Chancengerechtigkeit: Nachholbedarf in allen Bundesländern

"Chancenspiegel" leistet erstmals umfassende Bestandsaufnahme: Wie gerecht und leistungsstark sind unsere Schulsysteme? Ergebnis: Chancengerechtigkeit und Leistungsstärke sind vereinbar, aber kein Bundesland ist überall spitze

Die Chancen von Schülern, soziale Nachteile zu überwinden und ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen, unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland deutlich. Das zeigt der Chancenspiegel, mit dem die Bertelsmann Stiftung und das Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der Technischen Universität Dortmund die Schulsysteme aller Bundesländer auf Chancengerechtigkeit untersucht haben. Ergebnis: Kein Land ist überall spitze, kein Land überall Schlusslicht – aber die Unterschiede zwischen den Ländern sind erheblich. Mit dem Chancenspiegel möchten Bertelsmann Stiftung und IFS mehr Transparenz über die Chancengerechtigkeit in den deutschen Schulsystemen schaffen. "Es wird zwar viel über Chancengerechtigkeit debattiert, aber als Diskussionsgrundlage fehlt bislang ein Ländervergleich, der auf Fakten beruht", sagte Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung. Der Chancenspiegel soll ein Schritt sein, diese Lücke zu füllen. Er versucht erstmals für Deutschland, Chancengerechtigkeit konkret zu erfassen und vergleichbar zu machen, damit Wissenschaft und Politik dieses zentrale Thema künftig besser diskutieren und bewerten können. Dafür haben die IFS-Wissenschaftler um Professor Wilfried Bos für jedes Bundesland analysiert, wie gerecht und wie leistungsstark das dortige Schulsystem ist. Der Chancenspiegel bewertet Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der Schulsysteme in vier Dimensionen: Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe. An ihnen kann man ablesen, wie integrativ Schulsysteme sind, ob sie soziale Nachteile wettmachen, Klassenwiederholungen und Schulabstiege vermeiden, welche Lesekompetenzen sie vermitteln, wie viele Schüler sie zur Hochschulreife führen oder wie erfolgreich insbesondere Schulabgänger ohne oder nur mit Hauptschulabschluss sind, einen Ausbildungsplatz zu finden. Im Kern beschreibt der Chancenspiegel somit, wie die Schulsysteme der Länder mit Vielfalt umgehen: Inwiefern werden starke ebenso wie schwache Schüler gefördert? Werden diejenigen wirksam unterstützt, die schon bei der Einschulung benachteiligt sind? "Die Bundesländer müssen deutlich mehr voneinander lernen." Das ist für Jörg Dräger die zentrale Schlussfolgerung aus den großen Unterschieden zwischen den Ländern, die der Chancenspiegel abbildet. Das Ausmaß der Unterschiede verdeutlichen einige Beispiele: In Sachsen-Anhalt ist der Anteil der Kinder, die auf einer separaten Förderschule unterrichtet werden und keinen Zugang zur Regelschule haben, nahezu drei Mal höher als in Schleswig-Holstein. Und in Sachsen besuchen drei von vier Schülern eine Ganztagsschule, in Bayern nicht einmal jeder zehnte. "Hier bestehen Gerechtigkeitslücken, denn sowohl die Ganztagsschule als auch der Besuch einer Regel- statt einer Förderschule steigern die Bildungschancen", sagte Dräger. Ein regionales Gefälle zeigt sich auch im Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz, der in Bremen fast doppelt so hoch ist wie in Brandenburg. Eine Hochschulzugangsberechtigung erreichen in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, im Saarland und in Baden-Württemberg jeweils mehr als die Hälfte der Schüler – in Mecklenburg-Vorpommern nicht einmal 36 Prozent. IFS-Direktor Professor Bos betonte, dass ausnahmslos alle Bundesländer Entwicklungsbedarf haben. "Wir hoffen, dass der Chancenspiegel die bildungspolitische Debatte um Chancengerechtigkeit in Deutschland zu versachlichen hilft", sagte Bos. Wünschenswert für die Zukunft sei eine bessere und transparentere Datenlage. "Die Ergebnisse des Chancenspiegels können durchaus als Argumente für einen Wettbewerbsföderalismus verwendet werden. Dafür allerdings ist es unverzichtbar, die Vergleichbarkeit zu stärken. So wäre es zum Beispiel auch interessant, die Abschlüsse von inklusiv beschulten Kindern zu vergleichen mit den Abschlüssen von Förderschülern. Hier besteht noch Entwicklungspotenzial in der Datenbereitstellung der allgemeinen Statistik", warb Bos für eine größere Offenheit der Länder gegenüber vergleichenden Länderstudien.  Der Chancenspiegel zeigt auch, dass Schulsysteme in Deutschland durchaus fair und leistungsstark zugleich sein können. In Sachsen etwa ist das Schulsystem vergleichsweise durchlässig: Die Chancen für Kinder aus unteren Sozialschichten auf einen Gymnasialbesuch sind relativ gut, nur wenige Schüler bleiben sitzen. Sachsen überzeugt aber nicht nur in dieser Gerechtigkeitsfrage, sondern auch bei der Kompetenzförderung. Sowohl die leistungsstärksten als auch die leistungsschwächsten Schüler gehören deutschlandweit zu den Besten ihrer jeweiligen Vergleichsgruppe. "Leistung und Gerechtigkeit sind im Bildungssystem kein Widerspruch – und dürfen es auch nicht sein. Gute Bildungspolitik strebt beide Ziele gleichermaßen an", sagte Dräger. Information zum Instrument: Der Chancenspiegel versteht sich als ein ergänzendes Instrument der Bildungsberichterstattung. Er basiert auf einem umfassenden Verständnis von Chancengerechtigkeit, das unterschiedliche Theorieansätze zusammenführt und operationalisiert. In den vier Dimensionen Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe bewertet der Chancenspiegel ausgewählte Indikatoren aus den amtlichen Statistiken und empirischen Leistungsvergleichsstudien. Ein Gruppenvergleich stellt die Chancenprofile der Bundesländer dar. Alle Informationen sind übersichtlich und grafisch aufbereitet unter www.chancen-spiegel.de. Der Chancenspiegel wird in den kommenden Jahren fortgeschrieben.

Quelle: Pressemitteilung der Bertelsmann Stiftung vom 11.03.2012
www.bertelsmann-stiftung.de