Sexueller Kindesmissbrauch: Neue quantitative und qualitative Analysen der Anrufe und Briefe in der Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten jetzt veröffentlicht
Endbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung enthält den bisher größten Datensatz über Zeugnisse und Forderungen von Betroffenen zu sexuellem Missbrauch in Deutschland.
Berlin, Ulm - Mit dem Ende der Amtszeit der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin a.D., am 31.10.2011 endete auch der Auftrag an die wissenschaftliche Begleitforschung der Anlaufstelle, die durch ein Team um den Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten Prof. Dr. Jörg M. Fegert vom Universitätsklinikum Ulm durchgeführt und von einem wissenschaftlichen Beirat begleitet wurde. Der Endbericht berücksichtigt die Inhalte aller Anrufe und Briefe, die von April 2010 bis Ende August 2011 bei der Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten eingegangen waren. „Mit den jetzt veröffentlichten Ergebnissen der quantitativen und qualitativen Auswertung liegt uns der bisher größte Datensatz in Deutschland zu Berichten von Betroffenen zu sexuellem Missbrauch vor“, so Prof. Dr. Fegert, „die Ergebnisse liefern wichtige Erkenntnisse über die Thematik des sexuellen Kindesmissbrauchs, die nicht nur in den Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten und die Arbeit des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ eingeflossen sind, sondern auch weitere wichtige Impulse für die Forschung und alle Akteure, die mit Kindern und Jugendlichen zur Thematik arbeiten, setzen werden.“ Der gesamte Datensatz nach rund eineinhalb Jahren Anlaufstelle (6.300 verwertbare Datensätze aus rund 22.000 Anrufen und Briefen) erlaubt nun auch zum ersten Mal eine Auswertung der Angaben von Betroffenen in drei verschiedenen Altersgruppen. In den bisher veröffentlichten Zwischenberich-ten waren alle Berichte trotz großer Altersspannen (6–89 Jahre) gemeinsam analysiert worden, nun wurden die Altersgruppen 16 - 39 Jahre, 40 - 59 Jahre und ab 60 Jahre auch getrennt analysiert. Diese neu gebildeten Vergleichsgruppen erlauben eine Einschätzung von Entwicklungstrends. Hier scheint sich beispielsweise zu bestätigen, was nach der Vorstellung der Repräsentativbefragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) durch Prof. Dr. Christian Pfeiffer ebenfalls betont wurde, dass ein Rückgang der Missbrauchsfälle in kirchlichen Institutionen in den jüngeren Altersgruppen feststellbar ist. Da es sich um eine Inanspruchnahmepopulation (Betroffene und Kontaktpersonen von Betroffenen meldeten sich selbst) und nicht um eine repräsentative Stichprobe (Befragung eines Querschnitts der Gesellschaft) handelt, können keine Angaben zur proportionalen Gesamthäufigkeit in der Bevölkerung gemacht werden. Der Datensatz mit tausenden von Angaben zu Missbrauchsgeschehen ermöglicht aber einen vertieften Einblick in sehr viele Schicksale und Kontexte, wie er in einer Repräsentativbefragung kaum möglich ist. Während beispielsweise in der Repräsentativbefragung von Prof. Dr. Pfeiffer nur vier Heimkinder überhaupt erreicht werden konnten und Heimkinder damit auch nach Angaben des KFN deutlich unterrepräsentiert sind, enthält der Datensatz des Endberichts der Anlaufstelle Angaben von über 300 betroffenen Heimkindern. Da Fremdbetreuung für viele gefährdete Kinder oft die einzige Chance, gleichzeitig aber auch ein neues Gefährdungsrisiko darstellt, wurden im Endbericht auch Daten zu ehemaligen Pflegekindern und Missbrauch in Pflegeverhältnissen ausgewertet. Erstmals finden sich im Endbericht auch eine Sonderauswertung der Fälle im Kontext der katholischen und evangelischen Kirche in Gegenüberstellung zu Fällen in weltlichen Institutionen sowie Auswertungen zu Missbrauch im medizinisch-therapeutischen Kontext oder zu seltenen, aber schwerwiegenden Fällen ritueller Gewalt. „In den letzten eineinhalb Jahren haben sich viele Menschen in dem Prozess der Aufarbeitung engagiert und ihren persönlichen Beitrag hierzu geleistet“, so Prof. Dr. Fegert bei der Übergabe des Endberichts an die Geschäftsstelle der ehemaligen Unabhängigen Beauftragten, „nach dem Ende des Runden Tisches erwarten viele Betroffene zu recht, dass die Politik definitiv Konsequenzen zieht und sich in der Praxis, auch in der Fläche der gesamten Bundesrepublik, etwas verbessert.“ Die Geschäftsstelle der Unabhängigen Beauftragten sowie die telefonische Anlaufstelle mit der kostenfreien Rufnummer 0800-22 55 530 werden seit dem 1. November 2011 kontinuierlich weitergeführt. Eine Nachfolge von Frau Dr. Bergmann wird spätestens mit Ende des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ Ende November erwartet. Noch immer gehen täglich zwischen 40 und 60 Anrufe in der telefonischen Anlaufstelle ein, die bei Zustimmung fortgesetzt dokumentiert werden. Seit April 2010 sind inzwischen 23.500 Anrufe und Briefe in der Anlaufstelle eingegangen. Den Endbericht sowie die Zwischenberichte der wissenschaftlichen Begleitforschung finden Sie unter www.beauftragte-missbrauch.de.Quelle: Pressemitteilung der Geschäftsstelle Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs vom 17.11.2011