An alle Eltern!
In meinem Freundes- und Bekanntenkreis bekommen jetzt Menschen kleine Menschen. Also Kinder. Manche davon werden eine Behinderung haben. Manche von Geburt an. Manche werden sie erwerben. Manche werden sie haben und sie wird unentdeckt bleiben für eine gewisse Zeit.
Aber es wird geschehen. Und deshalb möchte ich einen kleinen Brief an diese jungen Eltern schreiben und ihnen mitteilen, was mir Als Kind und Jugendliche geholfen hat, durch meine Eltern mit meiner Behinderung umzugehen. Dabei kann ich nicht viel sagen zu dem Schmerz, dem Schock, der Überforderung und vielleicht noch ganz anderen Emotionen, die Ihr vielleicht jetzt fühlt. Nicht viel, außer, dass ich finde, dass sie okay sind. Es ist nicht leicht. Denn wir leben in einer ableistischen Leistungsgesellschaft und Euer Kind wird sich an vielen Stellen Räume erkämpfen müssen. Positionen. Respekt. Auch vor sich selbst. Aber ich möchte Euch ein paar Stichworte geben, die ich im Nachhinein als wichtig empfinde und ein paar Gedanken, die Euch helfen können, Eurer Kind auf diesem Weg zu begleiten:
Selbstbild
Vor einer Weile habe ich Fotos von mir angeschaut und festgestellt, wie lang meine Haare geworden sind. Dann musste ich daran denken, wie Menschen früher meine Mutter versucht haben, zu überreden, ich müsse kurze Haare haben, weil es ja praktischer sei. Weil es leichter sei, mich dann zu pflegen.
Meine Mutter hat sich nie danach gerichtet. Sie hat mich lange Haare und enge Tops tragen lassen. Sie hat verstanden, dass ich keine Funktionshose tragen wollte. Sie ist mit mir durch die Läden getingelt, bis wir normale, moderne Schuhe gefunden haben, die über meine Orthesen gepasst haben. Sie hat verstanden, dass es Tage gab an, denen ich keine Orthesen angezogen habe, weil das Sommerkleid einfach wichtiger war!
Liebe Eltern von Kindern mit Behinderung!
Bitte unterstützt Eure Kinder in ihrer intuitiven Versuchen, Stereotype über Menschen mit Behinderung zu brechen. Sie werden an genug Stellen in ihrem Leben noch als "nicht ästhetisch/ attraktiv/ sexy " gesehen werden, darum: Lasst sie glänzen, lasst sie strahlen. Lasst sie sich schön in ihrem Körper fühlen. Bestärkt sie darin, dass ihr eigenes Wohlbefinden wichtiger ist, als dass man die Haare schnell waschen, die Hose gut ausziehen oder was-auch-immer kann!
Selbstverständlichkeit
Je älter ich werde und je mehr ich mich mit anderen Menschen mit Behinderung über ihren Lebensweg unterhalte, desto dankbarer bin ich für das Elternhaus, in dem ich aufgewachsen bin.
Meine Mama hat gestern im Gespräch zu mir gesagt, dass sie so froh war, dass ich so viele Dinge ausprobieren wollte und keine Angst hatte, dass es nicht klappen könnte. Ihr sei nicht im Traum eingefallen, mir ihre Sorgen einzupflanzen.
Ich muss sagen ich bin so froh, dass ihr mich habt machen lassen! Dass ihr mir von Anfang an vor allem eines vermittelt habt: Selbstverständlichkeit.
Sie war die Quelle meiner Zuversicht, als ich dann später meinen eigenen Kram gemacht habe. Sie war der Grund, warum ich tanzen gegangen und einfach so auf Festivals gefahren bin, die Nächte in Berlin oder Hamburg durch gefeiert habe, mit Freundinnen einen Roadtrip gemacht habe, ausgezogen bin.
Diese Zuversicht haben sie gesät. Aus dieser Selbstverständlichkeit wuchs mein Selbstverständnis.
Danke an Mama und Papa, dass ihr mich nie zurückgehalten habt. Ihr habt mir von Anfang an vermittelt, dass ich meine Portion (Er)Leben bekommen werde!
Wenn mich jemand fragen würde, was man als Elternteil seinem Kind mit Behinderung mitgeben sollte, was das Wichtigste sei, dann würde ich sagen: Selbstverständlichkeit!
Internalisierter Ableismus als Kind
Ich möchte aber auch sagen:
Ja, ich hatte eine unglaublich behütete Kindheit und Jugend. Ich habe eine unglaublich liebevolle und engagierte Familie voller Ressourcen und Tatendrang. Meine Eltern wussten sich zu informieren, durchzusetzen und zu wehren und diese Fähigkeiten haben sie an mich weitergegeben. Ich bin, wenn man so will, eine sehr privilegierte behinderte Personen. Doch selbst ich habe psychischen Druck, Diskriminierung und Gewalt erlebt. Selbst ich hatte so früh verinnerlicht, ich sei eine Last und weniger Wert.
Seit den Morden in Potsdam muss ich oft daran denken, dass ich viele Jahre meines Lebens Angst hatte, meine Mutter würde mich einfach irgendwo stehen lassen und nicht wiederkommen. Ich hatte Angst, dass sie sich, während sie alleine ist überlegt, dass sie kein Kind mit Behinderung mehr groß ziehen möchte, dass ich einfach eine zu große Last sei. Das ist ein erschreckender Gedanke und ihr fragt euch jetzt vielleicht: Was hat deine Mutter getan, dass du dir solche Gedanken gemacht hast? - gar nichts. Das ist das verrückte. Meine Eltern haben mir nie auch nur den geringsten Anlass gegeben, zu denken, sie würden mich nicht wollen, es sei ihnen zu viel, sich um mich zu kümmern oder ähnliches. Und trotzdem habe ich bereits im Alter von 4 Jahren begonnen, genau diese Angst zu haben und sie hat mich sehr lange begleitet.
Heute zeigt mir das, wie tief Ableismus und die Angst wertlos, oder eine Last zu sein, in uns drin steckt. Wenn selbst eine Vierjährige ohne Anlass diese Angst entwickelt und erst in der späten Jugend wieder los wird, was macht es dann mit Menschen mit Behinderung, nach einem vierfachen Mord in der Zeitung zu lesen, die Morde seien passiert, weil die Pflegenden überlastet seien?
Diese Angst, schuldig zu sein, dem Gegenüber immer etwas schuldig zu sein, sitzt so tief in uns und das schlimmste, was man machen kann, ist sie zu füttern in Momenten, in denen wir uns am verletzlichsten fühlen. Liebe Eltern, seid Euch dessen bewusst.
Die Konsequenz dessen muss übrigens nicht sein, dass Ihr Eure Gefühle gegenüber Eurem Kind versteckt. Kinder sind intuitiv und feinfühlig und merken schnell, wenn es den Eltern nicht gut geht. Ich denke eher, die Konsequenz sollte sein, sich über Ableismus zu informieren. Sich über das soziale Modell von Behinderung zu informieren. Zu verstehen, dass es ein System der Unterdrückung ist, das man als Betroffene*r auch verinnerlicht und die Spuren in der Seele des Kindes hinterlassen werden. Die Konsequenz sollte sein, früh Worte für diese Gefühle zu finden und kindgerecht einzuordnen, dass diese Gefühle in Ordnung sind. Nachvollziehbar. Aber auch, wo sie her kommen und wer die Verantwortung dafür trägt.
Damit könnt Eurem Kind früh vermitteln: Ich sehe, womit Du Dich auseinander setzen musst. Ich stehe an Deiner Seite und dieser Kampf ist nicht Deine Schuld!