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„Soziale Arbeit ist systemrelevant“

Eine zentrale Frage in der Corona-Krise ist, welche gesellschaftlichen Bereiche als systemrelevant gelten. Im Interview erklärt Prof. Dr. Leonie Wagner, weshalb Soziale Arbeit ein essentieller Bestandteil der 'kritischen Infrastruktur' ist. Es zeigt sich: Die Auswirkungen der aktuellen Krise werfen alte Fragen an die Soziale Arbeit auf.

Sozial.de: Frau Professor Wagner, Sie haben in einem Essay moniert, die Soziale Arbeit sei in der aktuellen Krise nicht sichtbar genug, ihre ‚Systemrelevanz‘ müsse deutlicher werden. Wie ist das zu verstehen?

Wagner: Ich finde es auffällig, dass soziale Dienstleistungen bei all den getroffenen Maßnahmen insgesamt leider nicht in der Weise im Fokus stehen wie zum Beispiel die Situation von Kultureinrichtungen, Künstler*innen oder auch Familien und Wirtschaft. Vertreter*innen der Sozialen Arbeit sind in dieser Krise medial kaum gefragt, sie werden offensichtlich nicht als Expert*innen für die Problemlagen wahrgenommen, die die weitreichenden Einschränkungen mit sich bringen. Dass die Politik erst nach einem lauten Aufschrei der freien Wohlfahrtspflege das Sozialschutzpaket geschnürt hat, spricht aus meiner Sicht für sich. Da stellt sich schon die Frage, warum das so ist.

Sozial.de: Welche Ursachen vermuten Sie? 

Wagner: Möglicherweise haben sich Disziplin und Profession politisch nicht ausreichend eingemischt. In einer Phase des steten Ausbaus – auch wenn das nicht für alle Handlungsbereiche gleichermaßen gilt – scheint es keine Notwendigkeit gegeben zu haben, die Bedeutung sozialer Dienstleistungen immer wieder herauszustellen, Politik und Gesellschaft zu informieren, aber auch Forderungen zu stellen. Das ist zwar vereinzelt geschehen, hat aber nie die Profession als Ganze betroffen, sondern eher einzelne, gerade gesellschaftlich viel diskutierte Bereiche, wie z.B. Kindererziehung.

Dazu zählt für mich auch, dass die Zusammenhänge von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung für viele Menschen und insbesondere die Politik offensichtlich nicht deutlich geworden sind. Damit meine die gegenseitige Abhängigkeit von Wirtschaft und Sozialem, wie sie beispielsweise 1995 vom Weltgipfel für soziale Entwicklung in der Kopenhagener Erklärung formuliert wurde oder wie sie als Grundlage Sozialer Arbeit in den Theorien Sozialer Entwicklung beschrieben ist. Im Zuge der zu erwartenden ökonomischen Krise darf es nicht zu einem Rückbau sozialer Leistungen kommen, da muss Soziale Arbeit auf allen Ebenen deutlich zu hören sein.

Sozial.de: Der Begriff Systemrelevanz ist derzeit in aller Munde. Viele Branchen und Bereiche reklamieren für sich, systemrelevant zu sein. Warum ist die Soziale Arbeit es aus Ihrer Sicht?

Wagner: Sozialarbeiter*innen halten in der aktuellen Situation den Kontakt zu hilfebedürftigen Menschen. Es ist ja nicht so, dass die sozialen Problemlagen mit dem Virus verschwinden. Im Gegenteil: Krisen treffen arme und marginalisierte Menschen immer am stärksten. Die Kontaktbeschränkungen erschweren die Arbeit erheblich. Das betrifft im Prinzip alle Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit, von der Arbeit mit wohnungslosen Menschen bis zum Kindesschutz. Wenn Schulen geschlossen werden und Menschen ins Homeoffice verlagert werden, kann das bestehende Spannungen verschärfen oder auch neue erzeugen. Insofern ist ein Anstieg häuslicher Gewalt zu erwarten. Damit hat der Staat die Aufgabe, die von dieser Gewalt betroffenen Menschen zu schützen. In Frauenhäusern gab es aber beispielsweise schon vor der Krise viel zu wenig Plätze. Soziale Arbeit ist dafür zuständig, dass solche Schutzräume weiterhin vorhanden und zugänglich bleiben und muss das auch politisch fordern.

Zudem ist die wirtschaftliche Tragweite der Krise ist ja noch gar nicht absehbar. Leider müssen wir damit rechnen, dass sich die sozialen Probleme verschärfen werden, wenn mehr Menschen von Arbeitslosigkeit bedroht sind und ihre wirtschaftliche Existenz gefährdet sehen. Insofern ist es umso wichtiger, dass die bestehende soziale Infrastruktur nicht aufgrund finanzieller Zwänge abgebaut wird. Auch hierin liegt die Systemrelevanz: Krisen treffen Gesellschaften umso heftiger, je weniger Menschen professionelle Unterstützung erhalten. Insofern ist Soziale Arbeit für mich eindeutig Teil der sogenannten ‚kritischen Infrastruktur‘.

Sozial.de: Sie kritisieren auch, dass von sozialen Diensten ‚Gegenleistungen‘ für die staatlichen Hilfen erwartet werden, während andere Bereiche Hilfen erhalten, ohne Bedingungen erfüllen zu müssen.

Wagner: Das stimmt. Ich finde es sehr bemerkenswert, dass das Bundeministerium für Arbeit und Soziales als Voraussetzung für die Hilfen formuliert, dass die sozialen Dienste zur Bewältigung der Auswirkungen der Pandemie beitragen sollen. Was sich dahinter ganz praktisch und auch arbeitsrechtlich verbirgt, lässt sich kaum abschätzen. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass auch andere Bereiche in dieser Weise vom Staat in die Pflicht genommen worden sind.

Sozial.de: Was erhoffen Sie sich für die Zeit nach der Krise?

Wagner: Da kann ich ja dann mal positiv werden: Ich finde es beeindruckend, mit welcher Kreativität viele soziale Einrichtungen und Sozialarbeiter*innen derzeit versuchen, trotz des Kontaktverbotes, ihre Angebote noch aufrechtzuerhalten. Und dies ohne Schutzausrüstung. Aber ich wollte ja positiv sein. Ich hoffe, dass diese Erfahrungen eine Weiterentwicklung von Methoden und Angeboten inspiriert. Ich hoffe aber auch, dass die Erfahrung der Nichtwahrnehmung dazu führt, dass sich mehr in der Sozialen Arbeit Tätige auch dafür verantwortlich fühlen, dass die Profession (und Disziplin) in der öffentlichen und politischen Wahrnehmung deutlicher platziert wird, dass Soziale Arbeit als systemrelevant anerkannt wird.

Das Interview führte Sebastian Hempel.

Zur Person

Dr. Leonie Wagner ist Professorin für Pädagogik und Soziale Arbeit am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Fakultät Management, Soziale Arbeit, Bauen der HAWK-Fachhochschule Holzminden. 2016 erfolgte ihre Umhabilitation an den Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim mit der Venia Legendi 'Sozialpädagogik'. 

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Kommentare (5)

Victoria N. 20. Mai 2020, 19:30

Hallo Nuschin Rawanmehr,



deine Gedanken dazu sind sehr interessant, jedoch möchte ich den Punkt widersprechen, dass Soziale Arbeit keine Lobby hat, sie hat eine, diese ist jedoch kaum sichtbar und (scheinbar) nicht gut organisiert... Es gibt ja beispielsweise den DBSH (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit) , allerdings gibt es dort nunmal wenige Mitglieder (wenn man die Zahl der Sozialarbeiter/innen im Vergleich sieht).



Ansonsten stimme ich dir zu, es ist schon traurig, unter welcher Ökonomisierung die eigentliche Soziale Arbeit leidet...



Viele Grüße,



Victoria

Annika Cleff 12. Mai 2020, 21:23

Vielen Dank für diesen Artikel und die klaren Worte.



Wenn ich das Wort "systemrelevant" höre, frage ich mich jedesmal: Von welchem System sprechen wir da? Wenn wir das System "Gesellschaft" nehmen, dann ist Soziale Arbeit der Kitt zwischen all den im System lebenden Personen. Sie führt (wieder) zusammen, schlichtet, klärt, beteiligt etc. - wenn das nicht systemrelevant ist!



Ich bin selber in der Sozialen Arbeit aktiv; arbeite schon lange mit Kindern und Jugendlichen und habe da in den letzten Wochen sehr intensiv wahrnehmen können, wie wichtig für diese jungen Menschen der soziale, direkte Kontakt zu ihren Mitmenschen ist.



Und gerade in Zeiten, in denen weniger Klarheit herrscht, die Zukunft weniger planbar ist und Ängste geschürt werden, brauchen sie - und natürlich auch andere Adressat*innen der Sozialen Arbeit - fachliche Ansprechpartner*innen.



Daher plädiere ich für mehr Lobbyarbeit in und für die Soziale Arbeit. Damit sie nicht nur für unsere Adressat*innen (system)relevant ist.

Nuschin Rawanmehr 29. April 2020, 13:14

Danke für ihren interessanten Beitrag.



Ich bedauere zutiefst, dass professionelle Soziale Arbeit nach wie vor keine Lobby hat und mittlerweile es vor allem unter den freien Trägern es längst “normal“ geworden ist, da vor allem wirtschaftlich attraktiver, bevorzugt Personal einzustellen, was “ähnliche Studiengänge“ vorweist.

Damit “verwässert“ und entprofessionalisiert man Soziale Arbeit und es läßt den Eindruck entstehen, als könnte jede*r “Sozialarbeiter“ werden bzw. Arbeiten.

In der Konsequenz geht das Selbstbewusstsein und die Stärke dieses Berufes verloren, der gerade jetzt so “systemrelevant“ ist.

Sozial.de 07. April 2020, 06:56

Liebe Daniela, vielen Dank für das Feedback! Vielleicht gibt die Krise ja Anlass, dass Sozialarbeiter*innen dies künftig auch offensiver und besser organisiert vertreten.

Daniela 06. April 2020, 22:46

Ich finde diesen Beitrag sehr wichtig! Auch schon vor der Krise eigentlich schon seit ich meinen Beruf als Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin (nun seit 20 Jahren) ausübe ist mir klar das diese Tätigkeit systemrelevant ist. Mir begegnen jedoch heute immer noch Menschen egal aus welchen Settings die sich unter dem Berufsbild gar nichts vorstellen können. Das und auch die Bezahlung für einen Beruf der kein leichtes Studium erforderte finde ich nach wie vor traurig. Positiv werden wohl immer die Feedbacks der Menschen bleiben die man durch Hilfsangebote erreicht hat und die dankbar dafür sind das man sie ein Stück weit auf ihrem Weg unterstützt hat.

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