Neue Regelungen zu Hartz-IV-Sätzen: in wesentlichen Punkten verfassungsrechtliche Probleme

13.09.2011 | Sozialpolitik | Nachrichten

Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung beleuchtet die Neuregelungen des SGB II

Die neuen Regeln zur Bestimmung des Hartz-IV-Satzes verstoßen in wesentlichen Punkten gegen verfassungsrechtliche Vorgaben, so ein neues Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Das Gesetz "zur Ermittlung von Regelbedarfen" vom März 2011 justiert das Verfahren neu, mit dem der Hartz-IV-Regelsatz ermittelt wird. Das Prinzip dabei: Die Höhe richtet sich nach den Durchschnittsausgaben einkommensschwacher und nicht von Grundsicherung oder Sozialhilfe lebender Haushalte. Die Daten werden anhand der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes erhoben. Im Grundsatz sei es verfassungsrechtlich legitim, das sozialrechtliche Existenzminimum mithilfe dieser so genannten Statistik-Methode zu ermitteln, schreibt Prof. Dr. Johannes Münder, Rechtswissenschaftler an der TU Berlin, in einem aktuellen Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung. Allerdings kollidierten die Regelungen in vielen wesentlichen Einzelpunkten mit dem Grundgesetz. Münder bezieht sich in seiner Untersuchung auf eine Studie der Verteilungsforscherin Dr. Irene Becker, die ebenfalls für die Hans-Böckler-Stiftung die Methodik der Regelsatzberechnung durchleuchtet hat.

Insgesamt identifizieren die Wissenschaftler zehn Aspekte, die das neue Verfahren verfassungsrechtlich problematisch machen. Die wichtigsten Punkte: - Die Vergleichsgruppe ist falsch abgegrenzt, weil die verdeckte Armut nicht herausgerechnet wurde. Als Maßstab zur Regelsatzberechnung sollen Haushalte dienen, die zwar ein geringes Einkommen haben, aber nicht solche, deren Einkünfte unterhalb des Existenzminimums liegen - etwa weil sie die ihnen zustehenden Sozialleistungen nicht ausschöpfen. Dazu wäre es nötig, diese in "verdeckter Armut" lebenden Haushalte aus der Referenzgruppe herauszunehmen. Obwohl geeignete statistische Verfahren zur Verfügung stehen, sei dies aber nicht geschehen, stellen Münder und Becker fest. Damit ergeben sich systematisch zu niedrige Regelsätze. - Aufwandsentschädigung: Sehr geringe Erwerbseinkommen verzerren Daten. Wer im Wesentlichen von Sozialleistungen lebt und bis zu 73 Euro netto im Monat verdient, müsste dem Gutachten zufolge ebenfalls aus der Referenzgruppe ausgeschlossen werden. Denn dieser Betrag sei nicht als frei verfügbares Einkommen, sondern als Kompensation für Aufwendungen zu interpretieren, die durch eine Erwerbsarbeit entstehen. Hier verheddere sich der Gesetzgeber in Widersprüche, indem er den Betrag von 73 Euro, den er Erwerbsfähigen im Gegensatz zu Erwerbsunfähigen zubilligt, bei der Regelsatzermittlung ignoriert, so Münder. Unter anderem seien die Gebote der Systemklarheit, der Folgerichtigkeit und der Normenklarheit verletzt. - Wie hoch der Finanzbedarf für langlebige Gebrauchsgüter ist, lässt sich aus der verwendeten Statistik nicht ablesen. Für die EVS zeichnen die Haushalte in der Stichprobe drei Monate lang auf, wofür sie Geld ausgeben. Daraus ergibt sich ein relativ verlässliches Bild der täglichen Ausgaben. Allerdings würden einmalige, nur in großen Abständen erfolgende Anschaffungen wie Fahrräder, Kühlschränke oder Fernseher nicht hinreichend erfasst, so Münder. Daher sei unsicher, ob das vom Grundgesetz geforderte menschenwürdige Existenzminimum mit der verwendeten Berechnungsmethode sichergestellt sei. Die Verteilungsforscherin Becker schlägt vor, Bedürftigen anstelle von Pauschalbeträgen einmalige Leistungen für größere Gebrauchsgüter zu gewähren. - Die Einstufung bestimmter Konsumausgaben der Vergleichsgruppe als "nicht regelsatzrelevant" führt zu einer Unterschätzung des Existenzminimums. Verfassungsrechtlich problematisch ist nach Überzeugung der Wissenschaftler auch eine fundamentale methodische Inkonsistenz beim neuen Verfahren: Das Statistik-Modell geht von durchschnittlichen Ausgaben aus, nicht vom individuellen Ausgabeverhalten. Zugleich greift der Gesetzgeber mit normativen Begründungen in das statistisch ermittelte Ergebnis ein, indem er bestimmte Positionen für "nicht regelsatzrelevant" erklärt. Das gilt nicht nur für Alkohol und Tabak, sondern etwa auch für Gartengeräte, chemische Reinigung oder Hundefutter. Damit kommt es zu einer Vermischung des Statistik-Verfahrens und des früher üblichen Warenkorbmodells, bei dem die Höhe der Sozialhilfe komplett auf normativen Setzungen fußte. Münder und Becker zufolge wird das Statistik-Modell auf diese Weise "ausgehöhlt", indem die Möglichkeiten der Bedürftigen eingeschränkt werden, einen "internen Ausgleich" zwischen Warenkategorien vorzunehmen. Das kann zu einer Unterschätzung des tatsächlichen Haushaltsbedarfs führen. Ein Beispiel: Wenn die Referenzhaushalte im Schnitt acht Euro im Monat für Zigaretten ausgeben, bedeutet das keineswegs, dass in allen Haushalten geraucht wird. Tatsächlich hat ein großer Teil der Haushalte überhaupt keine Ausgaben für Tabakwaren - dafür aber etwa höhere Ausgaben für Lebensmittel als die Gruppe der Raucher. Wird das Existenzminimum nun mit Verweis auf die Raucher um acht Euro niedriger angesetzt, haben darunter alle Haushalte zu leiden, auch die Nichtraucher mit überdurchschnittlichem Nahrungsbedarf. Aufgrund solcher Überlegungen dürfe der Gesetzgeber nur in begrenztem Umfang normativ begründete Abschläge von den tatsächlichen Durchschnittsausgaben vornehmen, schreibt Münder. Insgesamt betragen die verschiedenen Abzüge nach Becker aber rund ein Drittel der statistisch ermittelten Ausgaben. So sei nach Ansicht beider Gutachter keine Existenzsicherung mehr gewährleistet. - Der herunter gerechnete Mobilitätsbedarf Bedürftiger ist nicht nachvollziehbar. Einzelnen Schritten bei der Bedarfsermittlung attestieren die Untersuchungen handwerkliche Mängel. Besonders fragwürdig scheint Münder und Becker die Berechnung des Mobilitätsbedarfs: Hier gehen statistisch ermittelte Ausgaben für Benzin nicht in die Rechnung ein, weil das Existenzminimum auch ohne Auto oder Motorrad erreicht werde. Selbst wenn man diese Sicht akzeptiert, müsste aber eine realistische Betrachtung berücksichtigen, dass die Referenzgruppe bei Wegfall der KFZ-Nutzung höhere Ausgaben für öffentliche Verkehrsmittel gehabt hätte. Allein durch die Missachtung dieses Punkts falle der aktuelle Hartz-IV-Regelsatz um knapp sechs Euro zu niedrig aus. - Die kulturelle Teilhabe Minderjähriger ist nicht für alle Kinder sichergestellt. Anstelle der per EVS ermittelten Beträge für Vereinsmitgliedschaften oder Ähnliches gesteht der Gesetzgeber Minderjährigen eine zweckgebundene Pauschale von 10 Euro im Monat für Mitgliedsbeiträge von Sportvereinen, Musikunterricht oder Freizeiten zu. Diese ist nicht Bestandteil der monetären Regelleistung, sondern des sogenannten Bildungspakets. Verfassungsrechtlich problematisch sind daran laut Münder vor allem zwei Aspekte: Zum einen kollidiert der eng umrissene Verwendungszweck mit dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit - Kinder können ganz andere soziale und kulturelle Interessen haben. Zum anderen gehen Kinder leer aus, in deren Wohnumfeld keine entsprechenden Sport- oder Musikangebote existieren. Sie haben unter der Streichung der entsprechenden Position bei der Regelsatzberechnung zu leiden, können die vorgesehene Kompensation aber nicht in Anspruch nehmen. - Der jüngste Inflationsausgleich erfolgte zu spät. Grundsätzlich sei die Regelung vertretbar, den Hartz-IV-Satz zum ersten Januar an die Teuerungsrate anzupassen, die sich in den zwölf Monaten bis zur Mitte des Vorjahres ergeben haben, so das Gutachten. Bei der jüngsten Anhebung seien aber - trotz vorhandener Daten - die Preissteigerungen des ersten Halbjahres 2010 nicht berücksichtigt worden. Mit dieser Abweichung vom üblichen Prozedere habe der Gesetzgeber seine Pflicht missachtet, das menschenwürdige Existenzminimum "bedarfszeitraumnah" zu bestimmen. Weitere Informationen: Johannes Münder: Verfassungsrechtliche Bewertung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011 - BGBl. I S. 453, Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung, August 2011 Irene Becker: Bewertung der Neuregelungen des SGB II. Methodische Gesichtspunkte der Bedarfsbemessung vor dem Hintergrund des "Hartz IV-Urteils" des BVerfG, Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung, August 2011 Die Gutachten in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "Soziale Sicherheit" (pdf)

Quelle: Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 05.09.2011
http://www.boeckler.de