Ein Branchentarif für soziale Dienste? Ein Kommentar
Am 2. November 2011 haben in Berlin auf einer Veranstaltung des AWO-Bundesverbandes „Wertegebundenes Unternehmen“ die Anwesenden ein Ende der Lohnabwärtsspirale im Sozialbereich gefordert. In einer Erklärung des AWO-Bundesgeschäftsführers heißt es: „Angesichts eines stetig wachsenden Kosten- und Preisdrucks ist es eine immer größere Herausforderung, die eigene Arbeit zu refinanzieren. Deshalb ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns als absolute Lohnuntergrenze in ganz Deutschland unabdingbar. Daneben wollen wir den Ansatz eines Branchentarifvertrags ernsthaft vorantreiben“ (Wolfgang Stadler, Presseerklärung der AWO, Berlin). Die Forderung der AWO nach einem Branchentarifvertrag zeigt, dass gegenwärtig die Sozialunternehmen im Sozialsektor zu erkennen beginnen, dass der Preiswettbewerb der vergangenen Jahre nicht nur ihre innerverbandlichen Strukturen erodieren lässt, sondern auch den Leistungserbringern angesichts des wachsenden Personalbedarfs die Handlungsspielräume zuschnürt. Umso bemerkenswerter ist der Tatbestand, dass in dieser Situation das Diakonische Werk der EKD auf ein Angebot des verdi-Vorsitzenden Bsirske, in Verhandlungen über einen Branchentarif einzutreten mit der Auskunft reagiert, man wolle den Sonderweg des Dritten Wegs weiter nutzen und einen eigenen Weg beschreiten (Süddeutsche Zeitung). In dieser Woche befasst sich die Synode der EKD u.a. auch mit der Frage der Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen in der Diakonie, die sich schon seit langem der Kritik ausgesetzt sehen, im Rahmen der Philosophie der Dienstgemeinschaft, die den Arbeitnehmern das Streikrecht versagt, Personalkostensenkungen als Wettbewerbsinstrument zu betreiben. In einem Strategie-Papier des Bundesverbandes der Diakonie heißt es dazu bezeichnenderweise: „Grundsätzlich nicht Ausgründungen etc. mit fiskalischen Zwängen etc. rechtfertigen: Eine solche Argumentation würde die These der Gegenseite bestätigen, dass die Diakonie wie ein beliebiges Wirtschaftsunternehmen auf den Wettbewerb reagiere und der Dritte Weg nicht mehr realisierbar sei. Stattdessen positiv begründen, warum bestimmte Tätigkeiten, die nicht unmittelbar „am Menschen“ erbracht werden, auch nicht zwingend in der Dienstgemeinschaft geleistet werden müssen, also unter anderen tariflichen Bedingungen (Gebäudereinigerhandwerk o.ä.) den Dritten Weg nicht substanziell tangieren“ (Diakonie Bundesverband, Handlungsempfehlungen, Zentrum Kommunikation). Während das Diakonische Werk eigens einen „Kommunikationsberater“ bemüht, um den Tatbestand, dass ihre Sozialunternehmen im Rahmen des Dritten Wegs sich in ihrem Handeln von anderen Wettbewerbern nicht unterscheiden, argumentativ zu verschleiern, sickert in anderen Verbänden zunehmend die Erkenntnis durch, dass der Personalkostenwettbewerb mit den privaten Anbietern nicht zu gewinnen ist und dies auch keine lohnende verbandliche Zielperspektive darstellt. Die Politik des Dritten Wegs, die sachwidrig das kirchliche Arbeitsrecht bei Einführung eines Branchentarifvertrags als gefährdet behauptet (die für die Kirche zentrale Bedeutung der Loyalitätsrichtlinie ist hiervon gar nicht tangiert), tritt damit nicht nur zunehmend in Gegensatz zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Diakonie. Denn das deren „Sonderbehandlung“ dem Erzielen von Wettbewerbsvorteilen dienen soll, darüber gibt die Handlungsempfehlung selbst Auskunft: „Deshalb können sich Hilfsbedürftige in Diakonie-Einrichtungen auch sicher sein, dass das Aushandeln von Arbeitsbedingungen nicht zu ihren Lasten stattfindet, z.B. weil in der Dienstgemeinschaft nicht gestreikt wird“. Damit wird nicht nur suggeriert, dass das Streikrecht in anderen Verbänden dazu führt, dass Hilfsbedürftige schlechter versorgt werden (eine abenteuerliche Behauptung!), es wird auch direkt der Dritte Weg mit dem Argument der Versorgungskontinuität begründet – also mit einem (vermeintlichen) ökonomischen Vorteil, was deutliche Auskunft über die instrumentelle Nutzung des kirchlichen Arbeitsrechts gibt. Darüber hinaus erweist sich der Sonderweg der Diakonie zunehmend als sozialpolitischer Störfaktor für das tarifpolitische Handeln der Verbände im Sozialsektor. Ein Branchentarif, der durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung gleiche Wettbewerbsbedingungen im Sozialbereich schaffen würde, erfordert den politischen Willen der Verbände, mit dem für sie selbst ruinösen Preiswettbewerb der vergangenen Jahre Schluss zu machen. Diesen politischen Willen will im Unterschied zu Anderen die Diakonie als Sozialverband nicht aufbringen. Sie begibt sich stattdessen lieber in die argumentativen Hände eingekaufter „Kommunikationsmanager“ und verabschiedet sich damit auch zunehmend als ernst zu nehmender sozialpolitischer Akteur. AutorProf. Dr. Norbert Wohlfahrt
Professor für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe