Pflege zwischen Fürsorge und Fixierung

01.06.2012 | Altenhilfe | Nachrichten

Forschungsprojekt ReduFix ambulant dokumentiert Hintergründe zu freiheitseinschränkenden Maßnahmen bei Menschen, die zu Hause gepflegt werden

Freiheitseinschränkende Maßnahmen werden in der häuslichen Pflege häufiger angewandt bislang vermutet. Experten gehen davon aus, dass mindestens sechs Prozent vor allem älterer und demenziell erkrankter Menschen betroffen sind. Zu den Fixierungen, die im häuslichen Pflegebereich am häufigsten vorkommen, gehören hochgezogene Bettgitter, sedierende Medikamente, verschlossene Türen, körpernahe Fixierungen (Gurte, Riemen etc.). Der Hintergrund in den meisten Fällen: Angehörige, die sich aus Unwissenheit, Überforderung, Aggression, Scham und Fürsorge nicht besser zu helfen wissen. Es fehlt an Beratung, pflegerischer und zeitlicher Entlastung sowie an geeigneten technischen Hilfen. Die Daten aus der Studie Redufix ambulant beruhen auf Angaben von Betreuenden, die Zugang zu Pflegehaushalten haben. Nimmt man alle Haushalte in den Blick – und nicht nur die, in denen bereits professionelle Pflege- und Beratungskräfte tätig sind – liegt der Wert noch höher. Die Forscher gehen dann davon aus, dass insgesamt neun Prozent aller Pflegebedürftigen und bis zu 30 Prozent der demenziell Erkrankten fixiert werden. Dies ergab eine Stichtagserhebung, die der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) in Bayern in Kooperation mit dem Projekt ReduFix ambulant durchgeführt hat. Die Wissenschaftler des Projekts ReduFix ambulant kommen nach dreijähriger Forschungsarbeit zudem zu dem Schluss: Auch Ärzte und Juristen verfügen meist nicht über ausreichendes Wissen, wenn sie zum Thema „Freiheitseinschränkende Maßnahmen“ gefordert sind. Doris Bredthauer, Medizinerin und Projektleiterin für die Fachhochschule Frankfurt: „Viel zu selbstverständlich wird zum Beispiel das Abschließen der Wohnungstür als fürsorglicher Zwang legitimiert und akzeptiert.“ ReduFix ambulant, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), ist international das erste und einzige Projekt, das sich mit dem Phänomen freiheitseinschränkender Maßnahmen in der häuslichen Pflege systematisch beschäftigt und praktische Lösungsansätze entwickelt hat. Zu den Hilfen zählen empathischer Umgang mit betroffenen Familien, Beratung durch besonders qualifizierte Case Manager, Entlastung durch Pflegeangebote, Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Einer der wichtigsten Erkenntnissen aus dem Projekt ist nach übereinstimmenden Meinung aller Experten, so Thomas Klie, Jurist und Projektleiter für die Evangelische Hochschule Freiburg auf der Abschlusstagung Ende März in Frankfurt/Main: „Der Umgang mit bewegungs- und freiheitseinschränkenden Maßnahmen wird geprägt von der persönlichen und fachlichen Haltung, die man einem Menschen gegenüber einnimmt, der an Demenz erkrankt oder auf Pflege angewiesen ist.“ Das Ziel müsse sein: Für Sicherheit zu sorgen, ohne zu schaden. Aus dem Projekt leiten sich eine Reihe von Forderungen an die Politik ab. So verlangte die Juristin und Psychoanalytikerin Gisela Zenz auf der Abschlusstagung in Frankfurt, Familiengerichte mit einer neuen Zuständigkeit auszustatten, wenn das Wohl älterer und auf Pflege angewiesener Menschen bedroht sei. Eine Genehmigungspflicht für häusliche Zwangsmaßnahmen  forderte Axel Bauer, dienstältester Betreuungsrichter in Deutschland und bekannter Kommentator des Betreuungsrechts. Nur so könnte der Grundrechtschutz für die Betroffenen gewährleistet werden. Bauer machte darauf aufmerksam, dass häusliche Zwangsmaßnahmen nach geltender Rechtslage weder genehmigungsbedürftig noch genehmigungsfähig sind. Nach Auffassung der Juristin Irene Vorholz vom Deutschen Landkreistag müsse die Stellung der Kommunen und ihre Vernetzungs- und Koordinationsfunktion gesetzlich geregelt werden. Bislang hänge es vom guten Willen der Akteure ab, ob sie vor Ort zusammenarbeiten. Auch das verhindere wirksame Hilfen bei freiheitseinschränkenden Maßnahmen im häuslichen Pflegebereich, sagte Vorholz in Frankfurt. Die Ärztin Ottilie Randzio vom MDK Bayern, die das Ausmaß freiheitseinschränkender Maßnahmen in der häuslichen Pflege durch eine Stichtagserhebung deutlich gemacht hatte, plädierte für eine systematische Einbeziehung des MDK in die Pflegeberatung.

Quelle: Pressemitteilung des AGP Alter. Gesellschaft. Partizipation. Institut für angewandte Sozialforschung vom 12.04.2012
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