Erfolg im zweiten Anlauf!?
Umsetzung des Bundeskinderschutzgesetzes in der kommunalen Praxis - Tagungsbericht
Guter Kinderschutz ist kein Zufall!
Am 24. und 25. November 2011 veranstaltete die Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe (AGFJ) im Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin die Fachtagung "Erfolg im zweiten Anlauf!? Umsetzung des Bundeskinderschutzgesetzes in der kommunalen Praxis". Über 150 interessierte Fachkräfte der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe und des Gesundheitswesens nahmen an der Veranstaltung teil. Auch wenn bis zum Tagungsabschluss unklar blieb, ob der zweite Anlauf für ein Kinderschutzgesetz gelingt, fand eine praxisnahe Fachdebatte zu den konkreten Folgerungen des (geplanten) Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) für die örtliche Fallpraxis, aber auch zu aktuellen, praxisrelevanten Fragestellungen des Kinderschutzes statt. Im Zentrum der Fachdiskussion standen die Fragen: Was wird bzw. würde sich mit dem BKiSchG juristisch für die Kinder- und Jugendhilfe verändern? Was muss bzw. müsste in der Praxis verändert werden? Die Tagung wurde von Kerstin Landua, Leiterin der AGFJ, eröffnet. In ihren Eröffnungsworten verwies sie darauf, dass die AGFJ auf eine Biografie von Tagungen zurück blicken kann, die sich ganz gezielt mit dem Schutz des Kindeswohls befassten. So hatte die AGFJ bereits 2009 eine Fachveranstaltung zu dem von der vorherigen Bundesregierung geplanten Kinderschutzgesetz veranstaltet. Entsprechend hoffnungsfroh sei nun die Praxis, dass der zweite Versuch glückt!„Kinderschutz hält sich nicht an Länder- und Systemgrenzen.“[1]
Im Eröffnungsvortrag widmete sich Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner, Ministerialrat a.D., Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dem „neuen“ BKiSchG: Was ist anders, was ist neu? Er stellte die geplanten Änderungen des SGB VIII und das neue Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) vor. Im Hinblick auf die Frage: Braucht der Kinderschutz ein BKiSchG? ging Prof. Reinhard Wiesner sowohl auf zu begrüßende, dem Kinderschutz förderliche, als auch auf kritische Aspekte im Gesetzentwurf ein. So wurde fachpolitisch kontrovers diskutiert, ob zwingend ein eigenes Kinderschutzgesetz erforderlich sei, da sich der Gesetzentwurf in „nur“ fünf Artikel gliedert. Für Prof. Reinhard Wiesner aber baut das BKiSchG als kurzes Artikelgesetz das Dach über all die im Kinderschutz beteiligten Systeme und hat somit „Signalwirkung“ für Praxis und Öffentlichkeit. Ebenso werden die vorgesehenen punktuellen Änderungen im SGB VIII dem Kinderschutz dienen. Daher ist zu begrüßen, dass der Paragraph 4 „Beratung und Übermittlung von Informationen bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung“ im KKG den Schutzauftrag auf andere Berufsgruppen mit der Befugnis, das Jugendamt über mögliche Kindeswohlgefährdung zu informieren, erweitert. Er schafft eine bundeseinheitliche Regelung zur Datenweitergabe, denn die Länderkinderschutzgesetze sehen hier unterschiedliche Regelungen vor. Aber der Kinderschutz hält sich nicht an Ländergrenzen, auch nicht an Systemgrenzen! – so Prof. Reinhard Wiesner. Folglich ist eine Schnittstelle von Gesundheitswesen und Kinder- und Jugendhilfe zu schaffen. Jedoch weist hier der Gesetzentwurf eine Regelungslücke auf. Es ist bisher nicht gelungen, das Gesundheitswesen in die staatliche Mitverantwortung zu nehmen. Mit der Bundesinitiative der Familienhebammen wurde nur eine Kompromissregelung bzw. „Notlösung“ erzielt. Leistungen der Familienhebammen sind im SGB V zu verankern und nicht über ein zeitlich befristetes Modellprojekt zu finanzieren. In summa weist das BKiSchG für Prof. Reinhard Wiesner „in die richtige Richtung“, weil es bereits vorhandene Leistungen und Erfahrungen im Kinderschutz berücksichtigt. Entsprechend gespannt erwartete er mit allen Teilnehmenden die Abstimmung im Bundesrat am zweiten Tagungstag. Anschließend an den Eröffnungsvortrag hörten die Tagungsteilnehmer/innen drei Echos aus der Praxis zu der Frage, ob Gesetze die Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe fördern, unterstützen.Echo aus einem Landkreis: Keiner kann gegen ein BKiSchG sein! Aber…
Dies betonte Charlotte Orzschig, Leiterin des Jugendamtes des Landkreises Freudenstadt, denn Gesetze und Qualitätsentwicklung bedingen sich gegenseitig. So sind Gesetze Grundlage von Qualitätsentwicklung, indem sie Impulse geben und Rahmenbedingungen für die Praxis schaffen. Qualitätsentwicklung wiederum beschreibt nicht nur Standards für die Praxis, sondern gibt auch Impulse für Gesetzgebungsprozesse. Aber Vorsicht, wenn (wie aktuelle) Gesetze die Ebene des operativen Geschäftes betreten und damit in die kommunale Selbstverwaltung eingreifen. Entsprechend hinterfragt Charlotte Orzschig auch den Beitrag des BKiSchG zur Qualitätsentwicklung. So soll der Einsatz von Familienhebammen verstärkt werden. Aber was nun, wenn bewährte Hebammenmodelle, wie das Projekt „Erweiterte Geburtennachsorge“ der Landkreise Freundstadt und Calw, nicht gesetzeskompatibel sind, d.h. nicht die Voraussetzungen für die Bundesförderung erfüllen? Was tun? Auch die Fokussierung des Gesetzentwurfes auf das Kind als schutzwürdiges und nicht als entwicklungs- wie förderungswürdiges Wesen sieht Charlotte Orzschig kritisch, es widerspreche dem Grundsatz der Kinder- und Jugendhilfe. Ein Gesetz allein führt zu keiner Qualitätsentwicklung!Echo aus einer mittleren Stadt: Nicht immer hilft viel viel! Hilft ein BKiSchG?
Cornelia Scheplitz, Abteilungsleiterin, Amt für Jugend und Soziales in Frankfurt (Oder) stimmt dahingehend Frau Orzschig zu, dass Gesetzgebung Verbesserungen anregen kann, aber per se keine Qualitätsentwicklung garantiert, weil gesetzliche Regelungen erst „mit Leben gefüllt“ werden müssen. Sie sind von den Fachkräften auf die örtliche Praxis „herunterzubrechen“, um wirksam werden zu können. Was bisher im Kinderschutzbereich mit der Einführung des § 8a im SGB VIII in Frankfurt (Oder) geschah und erreicht wurde, führte Cornelia Scheplitz näher aus. Seit 2006 finden beispielsweise regelmäßig Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen zu Kinderschutzthemen statt, es wurde ein standardisiertes Gesamtverfahren für den ASD erarbeitet und vieles mehr. Aber nicht immer hilft viel viel! Es bedarf eines „wachen und kritischen Blicks“ im Sinne einer regelmäßigen Praxisüberprüfung. Welche Veränderungen sind wo und in welchem Umfang wirklich sinnvoll? Qualitätsentwicklung in der Kinderschutzarbeit bedeutet für Cornelia Scheplitz über „handwerkliche Standards und Verfahren“ zu verfügen, die die Fachlichkeit und Handlungssicherheit der Fachkräfte fördern.Echo aus einer Großstadt: Engagierte, motivierte, kreative Fachkräfte sind die Basis für Qualitätsentwicklung.
Bruno Pfeifle, Leiter des Stadtjugendamtes Stuttgart, schloss sich in seinem Beitrag den Vorrednerinnen an. Auch aus seiner Erfahrung heraus haben sich Verbesserungen in der Kinderschutzpraxis durch gesetzliche Veränderungen im Kinder- und Jugendhilfegesetz ergeben, aber eben „nicht nur“ und „nicht erst“ dann. So betonte er, dass die Jugendhilfepraxis selbst stets Verbesserungen anstößt und Gesetze diese (Weiter-)Entwicklungsprozesse unterstützen (können), aber Ausgangspunkt seien immer die engagierten, motivierten, kreativen Fachkräfte vor Ort. Kinderschutz ist personenabhängig: von der Haltung und Qualifizierung der Fachkräfte. Nach Ansicht von Bruno Pfeifle trägt das BKiSchG zur qualitativen Weiterentwicklung der Kinderschutzarbeit bei. So werden wichtige Praxiserfahrungen der Jugendhilfe, wie u.a. Mitbestimmungsformen oder Ombudsschaften, aufgegriffen und klare Rechte wie Pflichten benannt, die aber die erforderlichen Handlungs- und Gestaltungsspielräume in der Praxis für einen effektiven Kinderschutz nicht zu sehr einschränken.Praxis diskutiert: Erfahrungsaustausch zu den Neuregelungen und zur örtlichen Fallpraxis im Kinderschutz
Dem Tagungstitel und -anliegen entsprechend, die konkreten Folgerungen des BKiSchG für die kommunale Praxis zu diskutieren, tauschten sich nach dem inhaltlichen Input die Tagungsteilnehmer/innen über die Neuregelungen des Gesetzentwurfes aus. Der Erfahrungsaustausch wurde am zweiten Tagungstag fortgesetzt. Es wurde anhand verschiedener Praxisbeispiele in Arbeitsgruppen und Fallwerkstätten nach Antworten zu folgenden Fragen gesucht:- Was bedeuten die neuen rechtlichen Anforderungen für die Aufgabenwahrnehmung in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf Qualitätsentwicklung?
- Was bedeutet dies für die örtliche Fallpraxis, für schwierige Kinderschutzfälle?
- Wie wird bei Gefährdungseinschätzungen "außerhalb der Jugendhilfe" eine "insoweit erfahrene Fachkraft" (und mit welchen Qualifikationen) beratend hinzugezogen?
- Wie kann eine stärkere Einbindung von Kooperationspartnern, wie z.B. Schule oder Gesundheitswesen, erfolgen?
- Wie soll die verbindliche Zusammenarbeit im Kinderschutz als Netzwerk auf der örtlichen Ebene organisiert werden?
- Wird durch die neuen Regelungen in Bezug auf das Verhältnis von Hilfe, Kontrolle und Dienstleistung die Handlungs- und Rechtssicherheit der Fachkräfte im ASD gestärkt?
- Was löst ein solches Gesetz zum Kinderschutz bezogen auf die Absicherung der Fachkräfte in der Praxis aus (Diagnostik, Dokumentation)?
- Wie kann ein praxistaugliches Fehler- und Beschwerdemanagement aufgebaut werden?
Zweierlei zum „Stand der Dinge“: Schlaglichter der Tagungs-U-Boote
Dr. Marie-Luise Stiefel, ehemalige Leiterin der Jugendhilfeplanung im Jugendamt Stuttgart, und Erdmann Bierdel, Leiter der Abteilung für Jugend und Familie im Landkreis Euskirchen, haben als „Tagungs-U-Boote“ den Diskussionsprozess verfolgt und kommentiert. Hier einige Schlaglichter ihrer Kommentierungen:- „100%igen Kinderschutz“ gibt es nicht! Auch lässt sich Kinderschutz nicht 100%ig (gesetzlich) verordnen und regeln.
- Kinderschutz, vor allem in Netzwerken, muss gewollt und gekonnt sein! Die Fachkräfte vor Ort sind der Schlüssel zum Erfolg, ihre Haltung und Qualifizierung sind entscheidend.
- Kinderschutz muss von Fachkräften gelebt werden! Hierbei erweisen sich zu konkrete gesetzliche Regelungen für die Praxis als eher hinderlich. Es braucht Konzepte, Verfahren, Standards, die von den Fachkräften vor Ort selbst, angepasst an die lokalen Strukturen, erarbeitet werden.
- Kinderschutz kostet – und muss finanziell abgesichert sein. Es bedarf verbesserter materieller und qualitativer Bedingungen im Kinderschutzbereich. Auch das BKiSchG sei unterfinanziert. Die finanziellen Voraussetzungen für die (neuen) Schutzaufgaben mit dem Gesetz müssen erst noch erfüllt werden.
- Kinderschutz geht alle an! Es bedarf einer Verantwortungsgemeinschaft, unter Beteiligung aller Akteure und Institutionen, die für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen Sorge tragen und sich engagieren, vor allem des Gesundheitssystems. Das BKiSchG kann nicht die Verantwortungsgemeinschaft auffangen.
- Kinderschutz ist ein nie endender „Kommunikationsdauerlauf“! Es gibt noch viel zu tun, denn nicht überall ist Kinderschutz drin, wo Kinderschutz drauf steht. Aber das Bemühen um fachlich guten Kinderschutz sei immer da – nicht erst mit einem Kinderschutzgesetz.
Bericht live aus der Abstimmung im Bundesrat: Das BKiSchG ist nicht gescheitert, nur ins Stolpern geraten!
Mit Spannung warteten die Tagungsteilnehmer/innen auf den „Live-Bericht“ aus dem Bundesrat. Dr. Heike Schmid-Obkirchner, Leiterin des Referates Rechtsfragen der Kinder- und Jugendhilfe, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, berichtete direkt nach der Bundesratsabstimmung über deren Ausgang und den aktuellen Sachstand in Bezug auf das Gesetzgebungsverfahren. Einen „Erfolg im zweiten Anlauf“ gab es (vorerst) auch diesmal nicht. Das vorgelegte Kinderschutzgesetz ist erst mal blockiert, weil es im Bundesrat keine Mehrheit gefunden hat – auch nicht für die Anrufung des Vermittlungsausschusses. Als Begründung wurden u.a. finanzielle Bedenken angeführt. Die Länder fordern eine dauerhafte Finanzierung der Familienhebammen durch den Bund. Eine weitere Forderung ist, die „normalen“ Hebammenleistungen auf sechs Monate zu verlängern und die Kosten durch die gesetzliche Krankenversicherung nach SGB V zu erstatten. Außerdem wird der vollständige Ausgleich der mit den neuen Schutzaufgaben verbundenen Mehrbelastungen für die Kommunen und die Länder durch den Bund verlangt. Nun bereitet das Familienministerium die Anrufung des Vermittlungsausschusses der Bundesregierung vor und erarbeitet einen Lösungsvorschlag. Vielleicht kommt das neue BKiSchG nur mit etwas Verspätung?Ob nun mit oder ohne BKiSchG: Die Kinderschutzpraxis ist auf einem guten Weg!
Wenn der Ausgang zum neuen BKiSchG am Ende der Fachtagung offen war, so haben die Praktiker/innen die Frage eines Teilnehmers: „Können wir hoffnungsfroh in die Zukunft schauen?“ mit einem „Ja“ beantwortet. Eine Garantie oder ein Patentrezept für einen „100%igen Kinderschutz“ gibt es zwar nicht – auch nicht mit einem BKiSchG, aber die Garantie der Praxis, sich den mit dem Kinderschutz verbundenen Herausforderungen zu stellen, um das Kindes-, Eltern- und Familienwohl bestmöglich zu schützen. Das BkiSchG kann die örtliche Fallpraxis dabei unterstützen.Nachtrag
Seit einigen Tagen wissen wir: Das Gesetz ist Gesetz. Es ist vollbracht. Nun kommt es darauf an, es in der Praxis wirksam werden zu lassen. „Stoff“ für eine weitere Tagung. AutorinMaja Arlt
Wissenschaftliche Mitarbeiterin der
Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik
Kontakt: arlt@difu.de