Stellungnahme zu Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigenden Existenzminimums

10.09.2013 | Sozialpolitik | Nachrichten

Der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) übermittelt am 02.09.2013 dem Bundesverfassungsgericht seine Stellungnahme zu den Beschlüssen des Sozialgerichts Berlin* und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines  menschenwürdigenden Existenzminimums. Der AWO Bundesverband folgt nach  eingehender Prüfung dem Berliner Sozialgericht: „Das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011 ist nicht verfassungskonform“, erklärt der AWO Bundesvorsitzende Stadler und verweist unter anderem darauf, dass das Verfahren insgesamt intransparent und die Berechnung der Regelbedarfe nicht sachgerecht sei. Die AWO legt darüber hinaus dar, dass das SGB II soziale Teilhabe behindert: „Die Sicherung eines menschenwürdigen und ausreichenden Existenzminimums ist eine der Kernaufgaben unseres Sozialstaats. Hierbei geht es nicht nur um die Befähigung zur Selbsthilfe, sondern auch um die Gewährleistung sozialer Teilhabe.“ Schon jetzt zeige sich einhergehend mit dem Grundsicherungsbezug ein besorgniserregender Trend des sozialen Rückzuges. Aktivitäten, die der gesellschaftlichen Teilhabe dienen, wie z.B. Vereinsmitgliedschaften, gemeinschaftliche Aktivitäten in der Nachbarschaft kosten Geld, das derzeit noch häufig eingespart werden müsse. Mit der Abnahme sozialer Kontakte sinken oftmals auch die politische Partizipation und die Demokratiezustimmung. In diesem Kontext seien auch gesundheitliche Faktoren von Bedeutung, denn eine gesunde und ausgewogene Ernährung ist Grundvoraussetzung für den Erhalt der Leistungsfähigkeit und beugt präventiv Erkrankungen vor. Wird gerade dieses soziokulturelle Existenzminimum durch die Grundsicherung nicht mehr hinreichend abgebildet ist dem Gesichtspunkt der Nachvollziehbarkeit nicht mehr Genüge getan. Somit bedürfe es eines neuen Verfahrens zur Ermittlung der Regelbedarfe. Ein solches könnte durchaus weiter auf der Basis der EVS erfolgen. Überprüft werden sollte jedoch, wie die Vermischung zwischen Statistik und Warenkorbmodell aufgehoben und das gesamte Verfahren transparenter und sachgerechter ausgestaltet werden kann. Überlegt werden sollte, inwieweit eine unabhängige Expertenkommission die Berechnung durch die Heranziehung ergänzender Befunde aus alternativen Datenquellen und qualitative Studien unterstützen kann. Aus Sicht des AWO Bundesverbandes entspricht die Neuberechnung der Höhe der Regelbedarfe für alleinstehende Leistungsberechtigte sowie Kinder erziehende erwerbsfähige Leistungsberechtigte und jugendliche erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Zuge des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes nicht den Vorgaben des BVerfG aus seiner Entscheidung vom 9. Februar 2010. Die Regelbedarfe sollten deshalb in einem transparenten, sachgerechten und am tatsächlichen Bedarf orientierten Verfahren neu berechnet werden. Auch stellt die AWO fest, dass die Referenzgruppe von 15 Prozent der unteren Alleinstehenden-Haushalte für die Ableitung der Bedarfe von alleinstehenden Leistungsbeziehenden fehlerhaft gewählt wurde. Als problematisch erachtet die AWO zudem die Einstufung bestimmter Konsumausgaben als nicht regelbedarfsrelevant, denn hierbei wird nicht nur mit normativen Begründungen in ein  statistisch ermitteltes Ergebnis eingegriffen. So wird beispielsweise der Mobilitätsbedarf unzureichend gewürdigt, indem selbst bei Wegfall einer Kfz-Nutzung höhere Ausgaben für öffentliche Nahverkehrsmittel unberücksichtigt bleiben. Dies führt dazu, dass die ÖPNV-Pauschale vielerorts nicht einmal für die Nutzung eines Sozialtickets ausreicht. Bedenken bestehen auch im Hinblick auf die Berechnung der Kinderregelsätze, da viele Verbrauchspositionen nicht mit Zahlen hinterlegt sind, sondern wie etwa bei dem Teilhabebedarf durch zweckgebundene Pauschalen festgelegt wurden. Teilhabechancen können so nicht verwirklicht werden.


Quelle: Pressemeldung des AWO Bundesverbandes e.V. vom 02.09.2013