Ein Wettlauf zwischen Hase und Igel - oder Betreuungsquote gegen den tatsächlichen Bedarf - Ein Tagungsbericht -
Die Fachtagung „Ist hier noch ein Platz frei? Der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab 2013 – „Traumquote oder erfüllbarer Auftrag mit Qualitätsgarantie?“ fand am 01./02. März 2012 gemeinsam vom Deutschen Städtetag (DST) und dem Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu) in Berlin statt. Bereits 2007 wurde dieses kommunalpolitisch wichtige Thema im Rahmen eines Difu-Brennpunkt-Seminars diskutiert. Damals hatte sich die große Koalition darauf verständigt, ab 2013 den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz einzuführen und eine Versorgungsquote von 35 % zu sichern, die der Bedarfsschätzung des Bundes zugrunde lag. Fünf Jahre später wurde nun darüber diskutiert, wie der Realisierungsstand dieser wichtigen familienpolitischen Maßnahme in den einzelnen Bundesländern und Kommunen aktuell aussieht. Die inhaltliche Debatte der Tagung war deshalb insbesondere auf folgende Aspekte ausgerichtet:- Wie weit ist es bisher gelungen, den quantitativen Bedarf an Kinderbetreuungsplätzen für unter Dreijährige zu decken?
- Ist die hierfür erforderliche Infrastruktur vorhanden?
- Ist gewährleistet, dass für die frühkindliche Erziehung und Bildung genügend qualifiziertes Fachpersonal zur Verfügung steht?
- Welche Steuerungsmöglichkeiten hat eine Kommune, um die Erfüllung des Rechtsanspruchs sicherzustellen?
- Was mache ich im „Fall X“ bzw. was können Kommunen tun, die es nicht schaffen werden, den gesetzlich verankerten Rechtsanspruch bis August 2013 sicherzustellen?
Ausbau der Kindertagesbetreuung - Sich den Problemen stellen
Die Tagung wurde im Dreiklang von Dr. Stephan Articus, Geschäftsführendes Präsidialmitglied des DST, Prof. Dr. Klaus.-J. Beckmann, Institutsdirektor des Difu sowie von Josef Hecken, Staatssekretär im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Berlin, eröffnet. Herr Dr. Articus betonte in seiner Eröffnung, dass der Deutsche Städtetag bereits im vergangenen Herbst eindringlich darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Realisierung des Rechtsanspruchs zum 01.08.2013 in vielen Städten gefährdet ist. Bund und Länder seien daher aufgefordert, die Situation gemeinsam mit den Kommunen zeitnah zu überprüfen und schnell geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Zweifellos seien mit dem notwendigen Ausbau der Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren noch enorme Herausforderungen verbunden. Kommunen, die das erforderliche Betreuungsangebot vor Ort (noch) schaffen müssen, ständen dabei vor großen planerischen und finanziellen Aufgaben, weil die Bedarfe in vielen Städten weit über die ursprünglich von der Bundesregierung angepeilte 35 %-Quote hinausgingen. Trotz erheblicher Zuwachsraten bei den Betreuungsplätzen ist das Ausbauziel im Jahr 2013 nach Einschätzung vieler Kommunen stark gefährdet. Oftmals fehle es an geeigneten Grundstücken für die geplanten Baumaßnahmen. Zudem bestehe in einigen Städten die große Sorge, dass die rechtzeitige Realisierung des Rechtsanspruchs aufgrund des Fachkräftemangels scheitern wird. Deshalb müsse gemeinsam überlegt werden, wie Übergangsszenarien realistisch ausgestaltet werden können und ob aufgrund der sehr unterschiedlichen Situation in den einzelnen Regionen eine zeitlich befristete Öffnung des Gesetzes für länderspezifische Lösungen denkbar wäre.Ausbau der Kindertagesbetreuung – ein wirtschaftlicher Standortfaktor
Prof. Dr. Beckmann beleuchtete das Thema aus der Stadtplanungs- und Stadtentwicklungsperspektive und machte deutlich, dass ein ausreichendes Angebot an Kindertagesbetreuung ein wichtiger Standortfaktor für Kommunen im Sinne von Familienfreundlichkeit ist. Klar sei aber auch, dass die prekäre Haushaltslage vieler Kommunen hier nicht immer den gewünschten Spielraum lasse. Es gebe aber eine große Kreativität in den Städten, die damit verbundenen Probleme zu lösen und damit ihre Kommunen für die Bürger und Fachkräfte attraktiver zu machen.Ausbau der Kindertagesbetreuung - Nicht einfach, aber (noch) machbar
Staatssekretär Hecken betrachtete den aktuellen Ausbaustand mit großer Sorge und stellte fest, dass die Ausbaudynamik erheblich nachgelassen habe und noch nicht alle vom Bund zur Verfügung gestellten Mittel auch abgerufen worden seien. Es bedürfe darum einer klaren Analyse, was getan werden kann, um den Ausbauauftrag fristgerecht zu erfüllen.Die Kommunen hätten riesige Anstrengungen unternommen, aber nicht alle Länder sind ihrer Mitfinanzierungsverpflichtung in vollem Umfang nachgekommen. Das sei problematisch. Als eine Lösungsmöglichkeit hob er die Bedeutung und weitere Etablierung der Kindertagespflege als eine Betreuungsmöglichkeit unter Dreijähriger besonders hervor. Insgesamt ginge es um Lebensperspektiven und Chancengerechtigkeit von Anfang an. Er verwies dabei u.a. auf den aktuellen Familienatlas des Deutschen Jugendinstituts (DJI) sowie auf eine Elternbefragung, die einen (langfristig stabilen) bundesweiten Bedarf von insgesamt 39% Betreuungsquote ergeben habe. Wenn alle gemeinsam, Bund, Länder und Kommunen ihre Verantwortung wahrnehmen, seien „die 35%“ noch machbar. Eine wichtige Aussage von Herrn Hecken war, dass bisher nicht abgerufene Bundesmittel nach 2013 nicht zurück in den Bundeshaushalt gegeben werden müssen, sondern den Kommunen weiter zur Verfügung stehen. Standards für die Kindertagesbetreuung müssten (neu) definiert werden.
Das (den Familien) gegebene Versprechen halten, aber wie?
Verena Göppert, Beigeordnete im DST, machte in ihrem Beitrag sehr deutlich: Das eigentlich wichtige neben der vom Bund vorgegebenen Quote von 35% sei, den geschaffenen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz einzulösen. Die bundesweite Quote „vernebele“ die örtlichen tatsächlichen Bedarfe, die nach der bereits von Herrn Hecken genannten DJI-Studie zwar insgesamt bei 39% liegen, aber im Osten 51% und im Westen 37% betragen. Sie fragte, was mit der Verpflichtung zur Mitfinanzierung der Länder „passiert“ sei. Eine Schuldzuweisung vom Bund an die Länder und Kommunen sei dabei nicht hilfreich. Ausbauhemmnisse sind u.a.: dass vielerorts ausgeschöpfte Potenzial von Umbaumöglichkeiten und der Umwandlung von Ü3-Plätzen, fehlende Grundstücke und fehlende Erzieherinnen sowie die auch wegen des Konjunkturpaketes überlasteten Bauämter.Und nun? Es helfe nur, gemeinsam zu überlegen: Welche Grenzen haben wir, welche Möglichkeiten gibt es (noch), Plätze zu schaffen und was kann getan werden, wenn es nicht gelingt, den geplanten Ausbaustand zu realisieren?
Druck von der Politik, Druck von den Eltern – oder alles kein Problem?
Unter dieser Überschrift folgten drei Statements aus der kommunalen Praxis in Heidelberg, Bremen und Duisburg, die genauer in der Dokumentation zur Tagung nachzulesen sein werden. Nur so viel: In allen drei Städten werden im letzten Jahrzehnt enorm gewachsene Bedarfe für die Kindertagesbetreuung festgestellt, 2 Städte schaffen die Quote (Heidelberg und Bremen), eine nicht. Um genügend Betreuungsplätze bereit zu stellen, sei eine denkbare Ausweichlösung, die Qualitätsstandards „passend“ zu machen.Aber wie passt das dann mit der geforderten und für enorm wichtig befundenen frühkindlichen Bildung zusammen? Dieser damit verbundene Widerspruch lasse sich im Moment nicht lösen. Anschließend fand ein intensiver Erfahrungsaustausch in Arbeitsgruppen zu den Themen „Steuerungsmöglichkeiten“, „Tagespflege“, „Finanzierung“ sowie „Infrastruktur/Personal“ statt, deren Ergebnisse Monika Frank aus Bremen für alle Teilnehmer/innen im Plenum zu Beginn des zweiten Arbeitstages zusammenfasste. Einige Stichwörter hierzu blitzlichtartig waren:
- Die meisten westdeutschen Städte sind weit von 35% entfernt,
- Finanzen reichen nicht aus, auch um die Qualität zu sichern,
- Nachlassende Ausbaudynamik (nicht abgerufene Mittel),
- 30% Tagespflege in allen Regionen unrealistisches Ziel (qualitativ hochwertige Tagespflege ist keine Billiglösung),
- Betriebskitas kein Wachstumsmodell,
- Gewinnung von Fachkräften (in Städten mit hohen Lebenshaltungskosten) schwierig,
- Nischen sind schon alle entdeckt (Vergaberecht hält Prozesse auf).
Zeit für Beziehung
Kirsten Fuchs-Rechlin, Dortmunder Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik, Universität Dortmund, referierte aus der Forschungsperspektive. Flexible Betreuung reiche von der Ausweitung der Öffnungszeiten auf atypische Tageszeiten oder Wochentage, über die Buchung von Betreuungsbausteinen und Kernzeitmodellen bis hin zur partiellen, auch unregelmäßigen Nutzung der Öffnungszeiten einer Einrichtung. Je nachdem, welches Modell flexibler Betreuung in den Blick genommen werde, gestalten sich die Herausforderungen an Träger und Einrichtungen, Eltern und Kinder sehr unterschiedlich. Was Eltern wünschen, sei natürlich, viel Zeit selbst mit ihren Kindern zu verbringen. Darum brauchen sie Betreuungsangebote, die sich gut mit ihren beruflichen Rahmenbedingungen vereinbaren lassen. Mit Blick auf die Ergebnisse einer Elternbefragung bevorzugen z.B. 71% der Eltern im Westen gegenüber 89% im Osten einen Halbtagsplatz für ihr Kind. In Ostdeutschland wünscht sich aber die Mehrheit der Eltern einen Dreiviertelplatz für ihr Kind, sicher auch aufgrund gelebter Traditionen. Was Kinder brauchen, sind stabile Bezugspersonen bzw. -erzieherinnen, die entwicklungsfördernd für das Kind sind, auch dies müsse bei aller Flexibilität genügend Beachtung finden. Aber: Wie viel Zeit braucht ein Kind, um verlässliche Beziehungen zu Erzieher/innen aufzubauen? Wie viel Zeit braucht eine Erzieherin, um ein Kind kennen zu lernen? Und wie viel Zeit braucht ein Kind, um in seiner Kitagruppe „anzukommen“? Auch darüber sei nachzudenken, wenn es um (Mindest)Standards geht.Die Münchener Förderformel als Steuerungsinstrument
Dr. Susanne Herrmann, Leiterin des Referats Kindertagesbetreuung in München, berichtete, dass der aktuelle Ausbaustand zwar aktuell bei 36% liegt, aber der Bedarf weitaus höher bei 68% sei. Aber auch die seien perspektivisch noch nicht ausreichend. Betreuungsplätze würden nach zwei Prioritäten vergeben. Zu ersten Priorität gehören Kinder mit Hilfeplan, zur zweiten erwerbstätige, in Ausbildung befindliche sowie arbeitssuchende Eltern. Wichtig in diesem Kontext ist die Sicherung von Bildungsgerechtigkeit und Familienentlastung. Problematisch sei aber die Suche nach geeigneten und qualifizierten Fachkräften. Hier würden zur Gewinnung von Fachkräften z.B. Schnupperwochenenden für Erzieher/innen in München angeboten. „Münchner Förderformel“, das bedeutet eine belastungsorientierte Budgetierung im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit und Familienentlastung durch zusätzliche (über die gesetzliche Forderung hinausgehende) freiwillige Bezuschussung durch die Stadt München. Die wesentlichen Elemente der bzw. Grundsätze dieser Förderformel sind:- Einführung einer Gebührenobergrenze/ soziale Gebührenstaffelung,
- Verbesserung des Anstellungsschlüssels,
- höhere Förderung für Einrichtungen in sozial belasteten Stadtteilen,
- zusätzliche Förderung für die Reduzierung von Schließtagen,
- zusätzliche Förderung für die Betreuung von unter drei jährigen Kindern,
- zusätzliche Förderung für die Aufnahme von Kindern im Rahmen der Erziehungshilfe bzw. auf Vorschlag der Bezirkssozialarbeit,
- Kontinuität in der Betreuung durch Bezuschussung von Aushilfen.
Was mache ich im „Fall X“?
Dr. Thomas Meysen, Fachlicher Leiter des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. Heidelberg, sprach über diese – fast alle im Plenum bewegende – Frage. Wie lauteten seine Antworten? Ein nicht erfüllter Rechtsanspruch ist ein rechtswidriger Zustand. Der Bedarf muss gedeckt werden, wenn er von Bürger/inne/n angemeldet wird, egal wie hoch die Quote an Betreuungsplätzen U3 ist. Was kann nun aber getan werden, wenn erkennbar wird, dass es die Kommune bis zum August 2013 nicht schafft, den Rechtsanspruch umzusetzen und genügend Kitaplätze bereitzuhalten?Eine der möglichen Varianten wäre, einen Platz in der Kindertagespflege anzubieten, da es einen Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertages-pflege gibt. Eine Klage auf Zuweisung eines bestimmten Kita-Platzes hingegen hätte nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn einer zur Verfügung steht. Ein Gericht kann bei einer Klage also nicht einen nicht vorhandenen Platz zusprechen, jedoch aber auf Schadensersatz verweisen. Die Empfehlung von Dr. Thomas Meysen lautete im Falle eines Gerichtsstreites eine Verpflichtung auf Schaffung eines Platzes in angemessener Zeit auszusprechen und über (zeitweise) Gruppenvergrößerungen und Ausnahmegenehmigungen nachzudenken. Anschließend referierte Dr. Meysen noch ausführlich zum Thema „Schadenersatz bei Nichterfüllung des Anspruchs“.
Ein Versprechen aller, am Thema zu bleiben …
An der abschließenden Podiumsdiskussion, die sich mit der Fragestellung „Auf der Suche nach Lösungen. (Wie) Ist der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab 2013 noch (rechtzeitig) zu schaffen?“ auseinandersetzte, nahmen Vertreterinnen und Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen teil.Als Gesprächspartner eingeladen waren:
- Isabel Fezer, Bürgermeisterin der Landeshauptstadt Stuttgart, Referat Soziales, Jugend und Gesundheit
- Verena Göppert, Beigeordnete, Leiterin des Dezernats Arbeit, Jugend, Gleichstellung und So-ziales, Deutscher Städtetag, Berlin
- Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen Jugendinstituts e.V., München
- Lutz Stroppe, Abteilungsleiter, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin
- Manfred Wahlhorn, Abteilungsleiter, Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf.
- keine starren Quoten, sondern örtlicher Bedarf ist entscheidend,
- rechtzeitig über Ausnahmegenehmigungen und Absenkung von Standards reden,
- eng getaktete Beobachtung der Ausbautätigkeit,
- Sicherstellung der Finanzierung,
- keine Verlängerung der Ausbaufristen, wenn der Bedarf über 35% liegt, sollte es neue Bundesmittel geben,
- gemeinsame politische Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen für die Zielerreichung.
Kerstin Landua
Leiterin des Arbeitsbereichs Fortbildung
im Deutschen Institut für Urbanistik, Berlin
Kontakt: landua@difu.de