Gekommen um zu bleiben
Altwerden: Multiple Perspektiven beim Einzug in eine Senioreneinrichtung
Die Biografien und Grundlagen für das Wohnen im Alter – und insbesondere in einer Einrichtung – sind so verschieden, wie sie nur sein können. Im Pflegeheim zu wohnen, ist für Viele oft mit Scham und Trauer besetzt. Es kann aber auch neue Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung und Lebensgestaltung bieten. Der erste Teil der multiperspektivischen Reihe „Altwerden“ blickt auf den Einzug in ein Seniorenheim, den möglichen Verlust letztmöglicher Selbstständigkeit und warum über diese nicht nur im fachlichen Umfeld gesprochen werden sollte. Er begibt sich in die Lebenswelt einer Seniorin hinein, die so tausendmal in Deutschland erzählt werden könnte.
Frau Schneider ist 81 Jahre alt und hat einen Umzug zu bewältigen. Es geht nicht in eine neue Wohnung oder ein Appartement im Servicewohnen. Die Seniorin zieht in die stationäre Altenhilfe ein: Einzelzimmer Nr. 114, eigenes Bad, erster Stock. Ihr Blick geht auf den begrünten Innenhof. 95 Mitbewohnende auf drei Etagen sind ihre neuen Nachbarn, mit denen sie den Alltag verbringen wird.
Das statistische Bundesamt hat errechnet, dass allein durch das zunehmende Alter die Zahl pflegebedürftiger Menschen bis 2055 um 37 % steigt. Es sind die oft zitierten Babyboomer, die die Pflegezahlen in die Höhe bringen. Hinzu kommt ein weiteres Kriterium: die Einführung neuer Pflegegrade und die Veränderung des Pflegebegriffs mit der Pflegereform von 2017. 82 % der über 90 Jährigen sind in Deutschland aktuell pflegebedürftig (Statistisches Bundesamt/Destatis 2024).
Zurück zur eingangs vorgestellten Seniorin:
Die Voraussetzungen stimmen für Frau Schneider. Ein Vorgespräch und ein Besuch der Einrichtung zusammen mit der Tochter haben stattgefunden, man ist auf der Warteliste nach vorne gerückt. Die Einrichtungsleiterin hat sich viel Zeit für das Gespräch genommen. Frau Schneider hat den Pflegegrad II, dieser ist zwingend erforderlich für die Aufnahme. Der Heimvertrag ist unterschrieben und die alte Wohnung außerordentlich gekündigt. Sie wartet noch auf die Antwort ihres Vermieters.
Diese Szene ist übertragbar auf viele Senior:innen in Deutschland. Frau Schneider ist eine fiktive Person, ihre Erfahrungen sind real.
Als Mitarbeiterin im Sozialen Dienst in einem Seniorenheim konnte ich Erfahrungen in einem Feld der Sozialen Arbeit sammeln, was mir vorher unbekannt war. Nicht persönlich gesehen, denn in der Regel hat fast jeder Mensch Angehörige, die pflegebedürftig sind oder es werden. Und auch mit dem eigenen Älterwerden wird man zwangsläufig konfrontiert und stellt sich die Frage: Wie will ich im Alter leben?
Was auch bei mir automatisch stattfand war, das ich das Seniorenheim, in dem ich arbeitete mit den mir bekannten Einrichtungen zu vergleichen.
Altenhilfe ist- sofern sie stationär stattfindet- in erster Linie Altenpflege. Und auch im ambulanten Sektor, weil die Senior:innen älter werden. Und dennoch verzahnen sich in ihr viele Professionen und Methoden: Von Palliative Care bis zur Ergotherapie, von der Seelsorge bis zur Sozialen Gruppenarbeit.
Für mich ist sie auch ein Bereich der Sozialen Arbeit, der alle Gesellschaftsschichten und Einkommenssituationen tangiert. Der Eintritt in eine Senioreneinrichtung findet immer später im Lebensalter statt, die Pflegebedürftigkeit ist oft höher sie es vor 10 Jahren noch war, wenn man in die Einrichtung kommt. Der überwiegende Teil der Pflegebedürftigen wird noch immer in den eigenen vier Wänden versorgt.
Dieses Essay betrachtet aus multiprofessioneller Sicht (soweit dies möglich ist) die Situation und Unterstützung alter Menschen in Pflegeheimen. Der Begriff „Pflegeheim“ oder „Senioreneinrichtung“ hat das „Altenheim“ abgelöst. In Fachkreisen Sozialer Arbeit ist dieser Sektor allerdings noch recht jung.
Innere und äußere Wahrnehmung beim Einzug in die Altenhilfe-Einrichtung
In der psychosozialen Stufenentwicklung nach Erikson birgt jede Lebensstufe eine Krise in sich und bedarf der Bewältigung des ihr zugrunde liegenden Konflikts. Hat der Mensch die einzelnen Stufen und ihre Entwicklungsherausforderungen bewältigt um in die neue Lebensphase überzugehen - welche Rolle spielt die Resilienz?
Die Identitätsentwicklung ist nicht abgeschlossen, nur weil ein Mensch alt oder hochbetagt ist: Wer will ich sein, welche Werte sind mir wichtig, wie möchte ich sterben? Diese existentiellen Fragen werden mit in die Altenpflegeeinrichtung hinein genommen oder neu aufgeworfen. Sie bleiben zuweilen unbeantwortet, insbesondere wenn professionelle Einzelarbeit und validierende Gespräche ausbleiben. Ein wichtiges Stichwort hier: Die Biografiearbeit, die auch von Pflegefachkräften geleistet wird.
Denn die jeweilige Biografie und die Sozialisation des Einzelnen sind wichtig. Auch wenn die Einrichtung das „Rundum-Sorglos-Paket“ für Alle anbieten muss, den Kriterien entsprechen soll.
Altersgerechter Wohnraum, professionelle Pflege und bedarfs- und sozialraumorientierte Aktivitäten sind essenzielle Grundrechte im Pflegeheim. Sie wiegen auch für die Angehörigen sehr hoch. Der Grad der Zufriedenheit bei den Angehörigen von Pflegebedürftigen muss im Blick gehalten werden.
Die betroffene Person, die in die Einrichtung einzieht, soll Angebote der Aktivierung entsprechend den kognitiven und körperlichen Fähigkeiten wahrnehmen. Dies gelingt aus Sicht von Fachkräften am besten, in dem diese zum Einsatz kommen und sich die Betroffenen rasch eingewöhnt. Selten wird im Aufnahmeprozess und später das Wort Krise oder Trauer benutzt. Die eigentliche Krise scheint ja überwunden und mit ihr alle Faktoren, die zur Aufnahme in die Einrichtung führen.
Diese waren oftmals:
- nicht altersgerechter Wohnraum
- unzureichenden Pflege des Betroffenen
- wenig Zeit für Zuwendung
- Mangelernährung und mehr
Für die Senior:innen beginnt erst der Weg, wenn die Selbstständigkeit in den eigenen vier Wänden aufgegeben wird. Die eigene Lebenssituation vielleicht ganz anders gesehen wird, als es die Angehörigen oder Fachkräfte tun. Verzweiflung und Wut kann einsetzen. Diese Gefühle werden unterdrückt oder man möchte sie nicht zeigen oder ansprechen, um es Angehörigen nicht schwerer zu machen.
Die Identifizierung mit dem Übergang bedeutet für Bewohnende in Senioreneinrichtungen, die noch sehr gut bis gut orientiert sind, eine Ambivalenz zwischen Ratio und Emotion. Es kommt zu Aussagen wie: „Es konnte so nicht weiter gehen, ich brauche mehr Hilfe“, „Meine Kinder haben ihr eigenes Leben, das sollen sie auch haben.“
In der ersten Zeit treffen sie auf ihnen völlig unbekannte Menschen, zu denen keine Vertrauensbasis besteht. Es kann auch zur Begegnung mit bekannten Personen kommen, die nicht immer unbedingt positiv besetzt sind. Der Wunsch nach wohnortnaher Versorgung in der Altenpflege kann ein Problem darstellen, wenn die neue Stationsleitung die geschiedene Ehefrau des Sohnes ist oder die Nachbarin im Zimmer nebenan zuvor im gleichen Wohnort lebte und man zerstritten war. Vielleicht trifft man auch auf eine gute Bekannte, die hoch dement ist, die einen wüst beschimpft und nicht mehr erkennt. Diesen Erfahrungen in der Anfangszeit des Umzuges stehen oft Sätze von Angehörigen entgegen die so oder so ähnlich klingen: „Jetzt bist du nicht mehr so allein, hier sind tolle Angebote und Aktivitäten möglich.“
Beim Übergang in eine Pflegeeinrichtung werden für mich Parallelen sichtbar, die durchaus dem Eintritt in eine Kindertagesstätte ähneln können:
- Der Träger bespricht mit den Bewohnenden und Angehörigen die familiäre Situation/Biografie
- Gewohnheiten und Vorlieben werden identifiziert und fest gehalten
- Die Förderung von Selbständigkeit (bei Senior:innen kommt der Erhalt dieser dazu) wird als wichtiges Element in der Zusammenarbeit konstatiert
- Die Kooperation mit den Eltern (nun sind es die Kinder oder Vertreter:innen einer jüngeren Generation) wird als hoher Wert benannt
- Mit ihr drückt der Träger/die Fachkräfte den Wunsch aus, Probleme anzusprechen, die im Lauf der Zeit entstehen können
Es findet sich die Formulierung, sei es nun Kindertagesstätte oder Senioreneinrichtung: „Wenn wir nicht wissen, wo der Schuh drückt, können wir nicht helfen.“
Möglichkeiten zur Partizipation und Aktivierung im Pflegeheim
Der Gesetzgeber fordert die humane und aktivierende Pflege, sei es nun ambulant oder stationär. Gleichzeitig soll die Vielfalt der Trägerlandschaft gewahrt werden, das Selbstverständnis und die Unabhängigkeit der einzelnen Anbieter. Das Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz (PUEG) von Mai 2023, bleibt bei den Fachleuten meist hinter seinen Erwartungen zurück. Den Bedürfnisse und Problemen von Pflegebedürftigen und der sozialen Pflegeversicherung werden -auch aus Sicht des Verbandes der Ersatzkassen- nicht entgegengewirkt. Die Folgen zeigen sich durch steigende Altersarmut und Erhöhung der Eigenanteile, die Betroffene und Angehörige für Pflege zahlen müssen.
Die geeignete Einrichtung, die meinen Erwartungen an zeitgemäße und moderne Pflege entspricht, ist oft sehr teuer. Was sich in den Leistungen verbirgt und wie diese ausgeführt werden, zeigt sich meist in den ersten Wochen nach dem Einzug. Und in den meisten Fällen erhält das Personal, dass aktiv in der Pflege tätig ist, das erste Feedback, wenn man unzufrieden ist mit der Leistung und dem Verhältnis zu den Kosten, die man trägt.
Der Grad der Zufriedenheit, die Möglichkeiten zur eigenen Entscheidung und gute Kommunikation spielen in der Eigen- und Fremdaktivierung eine große Rolle. Die Angebote insbesondere im Bereich der Sozialen Betreuung, können besser wahrgenommen werden, wenn die compliance hoch ist, man sich vom Pflegepersonal adäquat unterstützt fühlt.
Warum sollte ich in ein Gedächtnistraining gehen, wenn es mir viel wichtiger ist, ausgiebig zu duschen und dabei unterstützt zu werden? Wenn ich es am Morgen mit der Pflegekraft besprochen habe? Pflege und Angebote der Sozialen Betreuung verzahnen sich nicht immer.
Kommen wir auf Frau Schneider zurück:
Frau Schneider ist nun schon einige Wochen im neuen Zuhause. Sie frühstückt gerne spät, am liebsten, wenn alle anderen schon den Ess- und Aufenthaltsraum verlassen haben. Dann genießt sie die Ruhe und den kleinen Plausch mit der Mitarbeiterin der Hauswirtschaft, die die Tische abdeckt. Sie fühlt sich noch nicht fit genug, um morgens ein Angebot der Betreuung wahrzunehmen. Die Tabletten senken den Blutdruck und machen sie am Vormittag oft wieder müde, auch wenn sie sich ausgeschlafen fühlt.
Foto: Sonja Maibach
Ihr tut es leid, wenn sie der netten Betreuungsassistentin eine Absage erteilen muss. Frau Schneider möchte keinem Ärger bereiten. Sie hat inzwischen unter den Mitbewohner:innen nette Gesprächspartnerinnen gefunden, sie singt gerne. Viele Themen drehen sich im Kreis, gerade die unter den Mitbewohner:innen im Wohnbereich. Gerne ist sie auf ihrem Zimmer, schaut ihre TV-Sendungen und macht Rätsel.
Selbstbestimmt im Pflegeheim leben
Was möchte ich? Was nicht? Welche Aktivierung ist nötig, damit Senior:innen neue Reize und Erfahrungen erhalten, damit sie geistig und körperlich in der Einrichtung aktiv bleiben und nicht verkümmern?
Teilhabemöglichkeiten bestehen für die Senior:innen auch im Bewohnerbeirat. Dass dieser keine reine Alibifunktion erhält, sondern sichtbar ist für andere Bewohner:innen und Mitarbeitende ist wichtig. Die aktive Mitgestaltung bei Festen durch Bewohner:innen, die Möglichkeiten, Ideen einzubringen, kann andere zur Teilnahme ermutigen.
Neue Anregungen können durch interessante Hobbys von Mitarbeitenden und Bewohner:innen den Alltag im Pflegeheim bereichern. Gerade in der Anfangsphase nach dem Einzug werden Vorlieben benannt, die man aufgreifen sollte. Oder auf die man zurück greifen kann, wenn die Zusammenarbeit schwierig wird. Konflikte gehören im Seniorenheim dazu, die Bewohner:innen und die Gruppendynamik verändern sich stetig. Angebote für Einzel- und Gruppenarbeit müssen ebenso dynamisiert werden.
Eines scheint offensichtlich zu sein: Der Blick auf das Älterwerden ist sowohl gesellschaftlich als auch bei den Senior:innen ambivalent. Es droht die Verwahrlosung und die Einsamkeit in Pflegeheimen genauso wie Chancen bereit stehen, selbstbestimmt und aktiv diese letzte Lebensphase zu gestalten. Dazu ist es wichtig, Bedürfnisse zu kennen und zu evaluieren.
die bestehende Ambivalenzen zulässt und nicht verdrängt.