Anhörung im Bundestag: Psychiatriereform in der Kritik
Gesundheitsexperten sehen in der von der Bundesregierung geplanten Psychiatriereform eine wichtige Initiative, befürchten jedoch mögliche Rückschritte in der Versorgung. Es sei zu begrüßen, wenn das Abrechnungssystem weiterentwickelt werde, die zentrale Frage sei allerdings, ob am Ende wirklich das benötigte Fachpersonal für die Patienten auch zur Verfügung stehe, erklärten Fachleute, auch in ihren schriftlichen Stellungnahmen, am Montag anlässlich einer öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses im Bundestag über das "Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen" (PsychVVG). Mit der Gesetzesnovelle der Bundesregierung (18/9528) soll die Versorgung psychisch kranker Menschen besser an die speziellen Erfordernisse der Kliniken und Patienten angepasst werden. Das pauschalierende Entgeltsystem für Leistungen psychiatrischer und psychosomatischer Einrichtungen (Psych-Entgeltsystem) wird weiterentwickelt, wobei das jetzige System PEPP, das seit 2013 auf freiwilliger Basis eingesetzt wird, ein Jahr länger genutzt werden kann und auch künftig für die Kategorisierung genutzt werden soll. Auf ein landeseinheitliches Preisniveau der Kliniken wird künftig jedoch verzichtet. Stattdessen können psychiatrische und psychosomatische Kliniken ihr Budget einzeln verhandeln, um regionale oder strukturelle Besonderheiten besser zu berücksichtigen. Basis für die Kalkulation in den Kliniken soll der jeweilige tatsächliche Aufwand sein, wobei künftig verbindliche Mindestvorgaben bei der Personalausstattung und entsprechende Nachweise gelten sollen. Um die sektorenübergreifende Versorgung zu stärken, wird eine psychiatrische Akutbehandlung im häuslichen Umfeld als Krankenhausleistung eingeführt. Umgekehrt sollen psychiatrische Kliniken mit psychosomatischen Fachabteilungen solche Patienten, die eine ambulante Versorgung brauchen, auch behandeln können. Nach Ansicht des Verbandes der Psychosomatischen Krankenhäuser und Krankenhausabteilungen in Deutschland (VPKD) würden Personalvorgaben und Nachweise über die Personalausstattung zur Selbstkostendeckung zurückführen und gäben weitreichende Ansätze zur Budgetkürzung. Zu befürchten wäre ein Kellertreppeneffekt mit einem Abzug finanzieller Mittel, wenn nicht erfüllte Stellen als Nachweis vorgelegt werden müssten. Viele der heute üblichen, wirkungsvollen Behandlungsmodelle hätten sich unter diesen Bedingungen nicht entwickeln können. Die Einführung der Nachweispflichten würde angesichts der fehlenden Investitionskostenfinanzierung der Länder zu einer systematischen Unterfinanzierung der Fachkliniken führen. Benötigt werde eine pauschalierende Vergütung, die sich an der Leistung bemesse. Die Finanzierung sollte sich an den Behandlungserfordernissen orientieren und die Ergebnisqualität in den Mittelpunkt stellen. Auch die Bundesdirektorenkonferenz, der Verband leitende Ärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie, erklärte, der Gesetzentwurf bleibe weit hinter den Erwartungen zurück. So seien Mindeststandards für die Personalausstattung und entsprechende Nachweise kontraproduktiv. Die Budgetverhandlung auf lokaler Ebene sei begrüßenswert, jedoch eigne sich der Leistungskatalog des PEPP-Systems in einem Budgetsystem bestenfalls zur Leistungsbeschreibung, aber nicht zur finanziellen Bewertung der Leistungen. Die Bundesärztekammer (BÄK) erinnerte in ihrer Stellungnahme an die gravierenden Personalengpässe in den betroffenen Abteilungen und Kliniken, den demografischen Wandel und den steigenden Behandlungsbedarf. Vor diesem Hintergrund werde die Qualität und Quantität des verfügbaren medizinischen Personals zum Schlüssel für den Erfolg der Reform. Die Mediziner verwiesen ferner auf den besonderen Schutzbedarf bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen in der Psychiatrie. Schon heute könnten teilweise neu etablierte Abteilungen aufgrund fehlender Mittel und des Fachkräftemangels nicht betrieben werden. Der Marburger Bund begrüßte die verbindlichen Mindestvorgaben für das Personal, allerdings seien auch verlässliche Regelungen zur Refinanzierung der Personalkosten nötig. Die anteilige Refinanzierung von Tarifsteigerungen sei ein Fortschritt, eine Beschränkung auf 40 Prozent reiche jedoch nicht aus, nötig seien 100 Prozent, um die Umsetzung des Personalmindeststandards halten zu können. Das sieht der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) genauso. Damit die Personalvorgaben nicht ins Leere liefen, müssten sie inklusive der Tarifsteigerungen vollständig refinanziert und deren Einhaltung nachgewiesen werden. Dazu bedürfe es weitere grundsätzlicher Nachbesserungen an dem Gesetzentwurf. Nur wenn Tariflöhne innerhalb der Personalmindestausstattung gesetzlich abgesichert würden, seien Probleme durch mangelhafte Personalausstattung künftig zu vermeiden. Kritik kam auch vom GKV-Spitzenverband, nach dessen Auffassung das Ziel, mehr Transparenz und Leistungsanreiz zu schaffen, so nicht zu erreichen sei. Für die Krankenkassen ergebe sich ein "erhebliches Finanzierungsrisiko". An die Stelle eines leistungsorientierten pauschalierenden Entgeltsystems trete eine in den Details vage Budgetfestsetzung. Auch künftig werde nicht deutlich, welche Therapien mit welchem Erfolg eingesetzt würden. Die Fortschreibung historisch überkommener Budgets anstelle von Leistungsgerechtigkeit sei falsch. Zudem müsse umgehend ein zweckentsprechender Personaleinsatz sichergestellt werden, forderte der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen. Nachzuweisen sei dies gegenüber den Kostenträgern und nicht wie geplant gegenüber dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK). Nicht zweckentsprechend eingesetzte Mittel müssten zurückgezahlt werden. Eine zweifelsfreie und transparente Einhaltung der Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) müsse der Regelfall sein. Der Gesundheitsexperte Michael Simon von der Hochschule Hannover lobte, das PsychVVG enthalte deutlich mehr Möglichkeiten, die individuellen Klinikkosten zu berücksichtigen. Allerdings nur für einen begrenzten, unklaren Zeitraum. Langfristig werde auch hier das Ziel verfolgt, nach einer Übergangsphase (Konvergenz) in den Kliniken landes- oder bundesweit einheitliche pauschalierte Vergütungen zu zahlen. Was die Personalausstattung angeht, sieht auch Simon die Gefahr, dass Kliniken künftig weiter nach Wegen suchen werden, um Kosten zu drücken. Ein Vertreter der Kinder- und Jugendpsychiatrie monierte in der Anhörung, dass psychisch kranke Kinder in den Erörterungen über die gesetzlichen Änderungen bisher kaum eine Rolle spielten. Dies sei umso unverständlicher, als sich für die Behandlung von Kindern strukturelle Besonderheiten ergäben. Auch seien diese Kinder oft besonders krank und müssten intensiv und umfassend betreut werden. Gerade in der Kinderpsychiatrie gebe es häufig auch keine preiswerten Lösungen. In der Anhörung mitberaten wurde ein Antrag (18/9671) der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit der Zielstellung, Psychiatriepatienten individueller zu versorgen. Seit der Einführung von PEPP 2013 bestehe die Gefahr, dass vor allem Menschen mit schweren oder chronischen psychischen Erkrankungen sowie Kinder und Jugendliche aus ökonomischen Gründen nicht mehr individuell angemessen behandelt würden. Die geplante Neuausrichtung des Entgeltsystems in der Psychiatrie sei somit ein richtiger und überfälliger Schritt. Das neue System müsse flexible patientenorientierte Versorgungsformen unterstützen. Das Ziel sei ein bedarfsgerechtes, regionales, kooperatives, Zwang vermeidendes, psychiatrisch/psychotherapeutisches und psychosoziales Versorgungsnetz für alle Altersgruppen.Quelle: Heute im Bundestag, 544/2016 (hib/PK) vom 26. September 2016