„Kinder zwischen allen Stühlen?“ - Ein Tagungsbericht
Lotsen im Übergang – Gestaltung von Übergängen bei Pflegekindern!
Stabile Brücken für Pflegekinder bauen
Nicht jedes Kind hat die Möglichkeit, in seiner Familie aufzuwachsen. Pflegekindern, die nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern leben können, ein neues stabiles Zuhause – zeitweise oder längerfristig – zu geben, ist eine große Aufgabe und Herausforderung. Maßgabe bei allem sollte immer sein, die Belastungen für die Kinder so gering wie möglich zu halten. Anliegen der Tagung "Lotsen im Übergang - Rahmenbedingungen und Standards bei der Gestaltung von Übergängen bei Pflegekindern" der Arbeitsgruppen Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik am 14. und 15. Juni 2012 in Berlin war es, die Gestaltung der Übergänge bei Pflegekindern – sowohl aus sozialpädagogisch-forschender wie -praktischer als auch rechtlich-organisatorischer Sicht – zu diskutieren und dabei insbesondere die Rolle der „Lotsen im Übergang“, der damit befassten Fachkräfte aus der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe in den Blick zu nehmen. In der Praxis erweist sich die Übergangsgestaltung oft als schwierig. Darauf verwies Dr. Schmid-Obkirchner, Leiterin des Referats Rechtsfragen der Kinder- und Jugendhilfe, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), in ihrer Eröffnungsrede. In der Ausgestaltung der Pflegekinderarbeit vor Ort und den Handlungsorientierungen zeige sich mancherorts eine gewisse Unsicherheit, aber teils auch Unterschiedlichkeit. D.h., jeder kommunale Träger hat seine Strukturen, Verfahrensweisen, Standards geschaffen. Diese Uneinheitlichkeit und Verunsicherung seien nicht zuletzt auch den Veränderungen in der kommunalen Praxis und den rechtlichen Grundlagen geschuldet. Daher intendieren die „neuen“ Regelungen im SGB VIII im Zuge des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) u.a. die Sicherstellung der Hilfekontinuität für Pflegekinder. Dr. Schmid-Obkirchner versicherte, dass sich das Bundesfamilienministerium (weiterhin) der Leitfrage der Pflegekinderhilfe annimmt: Wie lassen sich stabile Brücken für Pflegekinder (besser) erreichen?Übergänge im Erleben von Pflegekindern: Es hat uns keiner „Tschüß“ gesagt!
Anschließend an die Begrüßung und Einführung von Dr. Schmid-Obkirchner referierte Prof. Dr. Klaus Wolf, Erziehungswissenschaftler an der Universität Siegen, der 2006 begann, einen Forschungsschwerpunkt Pflegekinder aufzubauen. Er stellte aktuelle Forschungsergebnisse zu Übergängen im Erleben von Pflegekindern vor und ging aus Sicht der Pflegekinder u.a. auf folgende Frage ein: Was ist ein Übergang für Pflegekinder? Den „Pflegekinderstimmen“ nach erleben Pflegekinder Übergänge als ein „In die Fremde Kommen“ und als eine „Fremdbestimmung“. Ein Übergang ist für Pflegekinder somit ein Ortswechsel, aber eben nicht nur. Dies würde die Situation der Pflegekinder bagatellisieren. Ein Übergang in der Pflegekinderhilfe stellt zugleich eine biografische Zäsur, den Beginn einer neuen Lebensphase dar und bedeutet in der Regel eine Veränderung im Beziehungsgefüge der Pflegekinder. Übergänge erweisen sich oft dann als ein enormes Belastungs- und Entwicklungsrisiko, wenn die Kinder vor vollendete Tatsachen gestellt werden, ihnen nichts erklärt wird, sie nicht gut auf den Wechsel vorbereitet werden und vertraute Bezugspersonen (oft abrupt) gehen. Was ist also zu tun, um den Pflegekindern sichere Übergänge zu gestalten? Die Untersuchungen haben gezeigt, dass vor allem Kontinuitätssicherung, eine Vertrauens- und Bezugsperson im unübersichtlichen Gelände und Partizipation wichtig sind. Um Kontinuität zu schaffen, dürfen nach Prof. Wolf die Planung und Gestaltung der Übergangsphasen wie der gesamte Hilfeverlauf nicht zu einem „Open-End-Prozess“ werden. Die Pflegekinder sowie die Pflege- und Herkunftseltern dürfen weder im Unklaren gelassen werden noch in eine Wartschleife geraten. Wechsel sind keine „Parkarrangements“. Es sollte ein zwischen und mit allen Beteiligten abgestimmtes (Hilfe)Konzept vorliegen, sodass ein Übergang als geplanter Prozess und nicht als Experiment verläuft. Zudem bedarf es gerade in der Übergangsphase eines kontinuierlichen Kontakts zu einer vertrauten Bezugsperson, die das Kind durch die schwierige Situation lotst. Ein abrupter Kontaktabbruch stelle laut Prof. Wolf eine „Gewaltanwendung“ bzw. ein „Entführungsszenario“ dar. Des Weiteren erleichtert die Partizipation der Pflegekinder das Bewältigen von Wechseln: Mitbestimmen bedeutet hier, den Kindern in Ruhe zu erklären, was mit ihnen geschieht, sie kommentarlos zu hören, sie wertzuschätzen, Entscheidungen mit ihnen auszuhandeln. Sind diese Qualitätskriterien gegeben, ist der Weg dafür geebnet, dass Pflegekinder ihre Übergänge erfolgreich meistern und sich gut entwickeln (können). Daher bat Prof. Wolf die Tagungsteilnehmer/innen um eine ernsthafte Diskussion darüber, was leistbar und was verantwortbar ist. Diese von Prof. Wolf an die Praktiker/innen gerichteten Fragen sowie die aktuellen Forschungsergebnisse wurden anschließend in den Arbeitsgruppen aufgegriffen. Etwas Vertrautes mitnehmen… Wie geht es Kindern, was brauchen Kinder, was braucht die Praxis, um Übergänge erfolgreich zu gestalten? Unter dieser Leitfrage wurden Standards, Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Übergangsgestaltung in Arbeitsgruppen diskutiert. Die Arbeitsgruppen widmeten sich folgenden Übergängen:Inobhutnahme - erste Schritte aus der Krise + Perspektivklärung,
Zurück nach Hause? Rückführung in die Herkunftsfamilie als geplanter und gestalteter Übergang. Welche Kriterien sind entscheidend?
Gestaltung von Übergängen in die Pflegefamilien und in Anschlusshilfen - Vorstellung und Diskussion fachlicher Standards für die Gestaltung dieser Übergänge und Fallbeispiele,
Wann ist es Zeit? Verselbstständigung erwachsener Pflegekinder - Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Begleitung,
Der richtige Platz für das Kind? Das erste Jahr in der Verwandtenpflege: Überprüfung und Begleitung der Familie,
Vorzeitige Beendigung/Abbruch von Pflegeverhältnissen: Kriterien an und für Anschlusshilfen.
Zum Schutz neuer Familienbeziehungen: Sicherung der Hilfekontinuität bei Zuständigkeitswechsel durch das Bundeskinderschutzgesetz
Ein besonders sensibles Thema ist seit jeher die Frage der Regelung der örtlichen Zuständigkeit bei Dauerpflegeverhältnissen. Hierzu referierte Diana Eschelbach vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF). Diese Regelung gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII steht immer wieder in der Kritik. Sie sieht vor, dass nach zweijährigem Bestehen eines Pflegeverhältnisses das Jugendamt vor Ort für dieses Pflegeverhältnis zuständig ist. Gesetzgeberische Zielsetzung ist es, mit dem Zuständigkeitswechsel die Hilfekontinuität zu sichern. Dies habe sich in Praxis aber nicht bewährt. Diana Eschelbach trug die Hauptkritikpunkte vor: So sprechen ein Abbruch der Vertrauensbeziehungen zum bisherigen Jugendamt oder Schwierigkeiten beim Fortbestand der mit dem „alten“ Jugendamt geschlossenen Pflegevereinbarungen beispielsweise eher für Diskontinuität und einen Wettbewerb „nach unten“. Ferner beklagen die Jugendämter im ländlichen Raum den hohen Verwaltungsaufwand und die Kostenbelastung für die auf sie übergehenden Pflegefälle. Die Sonderzuständigkeit führe außerdem zu einer ungleichen Verteilung der Hilfefälle zwischen Stadt und Land. Sie betrifft häufig Jugendämter auf dem Land, da die Kinder, deren Herkunftsfamilien in den Städten leben, oft im Umland untergebracht werden. Daher setzt das SGB VIII im Zuge des BKiSchG bei der Kontinuitätssicherung nun anders an. Die Rechtsänderungen in § 37 und § 86 SGB VIII und deren Auswirkungen für die Praxis stellte Diana Eschelbach den Tagungsteilnehmer/innen vor. Für Diana Eschelbach ist die Sicherung der Hilfekontinuität durch das BKiSchG rechtlich gut angegangen worden. Ob dieses Ziel auch in der Praxis erreicht wird oder ggf. doch noch weitere (rechtliche) Änderungen erfolgen müssen, gilt es nun zu prüfen. Der Diskurs im Plenum zeigte, dass für die Praxis viele Fragen beim Zuständigkeitswechsel auch nach dem BKiSchG noch nicht geklärt sind. Diana Eschelbach stand – dankenswerterweise auch nach ihrem Fachvortrag – den Tagungsteilnehmer/innen Rede und Antwort und versuchte, deren Fragen zur Rechtslage und deren Auslegungen zu beantworten.Die Brücke zu „früher“: Biografiearbeit ist Bestandteil eines behutsamen Überganges.
Der zweite Tagungstag begann mit einem Vortrag von Heidrun Sauer, Mitarbeiterin des Kompetenz-Zentrum Pflegekinder e.V. zum Thema „Biografiearbeit für Pflegekinder und mit Pflegekindern“. Sie referierte u.a. zu den Fragen: Warum Biografiearbeit für und mit Pflegekindern und wie kann Biografiearbeit in der Praxis aussehen? Auf die Frage nach dem Warum betonte Heidrun Sauer, dass jeder Mensch über sein gesamtes Leben unzählige biografische Rückblicke zu den verschiedensten schönen wie traurigen Anlässen bewusst wie unbewusst mache. Jedes Kind hat das Recht, seine Identität zu behalten; so besagt es die UN-Kinderrechtskonvention (Artikel 8 Abs. 1). Die Pflegekinderhilfe sei angehalten, die Pflegekinder darin zu unterstützen ihre spezielle Lebenssituation zu rekonstruieren und besser zu verstehen. Hierzu bietet die Biografiearbeit die Chance. Sie erleichtere Antworten auf so lebenswichtige Fragen zu finden: Wer bin ich? Was ist meine Geschichte? So können die Pflegekinder Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges besser miteinander in Einklang bringen. Infolgedessen können die Belastungen für die Kinder zwischen den Lebensphasen geringer gehalten und Wiederholungen von traumatischen Erfahrungen vermieden werden. Damit der Blick zurück den Blick nach vorn erleichtert, entwickelte das Kompetenz-Zentrum Pflegekinder e.V. das Erinnerungsbuch. Es soll beim Erinnern helfen und für Beständigkeit sorgen, indem Ereignisse und Erlebnisse im Leben des Pflegekindes in diesem Buch kontinuierlich dokumentiert werden. Zum Erinnerungsbuch gehören ein Ordner mit 43 Seiten zum individuellen Gestalten zu 43 Basisthemen, die in jeder Pflegefamilie präsent sind, ein Begleitheft und eine CD. Aber Papier allein reicht nicht aus, Biografiearbeit bedeutet auch immer „Reden und Zuhören“. Ihre Ausführungen beendete Heidrun Sauer mit einem Satz von Gabriel Garcia Márquez: „Das Leben ist nicht das, was man gelebt hat, sondern das, woran man sich erinnert und wie man sich daran erinnert – um davon zu erzählen.“Die Gestaltung von Übergängen in der Praxis – Good-Practice
Nachdem am ersten Tagungstag die Übergangsgestaltung und die Rolle der Fachkräfte als Lotsen im Übergang vorrangig aus fachlich-theoretischer Sicht – Wie kann es gelingen? – diskutiert wurde, stand nun die praktische Perspektive – Wie gelingt es? – im Fokus. Hierzu wurden in Arbeitsgruppen Praxisbeispiele von öffentlichen und freien Jugendhilfeträgern im Sinne von Good-Practice vorgestellt. Die dargestellten Arbeitsansätze und -methoden werden ausführlich in dem Tagungsband dokumentiert sein. Die Tagungsteilnehmer/innen konnten ihre eigenen praktischen Erfahrungen und Arbeitsansätze in den Diskurs folgender AGs einbringen:Übergänge für Pflegekinder bis zum 5. Lebensjahr von Familiärer Bereitschaftsbetreuung in eine geeignete Pflegefamilie gestalten - Qualitätsstandards im Prozess,
Kooperation ASD und PKD - Konzeptionelle Grundlagen der (Neu)Organisation des PKD,
Clearing - welche Ressourcen gibt es im sozialen Nahraum und wie kann Bindungsqualität gewährleistet werden?
Verliebt, verlobt ... Verwandtenpflege - Wenn Übergänge anders als geplant verlaufen,
Vorbereitung von Pflegepersonenbewerber/innen: Interessentengewinnung und Eignungsfeststellung,
Das Kind gut gehen lassen ... (Beziehungs)Arbeit mit der Herkunftsfamilie - wie kann das gelingen?
Auf dem vorhandenen fachlichen Fundament können stabile Brücken aufgebaut werden.
Die lebhaften Diskussionen auf der Tagung haben gezeigt, dass die Pflegekinderhilfe in Bewegung ist und das Thema „Übergänge“ die Fachkräfte sehr beschäftigt. Zum Tagungsausklang fasste Dr. Thomas Meysen, Fachlicher Leiter des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V., die Sicht der Professionellen zusammen. Er betonte, dass die hohe Komplexität des Pflegekinderbereichs – die vielen verschiedenen Übergänge, die vielen unterschiedlichen Rahmensetzungen vor Ort etc. – es erschweren, ein klares Gesamtbild zusammenzufügen, im Sinne von „So und nicht anders sind Übergänge zu gestalten“. Jeder Übergang ist zeit- und ressourcenabhängig und jeder am Hilfeprozess Beteiligte hat Übergänge zu bewältigen. Er präsentierte im Plenum einzelne Puzzleteile der Herausforderungen, Problem- und Fragestellungen der Praxis für eine sichere Übergangsgestaltung. Diese Puzzleteile zusammensetzen können nur die Fachkräfte vor Ort. Das vorhandene fachliche Fundament bildet aber einen stabilen Sockel, auf dem stabile Brücken für die Pflegekinder gebaut werden können. Für einen gelingenden Übergang von der Fachtagung in die Fachpraxis wünschte Dr. Meysen den Tagungsteilnehmer/innen ein gutes Ankommen am Arbeitsplatz. Diesem Wunsch schließt sich die AGFJ an. Sie hofft, dass die Tagung den Praktiker/innen weitere Anregungen für Ihre Arbeit liefern konnte und der angestoßene Diskus zur Übergangsgestaltung im Praxisalltag weitergeführt wird. AutorinMaja Arlt
Wissenschaftliche Mitarbeiterin,
Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik