Bedrohte Jugendhilfe. Ein Kommentar

von Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt
28.11.2011 | Kinder-/Jugendhilfe | Nachrichten

  1. Unter dem Stichwort „Sozialraumorientierung“ findet nun schon seit geraumer Zeit eine Auseinandersetzung über die zukünftige Gestaltung kommunaler Sozial- und Jugendhilfeleistungen statt. Dabei wird von den Einen der emanzipatorische Charakter dieses Konzept gerühmt, dass endlich dem Gerangel um Fachleistungsstunden zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern ein Ende bereitet, während andere darauf hinweisen, dass sich die Entdeckung des Sozialraums schlichtweg den kommunalen Haushalten und ihren Sparzwängen verdankt. Sozialraumorientierung wird dabei zu so etwas wie einer Allzweckwaffe der in Finanznöten befindlichen Sozialdezernenten, weil mit dem Aktivieren der sog. Regeleinrichtungen (zumeist wird dabei an Schulen und Kindertagesstätten gedacht) die Hoffnung auf die Eingrenzung der kostentreibenden Entwicklung bei Einzelfallhilfen verbunden wird.
  2. Die kommunalen Aufgaben im Sozial- und Jugendbereich lassen sich in freiwillige und pflichtige Aufgaben unterscheiden. Erstere beziehen sich dabei i.d.R. auf infrastrukturelle Leistungen im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge, letztere auf Einzelfallhilfen im Rahmen gesetzlicher Verpflichtungen. Die „Freiwilligkeit“ der infrastrukturellen Leistungen ist keine Befreiung von entsprechenden Aufgaben, sondern verdankt sich schlicht der Überlegung, dass die örtliche Infrastruktur den jeweiligen Gegebenheiten gemäß entwickelt und ausgestaltet werden soll. Die in der Praxis beobachtbare Entgegensetzung von freiwilligen (können gestrichen werden) und pflichtigen (müssen leider vorgehalten werden) Leistungen ist Folge einer kommunalen Sparpraxis, die den Anspruch auf Ausgestaltung der kommunalen Daseinsvorsorge aufgegeben hat, weil die Haushalte nichts mehr hergeben.
  3. Dieser Tatbestand wird nun in einer Initiative der SPD-regierten A-Länder insofern auf den Kopf gestellt, weil der Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung vorrangig durch eine „Gewährleistungsverpflichtung des öffentlichen Jugendhilfeträgers“ ersetzt werden soll, wobei in Zukunft der Rechtsanspruch durch „ein verpflichtendes infrastrukturelles Angebot“ erfüllt werden soll. Hintergrund dieser Initiative ist die ungebremst ansteigende Fallzahlentwicklung bei den Hilfen zur Erziehung und die Unzufriedenheit der Kostenträger mit der Stellung freier Träger bei der Ausgestaltung des Hilfeangebots. Durch die vermehrte Nutzung sog. „sozialräumlicher Versorgungsverträge“ erhofft man sich zukünftig Spareffekte bei der Leistungserbringung, die dadurch verstärkt werden sollen, dass die „Regelinstitutionen“ Schule und Kindertagesstätten verstärkte jugendhilfespezifische Aufgaben übernehmen sollen.
  4. Die Ersetzung von individuellen Rechtsansprüchen durch infrastrukturelle Angebote im Sozialraum würde nicht nur für die betroffenen Kinder und Jugendlichen fundamentale Einschnitte bei notwendigen Hilfeleistungen mit sich bringen und die Gestalt der Jugendhilfe in Deutschland nachhaltig verändern, sie zeigt auch, warum das Konzept der Sozialraumorientierung auf kommunaler Ebene so begierig aufgegriffen wird: es ist jenseits seiner gemeinwesen- und bürgerschaftsorientierten Rhetorik ein wohlfeiles Steuerungsinstrument der Umgestaltung kommunaler Sozialpolitik unter Sparzwängen. Und als solches wird es eingesetzt, um die im Sozialraum vorfindlichen Institutionen zu Ausputzern nicht mehr zu finanzierender Aufgaben umzuwandeln, wohl wissend, dass diese dazu weder die Ressourcen, geschweige denn die fachlichen Kompetenzen haben.
  5. Es wird interessant sein zu verfolgen, wie die Leistungserbringer und ihre Verbände, die ja durch die Initiative der A-Länder direkt attackiert werden, auf diesen Vorgang reagieren. Die brutale Offenheit, mit der das Sozialraumkonzept zur Aushebelung individueller Rechtsansprüche herangezogen wird, könnte die Augen über dessen eigentliche Programmatik öffnen und die Debatte über die Jugendhilfe und ihre zukünftige Gestaltung neu eröffnen. Gespannt wird auch abzuwarten sein, wie sich diejenigen Vertreter der sozialen Arbeit äußern, die immer betonen, dass mit der Sozialraumorientierung nur eine Wiederbelebung verschütterter Ressourcen und Methoden der sozialen Arbeit gemeint sei, aber keineswegs ein Plädoyer für kommunale Sparprogramme. Spätestens jetzt muss man davon ausgehen, dass jedem in Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit Tätigen klar sein muss, welchem Kontext und welcher Logik sich die gegenwärtige Konjunktur der Sozialraumorientierung verdankt.
Autor
Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt
Professor für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe