Lykke, 26
Psychologin und Sozialarbeiterin im Case-Management mit geflüchteten Jugendlichen
Eigentlich hat Lykke zur Zeitüberbrückung als Psychologin in der Jugendhilfe gearbeitet und sich dann neu orientiert, weil sie den Job so liebte. Im Interview teilt sie ihre Motivation, Herausforderungen und erfüllenden Momente und warum sie inklusive Sprache, intersektionales Denken und Reformen im sozialen Bereich für notwendig hält.
Wie war dein Weg zur Case-Managerin?
Ich habe in meiner Heimatstadt schon in einem Verein für junge Menschen viel ehrenamtlich gemacht, wie z.B. Chor- und Theatergruppen geleitet. Das hat mir immer großen Spaß gemacht. Ehrlich gesagt habe ich mich erst für diesen Beruf entschieden, weil ich dachte, dass ich das gut kann und die Zeit überbrücken wollte. Ich habe mich für etwas entschieden, das mich herausfordert, wie die Arbeit mit Geflüchteten, obwohl ich vorher wenig Kontakt dazu hatte. So bin ich in der Sozialen Arbeit gelandet.
Wie sieht dein Alltag jetzt aus?
Ich arbeite als Krisenmanagerin im Fachdienst Flüchtlinge, Integration und Familien, das heißt Case-Management. Ich bin verantwortlich dafür, Hilfen zur Erziehung für junge Menschen einzuleiten, die welche benötigen. Weil es der Fachdienst für Flüchtlinge, Integration und Familien ist, bin ich oft für minderjährige Geflüchtete verantwortlich, die gerade einfach keine Eltern in Deutschland haben. Also helfe ich dabei herauszufinden: In welcher Wohngruppe kannst du wohnen? Gibt es vielleicht eine Familie oder Freunde, wo du unterkommen kannst? Und genau dann arbeite ich zusammen mit ihnen, was ihre Bedürfnisse und Wünsche sind. Wir gucken, was wir einleiten können und was für Hilfen sie brauchen. Die Hilfen werden von anderen Trägern angeboten, ein Beispiel ist die ambulante Betreuung. Diese Arbeit ist immer sehr individuell orientiert und erfordert immer wieder Gespräche.
Wenn du fragst, was mir daran gefällt, es gibt viele schöne Momente, vor allem weil ich immer wieder Neues erfahre. Es ist ähnlich wie damals, als ich in der Jugendhilfe angefangen habe: Geschichten von Menschen erzählt zu bekommen, deren Erlebnisse ich so vorher noch nie gehört habe. Neulich hatte ich einen schönen Moment mit zwei jungen Frauen, die in einer eigenen Wohnung wohnen und Hilfe von einer Betreuerin bekommen. Sie waren so voller Leben und erzählten, dass sie vieles zum ersten Mal erleben. Das war so ein herzerwärmender Moment. Wenn ich das Gefühl habe, okay, diese Person blüht gerade voll auf. Ich glaube, das ist das, was mich sehr beflügelt in der ganzen Arbeit. Wenn ich zum Beispiel Klient:innen treffe, die ich mal betreut habe, mit denen ich viel gearbeitet habe. Ich sehe die zufällig in der Stadt und die sagen so „Ja man, Lykke, ich mach jetzt das und das und das passiert irgendwie voll“, – I love it, es ist richtig cool.
Was ein bisschen schwierig ist, ist das wir in der jetzigen Arbeit so schwerfällige Strukturen haben und daran reibe ich mich manchmal. Also, es ist halt Amt, das bedeutet, ich kann manche Sachen nicht so umsetzen, wie ich es mir vorstelle. Oder ich habe eine andere pädagogische Haltung als das, was das Amt von meiner Rolle darin verlangt. Da merke ich einfach, dass es Reibungspunkte gibt und es mehr Dynamik und mehr Flexibilität braucht.
Da ist einiges, was mich frustriert, weil es dazu führen kann, dass Menschen sich nicht gehört fühlen oder nicht die Hilfe bekommen, die sie brauchen. In der Vergangenheit waren das auch immer ähnliche Sachen, womit ich meine Schwierigkeit habe, vor allem in Fragen der Haltung. Wenn die nicht übereinstimmen, jemand aus meiner Sicht in der Haltung nicht professionell oder kritisch genug ist. Wir brauchen in der Sozialarbeit öfter eine kritische Haltung zu den Strukturen. Und wenn das nicht passiert, dann komme ich da schnell an meine Grenzen. Und werde auch wütend manchmal.
Du hast also Momente, in denen du dich durch die Strukturen gefesselt fühlst?
Manchmal finde ich die Schwerfälligkeit der Wege, die man gehen muss, bis etwas passiert, frustrierend. Ein Beispiel: Eine Person braucht eine Asylberatung, aber ich muss erst Wochen darauf warten, dass eine Amtsvormundschaft eingerichtet wird, um es dann mit dem Vormund gemeinsam einzuleiten. Man muss Papierkram machen, bevor man Papierkram machen kann. Es ist frustrierend, weil ich natürlich möchte, dass sich die Menschen wohl und sicher fühlen. Es gibt so viele Situationen, in denen ich nur sagen kann, „Hey, es tut mir total leid, dass du jetzt hier sitzt und nicht weißt, was du machen sollst, du musst dich noch gedulden, es dauert noch länger“, was aber nicht immer hilft. Und ich bin aber nicht dafür verantwortlich und ich kann das nicht beschleunigen. Ein Jugendlicher neulich, der seit vielen Monaten Familiennachzug erwirken möchte, leidet darunter, dass seine Family nicht da ist, dass es so lange dauert. Er schließt sich in seinem Zimmer ein, niemand weiß, wie man ihm aus seiner Gedankenspirale helfen kann. Er schläft nicht, er dreht sich immer nur um sich selbst. Und alles, was ich machen kann, ist Verständnis zu zeigen.
Mir würde es an deiner Stelle auch so gehen, glaube ich. Aber ich kann das nicht beschleunigen. Mir sind die Hände gebunden und das ist so ein total unbefriedigender Moment.
Waren das deine Erwartungen an den Job?
Ja, aus diesen Gründen wollte ich eigentlich nie beim Amt arbeiten, was etwas ironisch ist. Ich hatte das Gefühl, dass die Arbeit dort schwerfällig ist, vorher schien mir das Amt auch immer so – wie soll ich sagen? - hoheitlich vielleicht. Eigentlich müssten wir besser zusammenarbeiten mit den Jugendhilfeträgern. Ich gebe jemand anderem den Auftrag für die Hilfe. Und das bedeutet, ich muss diesem jemand anderen dann auch zuhören und das passiert zu wenig. Ich habe das vorher von dieser anderen Seite mitbekommen und dachte immer auf diesem Stuhl will ich nie sitzen. Aber ich wollte geregelte Arbeitszeiten und Wochenenden frei, es ist eine sehr persönliche Entscheidung. Ich mache das erst seit kurzem und sehe es als Vorteil für mein Privatleben. Wie lange ich bleibe, ist die nächste Frage. Ich habe diese Schwerfälligkeit erwartet und kann die Momente gut einordnen.
Siehst du dich also in einer Machtposition?
Ich sehe mich auf jeden Fall in einer ganz anderen Verantwortlichkeit. Das Machtding ist da, weil es eine Hierarchie gibt, die quasi automatisch eintritt. Aber ich versuche, das in meinen Gesprächen und Kontakten mit den ganzen Menschen zu minimieren. Zum Beispiel stelle ich in Gesprächen viele Fragen und entscheide nicht immer allein. Ich schreibe Hilfepläne im Anschluss an die Bedarfsgespräche gemeinsam mit den Menschen und frage nach ihren Zielen und Bedürfnissen, ich mache transparent, was ich sehe. Ich versuche, meine Haltung zu reflektieren und mich auf die Wahrheit der Klient:innen zu fokussieren. Es geht darum, sie zu unterstützen und nicht meine Vorstellungen durchzusetzen.
Was sollte auf einer gesellschaftlichen Ebene passieren, damit alle jungen Menschen selbstbestimmt leben können?
Multi-Professionalität ist für mich wichtig. Wir brauchen diverse Aufstellungen, um unterschiedlich helfen zu können. Das bedeutet, dass es eben nicht darum geht, dass wir irgendwie nur Fachkräfte mit der und der Ausbildung haben müssen, sondern dass es ganz viele diverse Aufstellungen braucht. Nicht mehr nur im Sinne von „Wir haben jetzt diese Einrichtung dafür und diese Einrichtung dafür“ und dass es sich dann aufteilt, wer wo arbeitet, sondern dass es eher eine gemeinschaftliche Aufgabe ist. Das ist ein Traum von mir. Ich denke, wenn wir alle zusammenarbeiten, dann müssen auch ganz viele verschiedene Perspektiven da reinkommen und eben nicht nur meine. Es braucht nicht nur „Ich habe 3 bis 5 Jahre Sozialarbeit studiert“, sondern auch „ich kann Kunst“ und „ich bin Handwerker:in“ In dem Zusammenhang sind Fortbildung und Schulung besonders essenziell. Und zwar nicht nur Schulung im Sinne von Traumapädagogik und systemischen oder anderen Methoden, die man sich aneignet, sondern auch zum Thema Diskriminierung.
Das finde ich, ist im Amt ein größeres Problem, aber auch in anderen Jugendhilfe-Einrichtungen. Was ich jetzt erlebt habe: dass mit diskriminierten Gruppen häufig nicht gut umgegangen wird.
Ich überlege oft, wie man das verbessern kann, weil ich natürlich auch selber davon nicht befreit bin. Wenn ich in einem Gespräch sitze, dann merke ich selbst auch Dinge, manchmal Gedanken oder Fragen, die ich stelle. Ich frage mich, ob und wie ich das vielleicht anders formulieren kann und sollte. Sensibler formulieren kann. Ich wünsche mir, dass sich Fachkräfte mehr professionalisieren hinsichtlich Diskriminierung.
Besonders über die Pandemie hat man gemerkt, wie unfassbar wichtig helfende Berufe für eine Gesellschaft sind. Und dann ist aber der Stellenwert trotzdem so gering, ist vergleichsweise so schlecht vergütet, die Arbeitszeiten sind oft echt nicht okay. Aber auch das Bild von sozialen oder Pflegeberufen ist total verschoben aus meiner Perspektive.
Und Niedrigschwelligkeit! Gerade im Amt – du schreibst einen fancy Text im Amtsdeutsch und der ergibt fachlich ganz viel Sinn und ist super belegt, aber letztendlich versteht kein Schwein, was ich da geschrieben habe, oder? Und das ist vor allem nicht zugänglich für die Person, die das betrifft.
Das bedeutet eben auch, Sprache anzupassen, einfach mehrsprachlich aufgestellt zu sein, Leute einzustellen, die auch zu diskriminierten Gruppen gehören und einen ganz anderen Zugang zu der Perspektive der Klient:innen haben.
Welche Auswirkungen siehst du bei (in)sensibler Sprache?
Sprache ist Macht. Gebildet zu sein, gibt mir Macht. Ich hatte Glück, dass ich so gebildet bin. Wenn ich das anders einsetze oder mir dessen bewusst bin und dann entsprechend nicht ausübe, um mich möglichst gewählt auszudrücken, sondern um dabei zu helfen, aufzuklären oder so inklusiv zu sprechen, dass sich alle Menschen gehört fühlen oder angesprochen fühlen, schafft man mehr Zugänge miteinander und zueinander und dann kann man vielleicht besser miteinander arbeiten, sich kennenlernen und leben.
Und Prävention ist wichtig. Wenn ich mich schon vorher mit Vorurteilen und Diskriminierung beschäftige, kann ich aktiv gucken, dass ich meine Sprache und dementsprechend auch mein Denken anpasse. Dann gehe ich anders auf Leute zu, dann sind die vielleicht auch anders zugänglich und dann kann man miteinander möglicherweise etwas abwenden, was in manchen Dynamiken wechselseitig entsteht und Zuschreibungen reproduziert.
Wir haben manchmal das Problem, dass angenommen wird, eine Person verstehe das sowieso nicht. Und wenn ich das denken würde und mich danach verhalte, dann reproduziere ich ja das die ganze Zeit. Entsprechend glaube ich, dass mit Sprache alles anfängt, egal welches Thema.
Sprache schafft Denken. Wenn ich inklusiv spreche und denke, reproduziere ich positive Muster.
Haben Ämter aus 2015 gelernt und reagieren jetzt anders auf Geflüchtete?
Ich hoffe, dass die Leute gelernt haben, aber ich sehe das persönlich nicht so sehr im Moment, ich habe das Gefühl, dass sich eher viel verschärft. Es gibt Fortschritte, wie Informationen in verschiedenen Sprachen, aber ich habe das Gefühl, dass die Muster oft nicht intrinsisch geändert wurden. Schulung ist wichtig. Jetzt war ich neulich auf einem Fachtag zu institutionellen Rassismus, wo wir noch mal darüber geredet haben, wie sich das manifestiert und was es für Gegenstrategien geben kann. Ich habe bisher wenige Gegenstrategien in der Praxis gesehen und das ist frustrierend.
Was sagst du anderen Personen, die einen sozialen Beruf ergreifen wollen?
Ich würde erstmal sagen: richtig cool, dass du dabei bist! Ich freue mich über jede Person, die das macht. Mir fällt da ein Mantra ein, das wir im Team haben, ist: „Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“. Mein Team ist ziemlich gut, finde ich. Es geht darum, die Entwicklung der Person in den Vordergrund zu stellen und nicht, was du als Helfer:in erreichen willst. Jeder Mensch geht seinen eigenen Weg und das ist so wichtig zu akzeptieren. Es geht darum, Menschen zu befähigen, selbstwirksam zu sein.
Zum Schluss: Hast du Wünsche?
Ich wünsche mir, dass das, was soziale Arbeitende in ihre Arbeit einbringen, gesamtgesellschaftlich ankommt. Ich wünsche mir, dass Menschen aufeinander zugehen, sich zuhören und anderer Menschen Wahrheiten sein lassen und auf Gespräche einlassen. Ich wünsche mir, dass Menschen sich glauben, weil wir oft so misstrauisch und vorurteilsbehaftet sind und wir darauf aufbauend ein System schaffen, das nicht alle ausbeutet.
Interview & Porträt: Momen Mostafa
Textbearbeitung: Gesine Köster-Ries