Protest gegen Armut ist in Ungarn ein Verbrechen. Ein Kommentar
Ungarn befindet sich auf dem Weg zu neuer nationaler Größe und völkischer Verbundenheit. Dieser Sichtweise der Regierung entspricht ein nationales Programm der Armutsbekämpfung, das sich im Wesentlichen gegen die Armen richtet. So ist das Durchsuchen von Müll nach verwertbaren Lebensmitteln eine Ordnungswidrigkeit, die der um die Sittlichkeit seiner Volksgenossen besorgte ungarische Staat nicht durchgehen lassen will. Erst recht nicht den Protest dagegen, den ungarische Sozialarbeiter mit einer kleinen Straßenaktion durchgeführt haben. Bei einer Demonstration wurden einige Sozialarbeiter festgenommen und ein von dem Sozialarbeiter Norbert Ferencz unterzeichneter Aufruf zu dieser Aktion brachte ihm eine Anklage wegen Landfriedensbruch ein, er wurde am 4. November zu drei Jahren Haft verurteilt. Das ungarische Regime sieht offensichtlich in der herrschenden Armut einen Anschlag auf die geforderte nationale Einheit. Ihr Standpunkt, dass sich Pauperismus nicht mit einem stolzen Ungarntum verträgt, richtet sich gegen die Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Frührentner selbst, denen das Arbeitslosengeld drastisch gestrichen wird und die zur Arbeit gezwungen werden, wollen sie noch weiterhin staatliche Unterstützung bekommen (die Organisation und Durchsetzung der Initiative „Arbeit statt Sozialhilfe“ übernimmt das für die Polizei zuständige Innenministerium). Zugleich werden das Streikrecht weitgehend ausgehebelt und die bisherige Variante der ungarischen Sozialpartnerschaft für ausgedient erklärt. In diesem Szenario eines zu neuer völkischer Größe sich aufbauenden Ungarn stören natürlich jegliche Einwände und Proteste gegen die Folgen der staatlichen Verarmungspolitik. Im neuen Ungarn haben das Interesse der Nation und der Dienst an ihr über allem zu stehen, und wer sich diesem Diktum nicht beugt, der muss mit Verhaftung und Wegsperrung rechnen. Deshalb ist auch das Eintreten von Sozialarbeitern für Obdachlose aus nationaler Sicht ein Akt antiungarischer Gesinnung, dem sich nur mit Kriminalisierung und rigoroser Bestrafung entgegentreten lässt. Das EU-Mitglied Ungarn möchte mit aller Macht wieder zu einer anerkannten und international einflussreichen Nation werden und dieses nationale Erneuerungsprogramm duldet offenbar keine abweichenden Standpunkte. Das Wegsperren von Sozialarbeitern zeigt, wie wenig sich ein Staat an internationales Recht gebunden sieht, wenn er dies für sein nationales Fortkommen und seinen staatlichen Konkurrenzerfolg für notwendig erachtet. Nach den Sinti und Roma, denen aus Sicht der Regierung der ungarische Nationalcharakter abgeht und die deshalb der ethnischen Verfolgung ausgesetzt sind, sind es nun die Obachlosen bzw. für deren Interessen eintretende Sozialarbeiter, die für ihr berufliches Engagement ins Gefängnis wandern. Für Gott, Krone und Vaterland, auf die sich die neue ungarische Verfassung so nachhaltig beruft ist Armut eine Schande. Und der Protest dagegen ein Verbrechen. AutorProf. Dr. Norbert Wohlfahrt
Professor für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe