Jugendliche aus prekären Verhältnissen werden ausgegrenzt

Sinus-Studie „Wie ticken Jugendliche 2012“ / Studie identifiziert Lebenswelten von 14- bis 17-Jährigen

Auf unsichere Berufsaussichten und Leistungsdruck reagieren Jugendliche in Deutschland mit Pragmatismus statt Protest – und dem Streben nach mehr Sicherheit. Sozial benachteiligte, leistungsschwächere Jugendliche bekommen eine zunehmende Entsolidarisierung zu spüren. Das sind zentrale Ergebnisse der neuen Sinus-Jugendstudie, die von den auftraggebenden Organisationen und den Autoren heute in Berlin vorgestellt wird. Nur wer weiß, was Jugendliche bewegt, kann sie bewegen. Aus diesem Grund haben sechs Institutionen die Untersuchung beim Heidelberger Sinus-Institut in Auftrag gegeben. Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, der Bund der Deutschen Katholischen Jugend, Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, das Bischöfliche Hilfswerk Misereor, die Bischöfliche Medienstiftung der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Südwestrundfunk wollen mit der Studie den Blick auf die Unterschiedlichkeit jugendlicher Lebenswelten lenken und sie für die Entwicklung lebensnaher Angebote nutzten. Die Jugend gibt es nicht. Jugendliche bewegen sich in unterschiedlichen Lebenswelten und im Gegensatz zu anderen Studien setzt die Sinus-Methode bei dieser Vielfalt an. Die zweite, qualitative Jugend-Studie des Sinus-Instituts hat sieben Lebenswelten von Jugendlichen identifiziert und geht der Frage nach, wie Jugendliche in diesen Welten ihren Alltag erleben. Die 14- bis 17-Jährigen beschreiben ihre Wertevorstellung und ihre Einstellungen zu Themen wie Schule, Berufswünschen, Glaube, Engagement und Medien. Sie schildern ihre Hoffnung, ihre Ängste, ihre Art zu leben. Die Lebenswelten (Konservativ-Bürgerliche, Adaptiv-pragmatische, Sozialökologische, Experimentalistische Hedonisten, Materialistische Hedonisten, Expeditive und Prekäre) unterscheiden sich zum Teil eklatant. Trotz unsicherer Zukunftsperspektiven ist der Bewältigungsoptimismus unter den meistens Jugendlichen groß. Eine Ausnahme bilden jedoch die Jugendlichen aus prekären Lebensverhältnissen, die sagen: „Wir haben keine Chance auf eine Berufsausbildung und ein Arbeitsverhältnis“. Hinzu kommt, dass Jugendliche aus prekären Verhältnissen gemieden und ausgegrenzt werden – vor allem von Jugendlichen aus der Mitte der Gesellschaft. Politik und Gesellschaft müssen sich dafür einsetzen, dass diese Jugendlichen nicht „abgehängt“ werden, so die Auftraggeber der Studie. Bei allen Unterschieden zwischen den Jugendlichen fasst die Studie auch allgemeine Befunde zusammen. So gibt es zum Beispiel in allen Lebenswelten trotz unterschiedlicher Wertevorstellungen ein wachsendes Bedürfnis nach Sicherheit, Freundschaft und Familie. Diese „Regrounding“-Tendenzen sind eine Reaktion auf gestiegenen Leistungsdruck, zunehmende Gestaltungsoptionen und die Unsicherheit, wie sich das Leben entwickeln wird. Den meisten Jugendlichen ist bewusst, dass ihre Berufs- und Lebensaussichten unsicher sind. Deshalb verhalten sich viele wie „Mini-Erwachsene“, die immer früher damit beginnen (müssen), das Leben und die Karriere aktiv zu gestalten.
Die Studie zeigt in Schwerpunktthemen, was Jugendliche in Bezug auf Schule, Berufsorientierung, Glaube, Engagement und Medien denken. An ihren Schulen wünschen sie sich kompetente, empathische Lehrer mit Ausstrahlung. Sie wollen individuell gefördert werden und praxisnah lernen. Wie wichtig die Orientierung an der Lebenswelt ist, zeigt der Blick auf die prekären Jugendlichen: Für sie haben die Inhalte des Unterrichts wenig mit ihrem Alltag zu tun.
Politikverdrossenheit herrscht bei Jugendlichen nur auf den ersten Blick: Sie interessieren sich kaum für institutionalisierte Politik, Parteien oder Verbände. Fasst man den Politikbegriff aber weiter, sind die Jugendlichen sehr wohl politisch. Sie kritisieren Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft, sind bereit sich für andere einzusetzen und engagieren sich gegen konkrete soziale Probleme im eigenen Umfeld. Zwar haben vor allem die „bildungsnahen“ Jugendlichen Interesse an politischen Themen, aber viele sozial benachteiligte Jugendliche äußerten sich über die konkreten Beschreibungen von Ungerechtigkeiten, da sie um diese Themen in ihrem Alltag gar nicht herumkommen. Die Studie richtet sich an alle, die sich für Jugendliche interessieren, die mit ihnen oder für sie arbeiten. Sie veranschaulicht mit Zitaten, Collagen der Jugendlichen zum Thema „das gibt meinem Leben Sinn“ und Fotos von Jugendzimmern, in welch unterschiedlicher Weise sie ihren Alltag bewältigen und gestalten. 
Die Studie erscheint zunächst im Verlag Haus Altenberg und ist ab 1. April im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-7761-0278-9). Im Herbst kommt die Studie als Band in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb heraus. Rezensionsexemplare, Pressematerial zu den Lebenswelten und den zentralen Ergebnissen gibt es auf den Internetseiten der Herausgeber und auf www.sinus-institut.de.

Statements der Herausgeber

Dirk Tänzler, Bundesvorsitzender des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend:   „Weil Jugendliche besser verstanden werden müssen, ist die Studie für unsere Gesellschaft von unschätzbarem Wert. Viele Jugendliche sehen sich unter einem enormen Druck, ihr Leben immer früher planen zu müssen. Jugendliche sollen sich ausprobieren, Fehler machen dürfen. Sie sollen nicht nur effizient und nützlich sein. Diese Studie ist ein Plädoyer dafür, Jugend, einfach jung sein zu lassen. Ein Großteil von ihnen verbindet mit dem Stichwort Glauben nicht unbedingt Religion und noch seltener Kirche. Wir müssen die christliche Botschaft noch stärker in die Sprache, die Bilder und die unterschiedlichen Lebenswelten Jugendlicher übersetzen.“ Komplette Kommentierung der Studie durch den BDKJ als PDF Dr. Heike Kahl, Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung: „Viele Jugendliche wissen nicht, dass die Gesellschaft sie braucht. Wir müssen vor allem Jugendlichen mit schwierigen Startbedingungen Perspektiven aufzeigen. Dafür sind Angebote wichtig, die etwas mit der Lebenswelt junger Menschen zu tun haben und sie motivieren. Die Sinus-Ergebnisse untermauern, was wir in unserer Arbeit mit Ganztagsschulen oder in unseren Jugendcamps feststellen: Junge Menschen lernen und engagieren sich mit Ausdauer und großem Einsatz, wenn wir bei ihren Interessen und dem, was sie können, ansetzen.“ Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung: „Für die Bundeszentrale für politische Bildung sind Erkenntnisse über unterschiedliche Lebenswelten Jugendlicher enorm wichtig, um zielgruppenspezifische Bildungsangebote entwickeln zu können, die auf Interesse und Resonanz stoßen. Denn dass man Jugendliche, nur weil sie einer Altersgruppe angehören, nicht über einen Kamm scheren kann, zeigt die jetzt vorliegende Jugendstudie sehr eindringlich." Thomas Antkowiak, Geschäftsführer des Bischöflichen Hilfswerks MISEREOR „MISEREOR muss daran arbeiten, junge Menschen zielgenauer in ihren sehr unterschiedlichen Milieus anzusprechen und im besten Fall zu begeistern. Die Bereitschaft bestimmter Gruppen von Jugendlichen, sich zu engagieren und mit Fragen globaler Gerechtigkeit und dem christlichen Menschenbild auseinanderzusetzen, bietet noch ungenutzte Potenziale.“ Ordinariatsrat Prof. Dr. Klaus Koziol, Vorsitzender der Bischöflichen Medienstiftung Diözese Rottenburg-Stuttgart: „Das Heranwachsen in mediatisierten Alltagswelten stellt für junge Menschen eine Herausforderung dar. Jugendliche nutzen heute die digitalen Medien als Plattform für soziale Einbindung und Identitätsentwicklung viel selbstverständlicher als Erwachsene. Deutlich wird dabei auch ihre Sehnsucht nach Sinn und Orientierung beispielsweise in der Bewertung von Rechten anderer oder in der Frage der Selbstdarstellung in der Netzöffentlichkeit. Die Studie unterstreicht die Bedeutung von Medienkompetenz für eine sozialverträgliche Inkulturation und zur Abwendung kultureller Prekarisierung. Hier sind Sozial- und Bildungspolitik, aber auch die Kirche in ihrer Anwaltschaft für die Menschen gefordert.“ Dr. Walter Klingler, Leiter der Medienforschung beim Südwestrundfunk: „Für den SWR ist die junge Zielgruppe von besonderer Bedeutung. Im Hörfunk sind wir in dieser Zielgruppe stark vertreten, im Internet haben wir Brücken, im Fernsehen wollen wir in der Zukunft stärker präsent sein. All diese Programmanstrengungen setzen aber ein präzises Bild der Zielgruppe voraus. Dazu trägt auch unser SWR-Engagement bei dieser Studie bei.“

Quelle: Pressemitteilung des BDKJ vom 27.03.2012
www.bdkj.de