30 Jahre Zukunft: Wohin führt die systemische Reise?

Ein Verein für systemische Fort- und Weiterbildungsarbeit wurde 30 Jahre alt. Seine Jubiläumstagung war ganz in der Tradition dieses Beratungs- und Therapiekonzeptes den Ressourcen und Lösungen zugewandt: denen aus der Vergangenheit und denen, die längst für Zukunft schon angelegt sind: für Generationswechsel und neue Herausforderungen im Sozial- und Gesundheitswesen.

Vor 30 Jahren hatte sich in Köln eine Gruppe von Fachleuten aus Sozialarbeit und Therapie gefunden, die Lust auf gemeinsames und selbstbestimmtes Lernen und neue Entwicklungen hatte. Sie gründete den Kölner Verein, um dafür ein Forum für sich und andere aufzubauen. Seit 1990 trägt er die systemische Beratung im Namen und bietet heute ein breites Spektrum an hauptsächlich systemischen Seminaren, Weiterbildungen und Fachtagen an: in der Tradition der Sozialarbeit, systemischen Familientherapie und humanistischen Psychotherapie.

Seine Anfänge in den 1980-er Jahren fielen in eine Zeit, als der linear-kausale Ansatz sich auch in der Sozialarbeit begann abzulösen. Für Lösungen von Problemen in den Blick genommen wurde nun auch stärker das Umfeld von Klientinnen und Klienten, deren Beziehungen und Wechselwirkungen. Der systemische Ansatz des Denkens und Handelns stieß in der kommenden Zeit zunehmend auf Interesse, vor allem in der Kinder- und Jugendhilfe, in Beratung und Supervision: achtungsvoll, beteiligend und lösungsfokussiert. Kennzeichnend für diese Denk- und Vorgehensweise wurden auch fließende Übergänge von Beratung und Therapie.

Emanzipation durch Entwicklung

Bis heute haben sich in Deutschland verschiedene systemische Schulen ausgeprägt, differenziert und weiterentwickelt, Weg bereitend darunter die Neue Heidelberger Schule. Entwickelt haben sich Weg stärkende Fach- und Dachverbände wie die Deutsche Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF). Heute finden sie neben anderen Fachverbänden fachpolitisches Gehör bei sozialpolitischen Entwicklungen wie in der geplanten Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Die systemischen Vertreterinnen und Vertreter in beratenden und sozialen Handlungsfeldern sind in diesem Verband längst unter den 7.000 Mitgliedern eine starke Mehrheit.

Der Kölner Verein für systemische Beratung gehört zu den Gründungsmitgliedern der DGSF und hat durch Annegret Sirringhaus-Bünder deren Entwicklung im Fort- und Weiterbildungsausschuss (FWA maßgeblich mitgeprägt: so unter anderem auch bei der Schaffung von Qualitätsstandards der Weiterbildung systemischer Berater und Beraterinnen. Der DGSF-Geschäftsführer Bernhard Schorn hob aus Anlass des Jubiläums dieses Engagement besonders hervor.

Veränderung braucht Bewahren

Die Mitglieder der ersten Stunde und Lehrtrainer Annegret Sirringhaus-Bünder und Prof. Dr. Peter Bünder unternahmen auf der Jubiläumstagung mit ihren Gästen eine humorvolle Zeitreise durch die engagierte, teils wechselvolle und immer nach Entwicklung strebende Geschichte des Vereins. Sie ist eng verknüpft mit der Geschichte systemischer Arbeit. Die moderne Beratergeneration im Kölner Verein kann so heute aus einer Fülle wirksamer Methoden und Techniken genauso schöpfen wie aus dem Reichtum kybernetischer und struktureller Denkmodelle, systemisch-konstruktivistische Theorien sowie praktischen Erfahrungen systemischen Denkens und Handelns.

Dr. Gunther Schmidt, Bildquelle: Daniel PlöhnEntwicklung, ob persönlich, in Organisationen oder Gesellschaften, braucht immer auch den achtungsvollen Umgang mit Vergangenem. Entscheidend dabei ist, wie Bisheriges bewertet wird. Das stellt ein "langer Wegbegleiter für achtungsvolle Arbeit mit Menschen" und einer der bekanntesten Pioniere und Impulsgeber für systemische Arbeit in Verbindung mit hypnotherapeutischen Ansätzen, Dr. Gunther Schmidt, Heidelberger Arzt mit dem Schwerpunkt Psychotherapie, Berater und Volkswirt, heraus.

Niemand könne sich heute der besonderen Erlebnisdynamik entziehen, die in einem Klima entsteht, in der Veränderung in den Mittelpunkt gestellt und von Menschen, Organisationen, Unternehmen und Gesellschaft permanent abverlangt wird, so Schmidt. Umso wesentlicher sei in solchen Prozessen die Wahrung eigener Grundbedürfnisse wie Autonomie, Selbstbestimmung und Würde. Anerkennenswerte Bedürfnisse und Sehnsüchte in Veränderungsprozessen äußerten sich oft in Ambivalenzen und Widerständen. Schmidt warb dafür, sie als Ressourcen für gelingende Prozesse zu nutzen. Er ermutigte zur Stärkung von Wertschätzung, Auswirkungsbewusstsein und Selbstwirksamkeit. Dazu gehöre auch, gewünschte Entwicklungen abzuleiten aus dem Sinn, denen man ihnen gibt, sowie aus zugrunde gelegten eigenen Werten – und sich damit unabhängiger vom Ergebnis beziehungsweise selbstabwertenden Kommentaren zu machen, wenn nicht das Gewünschte erreicht wird.

Ressource in Prozessen werden

Um achtungsvolle Entwicklungen geht es auch der Pädagogin, Systemischen Therapeutin (SG) und Supervisorin (SG) Dr. phil. Iris Winkelmann, Gründerin und Geschäftsführerin von Systemische Jugendhilfe Buxtehude und Fachbuchautorin. Wesentlich dabei sei für sie, welche Ressourcen Kinder und ihre Eltern haben  oder zur Verfügung gestellt bekommen müssen, um das Hilfesystem zu nutzen. Sie weiß aus eigenen beruflichen Erfahrungen, wie entscheidend für Kinder in einer stationären Kinder- und Jugendhilfe es ist, dass ihr Herkunftssystem berücksichtigt wird. Denn es ist und bleibt immer Teil der Identität von Kindern und Jugendlichen, so Winkelmann. Dennoch gäbe es immer noch unter Fachkräften die Haltung, die Herkunftsfamilie auszublenden. Entweder, weil sie versagt habe, oder weil sie bei der Arbeit als störend empfunden wird oder weil das eigene Gefühl sage, dass das Kind sich besser entwickeln kann, wenn es nur bedingt Kontakt zur Herkunftsfamilie habe.

Selbstreflektierende Prozesse mit systemischen Konzepten wie der Salutogenese (Gesundheitsentstehen, Antonowski) oder dem Capability Approach (Befähigungsansatz, Sen) könnten Fachleuten dabei helfen, den Ambivalenzen auf die Spur zu kommen, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind, wenn sie sich quasi zwischen dem Einlassen auf das Neue und der Solidarität/Loyaliät gegenüber dem Alten zu entscheiden haben, so Winkelmann.

Sinnhaftigkeit für neue sozialpädagogische Prozesse ergibt sich aber laut Winkelmann erst dann, wenn man Kinder und Jugendlichen eine offene und wertschätzende Auseinandersetzung mit dem Alten und dem Neuen ermöglicht und gemeinsam überlegt, wie beides im konkreten Fall gut repräsentiert werden kann. Sie erhielten auf die Weise mehr Handlungsoptionen und könnten zu eigener innerer Freiheit für Entscheidungen ermutigt werden.

Ebenso macht es laut Winkelmann Sinn, Familien mit der neuen Situation einer stationären Unterbringung nicht zu überrollen und sich stattdessen zu fragen, was diese brauchen, um in den Prozess einzusteigen. Beteiligung berühre ihrer Meinung nach auch solche Bereiche wie beispielsweise die Wahl der Einrichtung.

Was sie sich für die Profession der stationären Kinder- und Jugendhilfe wünscht? „Das Wichtigste scheint mir, dass sich Fachleute gut reflektiert den Kindern und Jugendlichen mit ihrer Professionalität, aber auch ihrer ganzen Person als Ressource für Entwicklungsprozesse zur Verfügung stellen können."

Positiv wertschätzender Ansatz erleichtert Wege

Systemische Ansätze in der Sozialen Arbeit erlauben es, sich vom Expertentum zu verabschieden. Die systemische Familientherapeutin Anne Brücken aus Hennef fühlt sich dadurch enorm entlastet. Sie sieht sich lieber in der Rolle der Befähigerin von Möglichkeiten. Während sie in ihrer selbstständigen Tätigkeit viel mit systemischer Methodik arbeite, tauche in ihrer Arbeit in einer Jugendhilfeeinrichtung in Siegburg, in der sie sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaften übernimmt, oder Umgänge begleitet, systemisches Arbeiten vor allem in Form einer Haltung auf. Diese Haltung beeinflusst, so Brücken, wie man Probleme einordnet oder auf eine Familiensituation, ihre Rahmen- und Wechselbedingungen, auf bisherigen Sichtweisen, Rollen und Muster als Ergebnis von problematischen Kontexten und Kommunikation blickt. Aber auch, wie man Aufträge konkretisiert und transparent macht, ohne Lösungen zu präsentieren und Familien und ihre eigene Gestaltungskraft in den Mittelpunkt stellt.

Einem systemischen Grundthema „Gestaltungsräume für gelingende Beziehungen" widmete sich auf der Jubiläumstagung auch der Gießener Ppsycho-- und Hypnotherapeut Martin Rudersdorf. Mit seinem ungewöhnlichen Beratungskonzept weckt er den Forschergeist seiner Klienten, um den eigenen Beziehungsstrukturen und Wechselwirkungen auf die Spur zu kommen. Im Zentrum  steht die Bildkraft eines Familienhotelunternehmens, die das Erleben von Beziehung auf überraschende Art und Weise erschließen hilft.

Tapetenwechsel & Lust auf Zukunft

Auch der Kölner Verein fand für seine Jubiläumstagung ein prägnantes wie überraschendes Bild: den Tapetenwechsel innen und außen. Damit heben die Organisatorinnen und Organisatoren den Generationenwechsel im Verein wie in der systemischen Arbeit auf die öffentliche Tagesordnung und regen zur Diskussion an. Achtungsfülle und Behutsamkeit sind dabei die Prinzipien des Vorsitzenden Walter Rösch, Psychotherapeut mit eigener Praxis in Möchengladbach. Aus gemeinsamen Überlegungen im Team entwickelte sich so vor zwei Jahren eine Perspektivgruppe junger Systemikerinnen. Sie arbeitet seitdem an Zukunftsentwürfen für die Weiterbildungsarbeit. Ein neuer, weiterer Schwerpunkt im Seminarspektrum ist bereits im Blick: das Systemische Coaching. Der systemische Nachwuchs bekommt so den Raum, mit eigenen beruflichen Intensionen in neue Gestaltungs- und Führungsrollen hineinwachsen zu können.

In jedem Fall wartet auf die „Neuen" eine spannende Zeit mit neuen Herausforderungen. Auch eine Zeit, in der sich die Rahmenbedingungen für systemische Arbeit verändern werden. Es steht, ob gewünscht oder nicht gewünscht, dabei auch der Tapetenwechsel an, den der Gesetzgeber beabsichtigt: Das geplante Kinder- und Jugendhilfegesetz soll einen deutlichen Schwerpunkt auf therapeutische Arbeit setzen. Die systemische Therapie steht nach Prüfungen durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) vor der Zulassung mit womöglich weitreichenden Auswirkungen für Aus- und Weiterbildung und Zugangsmöglichkeiten von Berufsgruppen. Die systemischen Ideen und Haltungen geraten damit wieder in das Zentrum notwendigen fachpolitischen Engagements. Davon sind Annegret Sirringhaus-Bünder und Peter Bünder überzeugt.

Die Redaktion Sozial.de sprach mit ihnen darüber.