Verstörung als Chance

von Maja Arlt und Kerstin Landua
25.04.2012 | Kinder-/Jugendhilfe | Nachrichten

Bericht zur Veranstaltung ""Was hat das mit uns zu tun?" Umsetzung der Schlussfolgerungen aus den Runden Tischen Heimerziehung und "Sexueller Kindesmissbrauch" in die Jugendhilfepraxis

Fachtagung, Berlin, 15.-16.03.2012

"Die Jugendhilfe in Aufregung und Diskursfähigkeit versetzen..."

… dieses Anliegen verfolgte die Tagung „Was hat das mit uns zu tun? Umsetzung der Schlussfolgerungen aus den Runden Tischen Heimerziehung und ‚Sexueller Kindesmissbrauch‘ in die Jugendhilfepraxis“, die am 15./16. März 2012 in Berlin stattfand. Die Art und Weise des Umgangs mit Kindern in der Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren sowie aktuelle Missbrauchsfälle an Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen hat die Öffentlichkeit nachhaltig erschüttert. Diese „Verstörung als Chance“ zu begreifen und wegzukommen von einem „unglaublich, was da passiert ist“ hin zu einem fachlichen Diskurs darüber, was die Jugendhilfepraxis aus der Vergangenheit lernen kann, das haben wir auf dieser Tagung gemeinsam versucht. 130 Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe diskutierten darüber, wie die Erkenntnisse aus den Runden Tischen in der Praxis zur Anwendung kommen können. Die Tagung wurde im Tandem von Dr. Maria Kurz-Adam, Leiterin des Jugendamtes der Stadt München, und Rainer Kröger, Vorstand des Diakonieverbundes Schweicheln e.V. und Vorsitzender des AFET - Bundesverband für Erziehungshilfe e.V., moderiert.

"Eine Brücke von den Runden Tischen in die Jugendhilfepraxis schlagen..."

Für Dr. Heike Schmid-Obkirchner, Leiterin des Referats Rechtsfragen der Kinder- und Jugendhilfe, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), lag darin das Ziel dieser Tagung. In ihrer Eröffnungsrede verwies sie darauf, dass der Leitgedanke der Runden Tische die Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen und ihr Schutz vor Gewalt ist. Der Beitrag des BMFSFJ spiegelt sich dabei insbesondere in folgenden gesetzlichen Regelungen und Maßnahmen wider:
  • in der Verabschiedung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG),
  • der Einsetzung eines unabhängiger Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs,
  • der Erstellung eines Aktionsplans 2011 der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung sowie
  • in den bereits erfolgten Änderungen im Vormundschaftsrecht.
Nun gelte es, diese Regelungen und Maßnahmen auf der praktischen Ebene gut wirksam werden zu lassen, denn Gesetze allein schützen nicht.

Wissen ist nicht automatisch Können und Handeln!

Die zentralen Ergebnisse und Schlussfolgerungen für die Jugendhilfe aus der Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs und der Heimerziehung in den 50er-/60er-Jahren stellten Rainer Kröger als Mitglied des Runden Tisches Heimerziehung und Prof. Dr. Mechthild Wolff als Mitglied des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ im Plenum vor. Rainer Kröger betonte eingangs, dass die intensive Aufarbeitung der Vergangenheit zu „belastbaren“ Erkenntnissen geführt hat, die alle Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe betreffen. Dies bekräftigte Prof. Wolff mit den Worten: „Man habe nicht nur am Runden Tisch gesessen, sondern auch viel gearbeitet und erarbeitet.“. Einige dieser Erkenntnisse waren:
  • Die Jugendhilfe(praxis) wird stets durch gesamtgesellschaftliche Verhältnisse der jeweiligen Zeit geprägt und die damalige Praxis politisch und pädagogisch etc. dadurch gerechtfertigt.
  • Verantwortlich für die Geschehnisse waren nicht einzelne Personen oder Institutionen, sondern eine „Verantwortungskette“ von Institutionen, also das gesamte System der Jugendhilfe.
  • Schutz ist nicht garantiert! Jedes Erziehungsverhältnis birgt in sich das Risiko von Verletzung und Missbrauch.
  • Dynamik von Geschlossenheit. Institutionen sind „gefährdet“, sich nach innen und außen zu verschließen.
  • Fehlerentstehung und Fehlerquellen in Systemen müssen aufgedeckt werden, sonst besteht die Gefahr, dass ein Systemfehler über das System hinaus auf andere Systeme übergreift.
  • Professionelle, helfende Beziehungen haben auf Beteiligung, Schutz und Vertrauen zu basieren.
Diese (exemplarisch ausgewählten) Erkenntnisse allein führen jedoch nicht zu einer Veränderung in der Praxis. Es kommt nun darauf an, partizipative Lernprozesse in den Institutionen und Einrichtungen anzustoßen.

Und was hat das mit uns zu tun? Forderungen an die (Jugendhilfe)Praxis

Bezugnehmend auf die von Rainer Kröger und Prof. Dr. Wolff dargelegten Erkenntnisse leistete Prof. Dr. Schrapper, Erziehungswissenschaftler an der Universität Koblenz-Landau und Mitglied des Runden Tisches Heimerziehung, Übersetzungsarbeit und formulierte Forderungen an die Praxis. Prof. Dr. Schrapper fragte zunächst, warum „das“ etwas mit uns zu tun hat und antwortete, weil die (Jugendhilfe)Praxis damals dreifach versagt habe:
  • Konzeptionell, indem Kinder vielmehr als Objekte der Besserung und Verwahrung wahrgenommen und behandelt wurden;
  • strukturell durch (noch) fehlende oder nicht wahrgenommene fachliche, rechtliche und öffentliche Kontrollinstanzen und
  • praktisch infolge der unzureichenden Ausstattung von Einrichtungen und der teils unqualifizierten Mitarbeiterschaft öffentlicher Erziehung in Einrichtungen.
Wenn wir dies erkannt haben - welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Was ist zu tun? Forderungen an die heutige Praxis sind:
  • Kinder als Subjekte der Förderung und Bildung mit Rechten und Schutzbedürfnissen wahrzunehmen und zu behandeln (konzeptionell),
  • Gewährleistung ausreichender Reflexion und Kontrolle auf fachlicher, rechtlicher und öffentlicher Ebene (strukturell) und
  • Sicherung der erforderlichen quantitativen und qualitativen pädagogischen Arbeit (praktisch).
Aufgabe der Praxis sei es nun, diese Forderungen mit Leben zu erfüllen und Verantwortliche dafür zu benennen.

Ideen und Erfahrungsaustausch in Arbeitsgruppen

Welche konkreten Konsequenzen und Aufgaben haben sich für die Praxis aus den Erkenntnissen aus den Runden Tischen ergeben? Hierzu diskutierten die Tagungsteilnehmer/innen in verschiedenen Arbeitsgruppen. Diesem Ideen- und Erfahrungsaustausch wurde in jeder Arbeitsgruppe eine konkrete Leitfrage vorangestellt, deren Antworten anschließend im Plenum vorgetragen und diskutiert wurden. Diese Antworten werden in der Tagungsdokumentation und ausführlich nachzulesen sein. Die zugrunde liegenden Fragen seien aber bereits heute benannt:
  • Schutzkonzepte: mehr als Papier? Nur eine Aufgabe freier Träger?
  • Ombudschaften als eine Form des Beschwerdemanagements: Organisationsversagen oder Beitrag zur Rollenklarheit?
  • Die insoweit erfahrene Fachkraft/Kinderschutzfachkraft: Unterstützung und Beratung auch über das eigene System hinaus?
  • Partizipation von Kindern und Jugendlichen: Eine Leerstelle im Hilfeprozess?
  • Mindeststandards in der Heimerziehung: Wer hat sinnvollerweise die Definitionsmacht?
  • Verantwortung von Leitung und zur Kontrolle/Selbstkontrolle von Leitung in komplizierten Entscheidungsprozessen: Wie werden Vorwürfe gegen Mitarbeiter/innen professionell und transparent untersucht?

Wie viel Nähe verträgt eine professionelle Beziehung?

Bei Ungewissheiten wie dieser möchte „man“ gerne einfache Antworten. Aber: Es gibt hier keine einfachen Antworten. Dies wurde im Vortrag von Dr. Marie-Luise Conen, Leiterin des Context-Instituts für systemische Therapie und Beratung, zum Thema „Macht und Ohnmacht der Abhängigkeitsbeziehungen“ deutlich. Eingangs betonte Dr. Conen, wichtig sei immer, bei Kindern mit auffälligen Symptomen nach einer stimmigen Geschichte zu suchen. Diese gebe es immer und hier gelte es für Fachkräfte anzusetzen, um mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen Zugänge zu den Kindern zu finden. Im Heim befinden sich viele Kinder in einem Loyalitätskonflikt zu ihren Eltern, der unter Umständen eine positive Helfer-Klient-Beziehung verhindern kann. Fachkräfte sollten sich deshalb als „Zuarbeitende“ für die Eltern und nicht als Elternersatz verstehen, damit sich das Kind in der Einrichtung gut entwickeln kann. Dann entstehe keine das Kind verletzende Nähe, weil es von den Helfern erfährt, was es sich von den Eltern gewünscht hat. Missbrauchte Kinder in Einrichtungen versuchen zudem ihre „alte Welt“ wieder herzustellen, damit sie sich dem Schmerz nicht aussetzen müssen, dass ihre alte Welt bisher so nicht in Ordnung war. Dieses Spannungsfeld zwischen „Aufgehobensein“ und „Benutztwordensein“, in dem die Kinder leben, sei für Fachkräfte eine große Herausforderung. Die Würdigung von Distanz und Achtsamkeit sei deshalb immens wichtig, dann könne Beziehungsarbeit erfolgreich sein. Fachkräfte bräuchten eine bessere institutionelle Rahmung und Unterstützung in Form von Supervision, Fortbildung und gemeinsamer Fallbesprechung. Hierfür sollte ihnen mehr Raum und Zeit gegeben werden, auch um eigene Überforderungen zu vermeiden.

Erfahrungsaustausch in Foren zu Präventionsbausteinen

Wie sich eine „gute professionelle Distanz“ zwischen Kindern und Fachkräften der Jugendhilfe herstellen lässt, diskutierten die Teilnehmer/innen in den Foren „Klientenbeziehungen im ASD“, „Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen“ und „Nähe und Distanz in Erziehungssituationen in der Jugendhilfe“. Im letztgenannten Forum stellte Dr. Hans-Ullrich Krause, Leiter des Kinderhauses Berlin-Mark Brandenburg und Vorsitzender der IGfH, folgende Fragen an den Anfang: Was sind beschädigte Kinder? Was halten (diese) Kinder aus? Was ist ein Trauma? Wie kann man Akzeptanz und Nähe bei anderen erspüren? Wie viel davon ist nötig, erträglich oder unerträglich? Im Kontext dieser Fragen stellte Dr. Hans-Ullrich Krause das Konzept der „achtsamen Pflege“ – auch mit einer beeindruckenden filmischen Sequenz – vor, das im Kinderheim Loczy (Ungarn) entwickelt wurde. Konsens bestand darüber, dass Themen wie Macht(missbrauch) und (sexuelle) Gewalt keine Tabuthemen in der Praxis bleiben dürfen und in den fachlichen Diskurs aufgenommen werden müssen. Am Ende einer sehr intensiv und emotional geführten Diskussion stand für das richtige „Maß“ an Nähe und Distanz die Aussage im Raum: „Alles was man öffentlich wiederholen würde.“ Also das Prinzip „Öffentlichkeit“ als regulierendes Element, allerdings als Haltung, nicht als Konzept.

Eine Verständigung darüber, was heißt für Kinder "Willkommen"

„Brauchen wir einen Ethik-Kodex? Oder wie man Praxis zukünftig gestalten sollte“. Diese Frage wurde zum Ausklang der Tagung auf der Podiumsdiskussion erörtert. Als Diskussionseinstieg stellte Norbert Struck, Referent beim Paritätischen Wohlfahrtsverband und Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ, die schottischen „National Standards of Care“ vor. Diese von der schottischen Regierung 2002 verabschiedeten „National Standards of Care“ beschreiben in kindgerechter Sprache die Rechte und legitimen Erwartungen von Kindern und Jugendlichen, wenn sie in eine Einrichtung kommen. Norbert Struck würdigte, dass die Standards konsequent aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen und als direkte persönliche Ansprache, wie „Du kannst..., du hast…“, formuliert worden sind. Sie sind für schottische Einrichtungen verbindlich und Grundlage für Prüfungen durch die zuständigen Behörden. Norbert Struck erklärte, dass nicht der Kodex selbst, sondern der Prozess dahin das eigentlich Wichtige ist, denn dieser bedeute eine Verständigung darüber, was „Willkommen“ heißt. Standards seien gute Rahmensetzungen, dürften aber kein Selbstzweck werden. Ihre Implementationswahrscheinlichkeit steigt, je geringer die Komplexität ist. Letztendlich geht es um die Fragen: Was dürfen Kinder, was dürfen Eltern von einer Jugendhilfe-Einrichtung erwarten? Was rechtfertigt das Vertrauen, das Kind in die Obhut einer bzw. gerade dieser Einrichtung zu geben? Ob die „National Standards of Care“ eine Anregung für die Praxis in Deutschland sein können, wurde zwischen Vertreter/innen der öffentlichen wie freien Jugendhilfe und Wissenschaftler/innen kontrovers diskutiert, inklusive der Frage, auf welche Praxis, auf welche Realität bundesdeutsches Recht trifft. „National Standards of Care“ sind ein Versprechen an die Kinder und Jugendlichen. Sicherzustellen, ob bzw. inwieweit dieses Versprechen auch eingehalten wird, dafür – so Prof. Dr. Urban-Stahl – braucht es ein funktionierendes Beschwerdemanagement, das die Subjektperspektive der Kinder einbezieht. Dann seien „National Standards of Care“ im Sinne eines Rechtskatalogs ein guter konzeptioneller Rahmen für die pädagogische Arbeit. Dr. Maria-Kurz-Adam und Rainer Kröger verabschiedeten die Tagungsteilnehmer/innen mit den Worten: Verstörung als Chance muss uns bleiben. Die Praxis sollte die „Verstörung“ durch die Skandale der Vergangenheit deshalb nicht als Störung, sondern eher als Chance begreifen. Die Erkenntnisse aus der Vergangenheit sollten weiter in den Jugendhilfealltag übersetzt werden, damit sie eine gute Wirkung entfalten. Und wir müssen weiter gemeinsam konzeptionell über geeignete Lösungswege aus diesem Problemfeld nachdenken. Oder sind Sie mit den Antworten zufrieden? Autorinnen
Maja Arlt und Kerstin Landua
Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik
Kontakt: arlt@difu.de, landua@difu.de