"Ich will wieder eine Mama"

Neues LWL-Projekt will Heimkarrieren von traumatisierten Kindern verkürzen

Hamm/Westfalen (lwl). Egal was die Kinder Schlimmes erlebt haben, oft schon nach einem Jahr im Therapie- und Diagnosezentrum, das der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) in Ascheberg (Kreis Coesfeld) betreibt, haben sie nur einen Wunsch: Sie wollen wieder in einer Familie leben. Doch das geht immer seltener. Es fehlt an Pflegefamilien, die bereits sind, auch traumatisierte Kinder im Grundschulalter aufzunehmen, denn 2010 stieg die Zahl der Kinder, die Jugendämter in Nordrhein-Westfalen vorläufig unter Schutz stellten auf 10.438. Unter dem Titel "Heimkarrieren unterbrechen" startet das LWL-Heilpädagogisches Kinderheim Hamm ein Projekt, das es möglichst vielen betroffenen Kindern ermöglichen soll, in einer Familie aufzuwachsen. Kern des Projektes ist es, dass die Pflegefamilien vom LWL-Therapiezentrum in ganz Westfalen-Lippe begleitet werden und im Notfall schnelle Hilfe bekommen.

"Unser Ziel ist es, dass die Kinder solange wie nötig, aber so kurz wie möglich im Heim leben. Denn wie gut ein Heim auch sein mag, es kann keine Familie ersetzen. Vor allem für jüngere Kinder sind feste, lang andauernde Beziehungen statt oft wechselnder Ansprechpartner wichtig und die kann ein Heim nun einmal nicht über einen längeren Zeitraum bieten", sagt LWL-Jugenddezernent Hans Meier.

Während Säuglinge und Kleinkinder einfach vermittelt werden können, ist es sehr schwierig eine Pflegefamilie für ältere Kindern zu finden, die Gewalt oder Vernachlässigung erlebt haben. Ihnen ein neues zu Hause zu bieten ist auch nicht ganz einfach. Daraus macht Kurt Frey, Leiter des LWL-Heilpädagogischen Kinderheims, keinen Hehl: "Wenn die Kinder in unsere Therapiegruppe kommen, haben sie meist schwere Verhaltensstörungen: Sie sind besonders aggressiv, lassen niemanden an sich heran, kennen keinen geregelten Tagesablauf und haben unheimlich viele Ängste." Als erstes versucht ein Team aus Sozialarbeitern, Heilpädagoginnen, Erziehern, Reittherapeutin und Motopäde den Kindern Sicherheit zu vermitteln und sie so zu stabilisieren. "In dieser Phase erfahren die Kinder: 'Nicht alle Erwachsenen tun mir weh.‘ Langsam werden sie wieder bindungsfähig", erklärt Bereichsleiterin Friedericke Grimm "Nach einem oder eineinhalb Jahren äußern sie dann auch Bindungswünsche: 'Ich will wieder eine Mama‘, hören wir dann von vielen Kindern."

An diesem Punkt gibt es drei Alternativen, wobei die Rückkehr in die eigene Familie für die meisten unmöglich ist, weil den Eltern das Sorgerecht auf Dauer entzogen werden musste. Bleiben noch die Pflegefamilie und das Heim mit seinen Wohngruppen, wo jedoch eine dauerhafte Beziehung kaum möglich ist. Deshalb sucht das LWL-Heilpädagogische Heim jetzt verstärkt nach Pflegefamilien in ganz Westfalen-Lippe.

"Die Kinder brauchen keine Therapie mehr, sondern eine Familie, in der sie auf Dauer leben, in der sie groß werden können. Die Pflegeeltern müssen nicht unbedingt eine pädagogische Ausbildung haben, denn zu Hause ist man in erster Linie Mutter und Vater, nicht Therapeut. Deshalb ist es nicht nötig, Profi zu sein, sondern man muss offen für das Kind und emotional besonders belastbar sein sowie große Erfahrungen mit eigenen Kindern haben", so Frey.

Im Alltag begleitet das LWL-Therapiezentrum die Pflegefamilie intensiv. "Bei traumatisierten Kindern kann es immer wieder einmal eine Krise geben. Dann helfen wir sofort und bieten beispielsweise therapeutische Hilfe ohne die sonst übliche Wartezeit an. Wenn es für das Kind hilfreich ist, kann es auch auf Zeit in die Therapiegruppe zurückkehren", so Grimm. Die LWL-Einrichtung hilft auch, wenn die Pflegeeltern krank werden. Zur Vorbeugung von Krisen oder als geplante Erholung für die Eltern können die Kinder auch mit der Therapiegruppe in Urlaub fahren.

Ein Beispiel: Joanna sucht ein zu Hause

"Sie hatte große Schwierigkeiten sich im Gruppenalltag zurechtzufinden, sie war orientierungslos und vertrauten keinem Erwachsenen", erinnert sich Heilpädagoge Stefan Kracht an seinen ersten Tag mit Joanna, nachdem er sie aus der Kinder - und Jugendpsychiatrie Dortmund abgeholt hatte.

Das zuständige Jugendamt hatte der Mutter von Joanna (acht Jahre) die elterliche Sorge entzogen, weil sie bei ihr Gewalt erlebt hatte und vernachlässigt wurde. Bei Joanna wurde zusätzlich ein sexueller Missbrauch festgestellt. Bis heute schweigt sie zu diesen traumatischen Erlebnissen. Zurzeit lebt das Mädchen in der therapeutischen Wohngruppe des LWL Heilpädagogischen Kinderheims. Gemeinsam mit sechs anderen Kindern im Alter von fünf bis zwölf Jahren werden sie von sechs Pädagogen und einem Psychologen betreut.

Das Mädchen hat vorerst einen geschützten Lebensort gefunden. Joanna geht in die 2. Klasse einer Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen und freut sich über alles Neue, das sie kennen lernt. Vor einem Treffen mit der Mutter hat sie Angst und lehnt es ab. Über die Sachbearbeiterin des Jugendamtes hat sie aber ein Foto ihrer Mutter bekommen, das sie sich gewünscht hatte.

"Sollte das Gericht entscheiden, dass Joanna nicht zu ihrer Mutter zurückkehren kann, wäre es am besten, wir würden für sie eine Pflegefamilie finden. Joanna wünscht sich eine Mama bei der sie leben kann", berichtet Kracht.

Der LWL im Überblick

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 13.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 17 Museen und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, den ein Parlament mit 101 Mitgliedern aus den Kommunen kontrolliert.

Quelle: Pressemitteilung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe vom 20.01.2012
http://www.lwl.org