grundlegende Schwachstellen des Systems auf:
  • Rund 307 000 arbeitslose und meist unausgebildete junge Leute unter 25 Jahren fallen derzeit unter die Bestimmungen des Sozialgesetzbuches (SGB) III und haben damit die lokale Arbeitsagentur bzw. die Berufsberatung als Ansprechpartner.
  • Weitere 310 000 Jugendliche, die oft nicht mal einen Schulabschluss haben, fallen unter das verschärfte SGB II - und zwar allein deshalb, weil schon ihre Eltern langzeitarbeitslos sind und Hartz IV beziehen.
"Das ist eine Art Sippenhaft und bedeutet eine stigmatisierende Ungleichbehandlung junger Menschen", kritisiert Claudia Schreier. Denn ausgerechnet die ohnehin benachteiligten Kinder von Langzeitarbeitslosen müssen die größten Zugeständnisse an ihren Berufswunsch machen. So hat die Ausbildung im SGB II keine Priorität und sogenannte 1-Euro-Jobs sind die häufigste Vermittlungsform. Dabei sind im SGB II fast drei Mal so viele Jugendliche ohne Schulabschluss wie im besser ausgestatteten SGB III. "Das heißt, die schwierigste Klientel bekommt die geringste Förderung", krisitiert Claudia Schreier. Zudem greifen Sanktionen im SGB II noch schneller und schärfer. Das treibt völlig aussichtlose Jugendlich zu oft in Obdachlosigkeit, Verschuldung, Drogen, Kriminalität und eine abgehängte Parallelwelt. Fazit: "Dieses System ist eine Förderung der Benachteiligung, statt eine Benachteiligtenförderung." "Die Gefahr, dass Sozialhilfe erblich wird, ist groß", betonte auch die Abteilungsleiterin im Leipziger Jugendamt, Dr. Heike Förster. Von "Hilfe aus einer Hand" könne für Jugendliche keine Rede sein, kritisierten die Experten des ISS-Fachtags. Viel zu viele junge Leute werden von Maßnahme zu Maßnahme geschickt, stolpern von Berater zu Berater, und kommen doch nie auf dem Arbeitsmarkt an, oder sie gehen ganz verloren, ausgegrenzt und chancenlos, lebenslang auf Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen. "Die rechtlichen Möglichkeiten, nachholende Schulabschlüsse zu fördern, sind inzwischen sehr begrenzt und beispielsweise in Leipzig nahezu ausgeschlossen", kritisierte Jugendamtsleiterin Förster. Zudem gäbe es einen großen Bedarf an vereinfachten Ausbildungsgängen und der Entwicklung leicht zugänglicher Qualifizierungsmaßnahmen - doch die Ausschreibungs- und Vergabepraxis schließt Freie Träger zunehmend aus, entsprechende Föderangebote zu entwickeln. Ganz wichtig ist auch die Frage: "Wie motivieren wir Betriebe, benachteiligten Jugendlichen eine Chance zu geben?" Auch aus Unwissenheit über mögliche Förderungen ziehen etwa in Leipzig Unternehmen offene Ausbildungsplätze eher zurück, als sie an schwierige Jugendliche zu vergeben, erläuterte Heike Förster. Alle Experten des ISS-Fachtags kritisierten die Unübersichtlichkeit des Systems zur Berufsvorbereitung und Ausbildungsförderung. Die Kooperation all der Akteure am Übergang Schule-Beruf müsse dringend verbessert werden. Die Jugendlichen müssten eine Anlaufstelle haben, wo die Träger unter einem Dach arbeiten, forderte Tina Hofmann, Expertin beim Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit. Insbesondere wurde die mangelnde Vernetzung mit der Jugendsozialarbeit beklagt, die nach SGB VIII die Persönlichkeitsentwicklung benachteiligter Jugendlicher fördern soll, was konkret häufig bedeutet: Aufstehen, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, gutes Benehmen und bisweilen auch Kopfrechnen und Grammatik üben. Tina Hofmann fordert: "Gefährdete Jugendliche müssen einen Rechtsanspruch auf Leistungen der Jugendsozialarbeit haben." Derzeit haben das SGB II und III den Vorrang - und die Jugendhilfe mit ihren oft multipel belasteten Klienten oft das Nachsehen. So fordern Jobcenter beispielsweise, dass Jugendliche vor einer Qualifizierung erst ihr Drogenproblem lösen müssten. "Aber Jugendliche ohne Job und ohne Ausbildung, haben kaum eine Motivation, es zu lassen", weiß Jugendamtsleiterin Förster. Die Schwachstellen der Ausbildungsförderung sind unübersehbar:
  • Es ist nicht gelungen, die horrende Zahl der Schulabbrecher zu reduzieren.
  • Immer mehr junge Erwachsene bleiben dauerhaft ohne Ausbildung.
  • Immer mehr junge Menschen bleiben dauerhaft in der Sozialhilfe kleben.
Deshalb muss das System dringend effizienter organisiert und endlich strukturell vernetzt werden. Der ISS-Fachtag stellte dafür "Best Practice"-Beispiele vor. So zeigte der Leiter der Arge in Kiel, Gerwin Stöcken, wie ein Jobcenter sowohl den Umgang mit schwierigen Klienten als auch die Zusammenarbeit der Akteure verbessern kann. Zugleich betonte Stöcken: "Wenn wir was ändern wollen, dann müssen wir deutlich früher anfangen: In den Schulen und am besten schon in den Kitas und der Frühförderung." Am Beispiel einer Optionskommune im Saarland stellte Thomas Schmidt "Die St. Wendler Jugendberufshilfe - ein umfassendes Netzwerk am Übergang Schule-Beruf" vor. Auch Schmidt betonte das "entscheidende Kriterium: Wir müssen viel früher und präventiv tätig werden!" Der Fachtag ist auf der Website www.iss-ffm.de dokumentiert.

Quelle: Pressemeldung des AWO Bundesverbandes e.V. vom 24.06.2010
http://www.awo.org