1 zu 4
Meine Kollegin ist immer noch krankgeschrieben und ich denke, dass sie vielleicht gar nicht mehr kommt. Ich habe das schon öfter beobachtet. Es geht los mit den Unzufriedenheiten, Kolleginnen klagen, dass alles zu viel ist, dann werden sie krank und von denen, die länger als drei Wochen weg bleiben, kommt die Hälfte nicht wieder. Die Männer scheinen robuster. Sie klagen nicht, sie schimpfen und wenn sie kündigen, dann haben sie garantiert einen besseren Job in der Tasche.
Und ich?
„Pass gut auf dich auf“ steht in meinem Kalender über jeder Woche im Januar und ich trage den Satz auch im Februar ein. 4 mal, immer beim Wochenüberblick. Unter den 28. Februar habe ich handschriftlich die 29 ergänzt und „Gender Care Day“ notiert.
2016 wurde dieser Aktionstag ausgerufen, für den 29. Februar. Den gibt es nur alle 4 Jahre und das soll Symbol sein. 1 zu 4 - so ist auch angeblich das Verhältnis der privaten Care-Arbeit in Familien. 4 Teile werden von Frauen geleistet und 1 Teil von Männern. 1 zu 4 – das entspricht auch genau dem Verhältnis der männlichen und weiblichen Fachkräfte in meinem Team. Wir sind 2 Männer und 8 Frauen. Auf der Leitungsebene ist das dann anders. Dort sind Männer und Frauen im Verhältnis 1 zu 1 vertreten.
In den Familien, mit denen wir arbeiten, gibt es oft zwei sorgeberechtigte Elternteile, die sich getrennt haben und die Kinder leben bei der Mutter. Manchmal sind die Väter in die Hilfe einbezogen, manchmal sind sie gar nicht zu erreichen. Die 10-jährige Cora pendelt und wohnt abwechselnd bei Papa und Mama und ich arbeite mit der gesamten Familie. Herr und Frau S leben seit über einem Jahr getrennt, Lebensmittelpunkt der Kinder ist die Wohnung der Mutter, beide Eltern kümmern sich und hier arbeite ich mit einem männlichen Kollegen im Co-Team.
Frau K ist alleinerziehend und alleinsorgeberechtigt. Melli, die Tochter von Frau F, kennt ihren Vater gar nicht. Frau T ist frisch verliebt, jedes ihrer Kinder hat einen eigenen Vater, mit unterschiedlicher Präsenz und die Umgangskontakte sind individuell und flexibel. Frau N hat das alleinige Sorgerecht und ihr 12-jähriger Sohn wünscht sich Kontakt zu seinem Vater.
Über Frau N und ihren Sohn Phil habe ich viel nachgedacht. Das nennt man dann wohl „mental load“, diesen Begriff habe ich letzte Woche zum ersten Mal gehört. Gemeint ist damit die private Managementleistung, die überwiegend von Frauen geleistet wird und die unsichtbar bleibt. Ich finde, das beschreibt auch genau diese Denkarbeit, die wir in der ambulanten Jugendhilfe ständig leisten. Die Gedanken an die Familien kommen auch noch nach Feierabend und manchmal träumen wir sogar davon. Das ist Lebenszeit, die wir mit beruflichen Fragen beschäftigt sind und die in keinem Zeiterfassungsbogen auftaucht und in keiner Fachleistungsstundenzusammensetzung berücksichtigt ist, also unbezahlte Arbeitszeit.
Für meinen Bericht zu Familie N, mit Arbeitskonzept und Empfehlung, habe ich mehr Zeit gebraucht, als ich abrechnen kann, also auch hier wieder unbezahlte Überstunden gemacht. Ich mag die Familie und Frau N hat schon gefragt, wann es weitergeht. Gerade kam nochmal eine SMS mit „Redebedarf“. Ich kann mir die Zusammenarbeit mit der Familie gut vorstellen, aber nur im Co-Team – und zwar mit einem Mann. Ich hätte gern Ilkay dabei. Meine Teamleitung meint, bei Frau Hecht (in diesem Fall zuständige Jugendamtsmitarbeiterin) sei es schwierig mit den Zweierbesetzungen, das Amt müsse sparen. Mich nervt das. Ich soll eine Empfehlung geben und mich gleichzeitig darauf einstellen, dass ich gar nicht gehört werde. Außerdem ist ein gut funktionierendes Co-Team nicht teurer. Wir machen ja schließlich nicht alles zu zweit, sondern die Aufgaben werden auf zwei Fachkräfte verteilt. Ich könnte mit der Mutter arbeiten und Ilkay mit Phil. Ich hätte jemanden zum Austausch und weniger mentale Belastung. Bin gespannt auf die HipKo (Hilfeplankonferenz).
Ihre Katja Änderlich