Diagnostik ist keine Sekundenaufnahme!

von Maja Arlt
30.10.2012 | Kinder-/Jugendhilfe | Nachrichten

Bericht zur Tagung "In guten Händen?" Clearing und Diagnostik in den Hilfen zur Erziehung

Fachtagung, 11.-12.10.2012, Berlin Am 11./12. Oktober hat die Tagung "‘In guten Händen?‘ Clearing und Diagnostik in den Hilfen zur Erziehung" in Berlin stattgefunden. Sie wurde in Kooperation der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik und dem AFET Bundesverband für Erziehungshilfe e.V. veranstaltet. 190 interessierte Fachkräfte aus der öffentlichen und freien Jugendhilfe wurden gemeinsam von Bruno Pfeifle, Jugendamt Stuttgart, und Rainer Kröger, AFET - Bundesverband für Erziehungshilfe e. V., Hannover, begrüßt. Das große Interesse an der Tagung zeige, dass Diagnostik (noch immer) ein zentrales und vieldiskutiertes Thema im Jugendhilfealltag ist. Gerade weil in den letzten Jahren ein steigender Problemdruck und multiple Problemlagen von Eltern, Kindern und Jugendlichen und damit verbunden eine steigende Nachfrage und ein steigender Bedarf an Jugendhilfe zu konstatieren sind, sind Clearing und Diagnostik umso mehr unverzichtbare Voraussetzungen für eine gelingende Fallarbeit. Nicht das Verhindern von Hilfe, sondern die bestmögliche Hilfe anzubieten, muss daher stets das Ziel von Clearing und Diagnostik in den Hilfen zur Erziehung bleiben. Darauf verwies Bruno Pfeifle in seiner Begrüßung. Für Rainer Kröger bot die Veranstaltung die Gelegenheit, Fachkräfte öffentlicher und freier Jugendhilfe zusammenzuführen und ihnen als den Praktiker/innen Wege aufzuzeigen, wie Hilfebedarfe genauer erkundet und geplant werden können. Hierzu wurden auf der Tagung Forschungs- und Praxiserfahrungen vorgestellt und diskutiert.

Zum Steuerungs-Spielraum im Jugendamt

Steuerungsverantwortung des Jugendamtes bei den Hilfen zur Erziehung (HzE)- Welche Rolle haben Diagnostik und Clearing? Zum Tagungsauftakt widmete sich Dr. Frank Lammerding, Jugendamt Oldenburg, der Steuerung im Jugendamt: Was steuert die HzE? Was und wie kann das Jugendamt bei den erzieherischen Hilfen steuern? Hierzu stellte er Erkenntnisse der integrierten Berichterstattung in Niedersachsen (IBN) und der Organisationsuntersuchung im Jugendamt Oldenburg vor. Im Rahmen von IBN wird eine Vielzahl von Daten sowohl zur Jugendhilfe als auch zur Sozialstruktur in den Zuständigkeitsbereichen der Jugendämter Niedersachsens erfasst. Die IBN-Analysen zeigen, dass Unterschiede in der Höhe der Jugendhilfequoten – bei den ambulanten wie stationären Hilfen – nicht oder nur zu einem geringen Teil auf sozialstrukturelle Bedingungen zurückgeführt werden können. Wenn demzufolge eher "interne", das Jugendamt betreffende Faktoren als "externe" Faktoren Jugendhilfeleistungen determinieren, gilt es die Steuerungsmöglichkeiten des Jugendamtes zu identifizieren. In Bezug auf die Fallsteuerung der HzE im Bereich Anamnese, Clearing und Diagnostik ergab die Organisationsuntersuchung im Jugendamt Oldenburg, dass eine standardisierte Bedarfsermittlung notwendig ist – basierend auf verbindlichen Qualitätsstandards, einheitlichen Diagnostikinstrumenten sowie klaren Aufgabenstellungen im ASD. Konsequenz dessen war eine entsprechende Neuausrichtung der Bearbeitungsstandards für die erzieherischen Hilfen in der Stadt Oldenburg. Anliegen ist es, dass diese Steuerungsbemühungen des Jugendamtes dazu beitragen, dass die Bürger/innen Oldenburgs die erforderlichen Hilfen erhalten.

Die Fragen aller Fragen…

Was sind die "sozialarbeiterischen Regeln der Kunst"? Diese Frage und die Frage "Was ist diagnostische Kompetenz in der Kinder- und Jugendhilfe?" galt es unbedingt zu klären, da Diagnostik im Rahmen der Gewährungspraxis von Hilfen ein steuerungsrelevanter Aspekt ist. Diese Aufgabe übernahm Prof. Dr. Silke Gahleitner, Donau-Universität Krems/Alice-Salomon-Hochschule, Berlin. Für sie bestehen aus sozialpädagogisch forschender Sicht die sozialarbeiterischen Regeln der Kunst bei der sozialen Diagnostik darin:
  • Komplexität abzubilden und Strukturierung zu ermöglichen,
  • (Nicht-)Intervention fachlich zu begründen,
  • sich an Fragen der Inklusion zu orientieren,
  • Selbstaneignungsprozesse zu fördern und
  • den Dialog zu unterstützen.
Diese "Regeln der Kunst" klingen in der Theorie so banal, aber erweisen sich in der Alltagspraxis des Öfteren doch als schwierig. So werde häufig im Rahmen der Datensammlung und Datenintegration der Blick verengt, bevor er überhaupt erweitert wurde. Für das richtige Verhältnis von Quantität und Qualität an Informationen bedarf es einer mehrstufigen psychosozialen Diagnose. "Adäquates Verstehen" erfordert dreifaches Professionswissen aus einer operationalisierbaren Diagnostik (Instrumenteneinsatz), einer biografischen Diagnostik (rekonstruktives Fallverstehen) und einer Sozial- und Lebenswelt-Diagnostik (Passung). Nur auf diesem Wege könne sich der Realität angenähert werden. Und wie viel diagnostische Kompetenz braucht der ASD dafür? Von Prof. Silke Gahleitner kurz und knapp ausgedrückt: "ganz viel". Der ASD hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, den Diagnoseprozess fachkundig zu steuern, er ist die Schlüsselstelle. Dafür müssen die ASD-Mitarbeiter/innen den gesamten Diagnoseprozess fachlich „überblicken“; dazu über das Zusammenhangswissen der einzelnen Prozessschritte verfügen. Hierfür wiederum ist eine qualifizierte Praxis ein Muss. Daher rief Prof. Silke Gahleitner die Fachkräfte der Jugendhilfe auf, sich stärker in den diagnostischen Fachdiskurs einzubringen und die therapeutische Kompetenz in die Jugendhilfe zurück zu holen. Wer diagnostiziert? Umsetzung intern oder extern? Dieser Fragestellung nahmen sich zwei Praktiker/innen an. Johannes Schmitt-Althaus, Jugendamt Stuttgart hielt ein Plädoyer für "interne" Diagnostik vom ASD im Jugendamt und Sybill Radig, Amt für Jugend, Familie und Bildung der Stadt Leipzig, hielt ein Plädoyer für "externe" Diagnostik mit Fokus auf deren Chancen und Risiken.

Es gibt kein Entweder-Oder. Diagnostik im Dialog

Beide Plädoyers machten deutlich, dass Diagnostik in "jedem FALL" gebraucht wird, denn ohne Diagnose ist weder ein Zugang zu Erziehungshilfeleistungen noch zu anderen Hilfesystemen zu bekommen. Sie ist Teil des Eingangs- und Fallmanagements im ASD, wobei weder interne noch externe Diagnostik sich dabei gegenseitig ausschließen. Sind die ASD-Mitarbeiter/innen als "interne Diagnostiker" demnach wirklich nur "intern" unterwegs? Diagnostik im Rahmen der HzE erfolge "dialogisch". Das Zusammenwirken des ASD mit den anderen beteiligten Fachdiensten und Fachprofessionen sowie den Betroffenen gewährt den „ergebnisoffenen, multiprofessionellen Rundumblick“. In diesem Kontext versteht Sybill Radik "externe" Diagnostik auch als Serviceleistung für den ASD. Der Nutzen externer Diagnostik bestehe vor allem darin, dass Externe sich voll und ganz auf die Diagnostik mit dem Klienten, deren Familie und Dritten widmen können – ohne das Wirtschaftlichkeitsprinzip des ASD im Kopf zu haben. So lassen sich auch eher jene Hilfen entwickeln, zu denen die Betroffenen Zugang und Anschluss finden. Clearing und Diagnostik in den Hilfen zur Erziehung oder "Viele Wege führen nach Rom?" Nach den Fachbeiträgen boten sieben Arbeitsgruppen den Tagungsteilnehmer/innen die Möglichkeit, in der Praxis erprobte (teil)stationäre und ambulante Diagnostikmodelle von Jugendämtern und Einrichtungen der freien Jugendhilfe kennen zu lernen und diese gemeinsam im Hinblick auf folgende Frage zu diskutieren:
  • Was sind die Anforderungen und Rollen der Professionellen auf Seiten der öffentlichen und freien Träger im Prozess sozialarbeiterischer Diagnostik?
  • Was ist die Kernaufgabe des ASD bei ambulanter und stationärer Diagnostik?
  • Welche Leistung soll im ASD und welche beim Träger der freien Jugendhilfe unter welchen Voraussetzungen und wie lange mit welcher konkreten Zielsetzung erbracht werden?
  • Wie lauten die Kriterien für eine Herausgabe des Clearings an einen freien Träger?
  • Welche Verfahren und Methoden sind anzuwenden?

Die Nichtstandardisierbarkeit sozialer Probleme führt zur Nichtstandardisierbarkeit von Clearing und Diagnostik!

Dies zeigte der Erfahrungsaustausch in den AGs. In der Jugendhilfepraxis – sowohl bei öffentlichen als auch bei freien Trägern – haben sich unterschiedliche Ansätze zur Gestaltung des Diagnostikprozesses entwickelt. Diese bunte Vielfalt an diagnostischen Arbeitsweisen, aber auch Positionen, ist ein Muss, denn jeder ASD und jede andere Einrichtung der Jugendhilfe hat das Diagnostikangebot auf die Klientel zu adaptieren. Viele Wege führen nach Rom! Wichtig für den Weg seien: gesicherte Organisationsstrukturen, professionelle, vereinbarte Diagnostikverfahren, Regeln für den kooperativen Diagnostik- und Beratungsprozess sowie qualifiziertes Personal. Damit ein Fall "in guten Händen" bleibt. Gestaltung von Übergängen im Hilfeprozess

Es gilt, eine klare Perspektive zu verfolgen und Kontinuität zu wahren.

Welche fachlichen und strukturellen Aspekte im Rahmen des Diagnose- und Hilfeplanverfahrens zu beachten sind, damit ein Fall "in guten Händen" bleibt und aus einem Übergang im Hilfeprozess kein Abbruch wird, dazu referierte Prof. Dr. Werner Freigang, Hochschule Neubrandenburg, Institut für Weiterbildung (IfW), am zweiten Tagungstag. Wie sich ein Übergang auswirkt, ist davon abhängig, wie er vorbereitet wird und wie dabei an vorherige (Hilfe-)Prozesse angeknüpft wird. Da jeder Übergang eine zu bewältigende Entwicklungskrise mit Risiken und Chancen darstellt, ist im Verlauf des Hilfeprozesses darauf zu achten, dass eine langfristige und abgesicherte Perspektive für das Kind bzw. den Jugendlichen und ein "langsamer Wandel" mit überschaubaren Veränderungen verfolgt wird. Je geringer und gezielter die Veränderungen sind, desto geringer sind die Risiken. Aus Sicht von Prof. Freigang sind "schädliche" Nebenwirkungen aber unvermeidlich und müssen daher von den Helfenden "einkalkuliert" werden. Darüber hinaus bedarf es weiterer struktureller und fachlicher Aspekte:
  • Zugänglichkeit von Diagnose- und Hilfsangeboten vor Ort,
  • Vernetzung und Verweisungswissen der Akteure,
  • Möglichkeiten der "Doppelhilfe" - Ergänzen statt Ersetzen,
  • Partizipation auch und gerade in Krisenzeiten,
  • Orientierung an bedeutsamen biografischen Themen,
  • eine Fachkraft als Guide, die den jungen Menschen und den Übergang begleitet.
Werden diese Kriterien erfüllt, ist der Weg dafür geebnet, dass "aus einem Übergang kein Untergang" wird. In der Praxis gelebt - aus der Praxis erzählt:
Übergangsgestaltung im Tandem aus öffentlicher und freier Jugendhilfe

Fall von…, Fall für…, Fall mit…

Wie lassen sich Übergänge im Hilfeprozess im Jugendhilfealltag gemeinsam von öffentlicher und freier Jugendhilfe gestalten, damit ein Fall "in guten Händen" bleibt? Hierzu boten das Marburger Tandem – Christian Meineke, Jugendamt Marburg, und Karl Klefenz, St. Elisabeth Verein e. V. in Marburg – anhand zweier Fallbeispiele praktische Einblicke in die gemeinsame Marburger Clearing- und Diagnostik-Praxis.

"Hand in Hand" und auf gleicher Augenhöhe arbeiten.

Das Darmstädter Tandem – Klaus Fischer, Jugendamt Darmstadt, und Claudia Dröge, Projekt PETRA in Darmstadt – stellte das gemeinsame Clearingkonzept im Rahmen von Inhobhutnahmen (nach § 42 SGB VIII) vor. Ihre Erfahrungen aus der Zusammenarbeit beim Clearing haben gezeigt: Damit ein Fall "in guten Händen" bleibt, bedarf es vor allem:
  • einer verbindlichen Struktur und Transparenz – insbesondere an den Schnittstellen,
  • eines engen (Fach-)Austausches zwischen allen am Clearingprozess Beteiligten,
  • der Objektivität und Unabhängigkeit der Clearing-Beauftragten,
  • einer konkreten Fragestellung beim Clearing,
  • einer klaren, aber auch realisierbaren Empfehlung bezüglich der Perspektive des Klienten,
  • einer Empfehlung in einer für alle verständlichen Sprache, keine fremde Fachterminologie.
Was motiviert Menschen, ihr Verhalten zu ändern?

Eigenverantwortung zusprechen und diese aktivieren.

Da Diagnostik allein nicht ausreicht, damit eine Hilfe wirksam wird, nahm sich zum Tagungsabschluss Prof. Dr. Jürgen Körner, International Psychoanalytic University, Berlin, der Fragestellung an, was Menschen motiviert, ihr Verhalten zu ändern. Hierzu stellte er drei Täter-Persönlichkeiten und ihre Motive vor. Das Verstehen der Motive für ein Verhalten ist unabdingbar und daher Aufgabe der Diagnostik, um überhaupt Veränderungen einleiten zu können. Denken, Fühlen und auch entsprechend Handeln!? Dahingehend musste Prof. Jürgen Körner die Fachkräfte enttäuschen. Da Einstellungs- und Verhaltensänderung nur gering miteinander korrelieren, sind Einstellungsveränderungen allein weitgehend unwirksam. Damit ein Mensch sein Verhalten ändert, muss er nicht nur über kognitive Kompetenzen verfügen, sondern Empathie und Perspektivübernahme lernen. Vor allem muss er auch moralisch handeln "wollen". Wozu sollte ein dissozialer junger Mensch sich ändern wollen? Dafür braucht er positive Bindungserfahrungen und ein "Ich-Ideal": ein Bild, wer er sein will. Demzufolge wird er sich ändern wollen, um seine Bezugsperson(en) und später sein Ich-Ideal nicht zu enttäuschen. Das bedeutet für die Arbeit mit dissozialen jungen Menschen, deren Selbstreflexivität, die Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken, zu fördern und den jungen Menschen selbst und nicht sein Verhalten als Bezugsgröße zu nehmen. Aber am wichtigsten ist es, dem jungen Menschen die Eigenverantwortung zuzusprechen und zu übertragen, sich zu entscheiden, ob er sich ändern oder scheitern möchte. Der junge Mensch darf und muss sich entscheiden! Auch wenn allen am Ende der Tagung bewusst war, dass die Diagnose allein nicht ausreicht, damit Hilfen wirksam werden können… Eine fachlich umfassende und gut begründete Diagnose ebnet doch entscheidend den Weg für eine erfolgreiche Hilfe. Aber, um mit den Worten von Frau Schaefer, Jugendamt Stuttgart, zu schließen: Der Erfolg hängt auch von der professionellen Neugier der Fachkräfte und vom coproduktiven Prozess des Fallverstehens ab – mit dem Ziel, Motivation zu erzeugen und Hoffnung zu wecken bei den Familien, die die Unterstützung und Begleitung durch die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe eine Zeitlang brauchen. Autorin
Maja Arlt
Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik
Kontakt: arlt@difu.de