Armutskongress: Ein neuer Weg in der Armutsbekämpfung?
Sozial.de im Gespräch
Über die Entwicklung von Armut im Lande wird von verschiedenen Seiten immer wieder Bericht erstattet. Die Bundesregierung kündigte gerade ihren 5. Armuts- und Reichtumsbericht an. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln legte erst vor kurzem eine Untersuchung von Einkommensarmut vor, die regionale Unterschiede deutlich machen will und der Paritätische Wohlfahrtsverband hat eine lange Tradition solcher Berichte. Kürzlich fand zum ersten Mal ein bundesweiter Armutskongress auf Einladung des Gesamtverbandes statt. Ein Bündnis von Gewerkschaft, Sozial- und Interessenverbänden schloss sich der Idee an.
Was kann ein neuer Kongress zur Entwicklung eines Themas leisten, das aktuell immer wieder Anlass zum öffentlichen Streit gibt? Zum Beispiel über die "richtige" Datenbasis oder das "richtige" Berechnungsmodell oder auch über Schlussfolgerungen zur Armutslage. Der Caritas-Generalsekretär, Prof. Dr. Georg Cremer, sieht die aktuelle Armutsdebatte auch von „unfairer Skandalisierung" und Übertreibung geprägt. Er mahnte vor einiger Zeit auf einer Veranstaltung der Katholischen Akademie Die Wolfsburg in Mülheim für eine differenziertere Wahrnehmung. Er nahm dabei direkten Bezug auf das vielfach besprochene Buch „Verteilungskampf“ des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, wie vom Veranstalter berichtet wird. Armut sei zwar tatsächlich ein drängendes Problem, aber bundesweit sei die Armutsentwicklung seit 2005 annährend stabil, betonte dort Cremer. „Abstiegsängste der gesellschaftlichen Mitte gehen zu Lasten der Armen“, so Cremer.
Immer wieder schwappen über die deutsche Öffentlichkeit in dem Zusammenhang auch Wellen der Diskussionen darüber, wer eigentlich als arm gilt und was man als Ungleichheit bezeichnen muss. Gerade wurde dieses Thema von der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, in einem FAZ-Interview wieder neu aufgelegt.
Wo Ungleichheit aufhört und wo Armut beginnt, ob sie relativ oder absolut ist, dürfte Menschen, die immer weniger zum Auskommen haben, nicht über ihre Alltagssorgen hinweg helfen oder die Arbeit der sozialen Begleiter nicht leichter machen. In der herrschenden Zahlen- und Begriffsverwirrung können brandaktuelle Befunde wie der vom Robert-Koch-Institut schnell untergehen: Frauen mit niedrigem Einkommen leben im Durchschnitt acht Jahre kürzer als diejenigen, die mehr zum Lebensunterhalt haben, bei Männern beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung sogar 11 Jahre.
Wenig bestreitbar ist in der ganzen Diskussion jedoch eins: Der deutschen Wirtschaft ging es in den vergangenen Jahren hervorragend, die Bundesagentur verkündet in jüngster Vergangenheit immer wieder positive Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, aber am Ausmaß der Armut hierzulande änderte das nicht wirklich viel. Die Armut verharre (2014) mit 15,4 Prozent auf hohem Niveau, so schlussfolgerte beispielsweise der aktuelle Armutsbericht des Paritätischen.
Neuerdings zeigt sich die Organisation für Wirtschaft und Zusammenarbeit (OECD) alamiert. Ende 2015 hat sie in der Studie „Gemeinsam an einem Strang – warum alle von weniger Ungleichheit profitieren“ vor zunehmender Ungleichentwicklung in ihren Mitgliedsstaaten deutlich gewarnt, so auch in Deutschland. An die deutsche Adresse gerichtet ist ihre Mahnung, stärker auf die wachsende Gruppe der Menschen mit niedrigem Einkommen, darunter Minijobber, atypisch Beschäftigte oder auch Beschäftigte in befristeten Verträgen zu achten, denn diese droht abgehängt zu werden von der Entwicklung des Lebensstandards der übrigen Bevölkerung. Der Paritätische spricht mittlerweile von der unteren Hälfte der Gesellschaft.
Eine große soziale Ungleichheit in Deutschland sehen mittlerweile auch mehr als 82 Prozent der Deutschen. Das ergab eine aktuelle Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung. Diese Wahrnehmung ziehe sich durch alle sozialen Milieus und werde auch über Parteigrenzen hinweg geteilt, heißt es von dort. Ist das Thema in der Mitte der Gesellschaft angekommen?
Die Redaktion Sozial.de sprach mit Prof. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband und Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, darüber sowie über Beweggründe und Ziele des ersten Armutskongresses.
Prof. Rosenbrock, woran fehlt es Ihrer Meinung nach beim Thema Armut am meisten: an der öffentlichen Wahrnehmung, an Konzepten oder am politischen Willen?
Prof. Rosenbrock: Ich glaube, das geringste Problem ist die wissenschaftliche Befundlage. Da gibt es klare Aussagen, die von niemand ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Diejenigen, die arm sind, wissen auch, dass sie arm sind. Auch die von Armut bedroht sind, fühlen sich bedroht. Sie wissen das aber oft nicht zu artikulieren und sind mitunter anfällig gegenüber Rattenfängern aller Art, weil sie nicht herausfinden können, wo die Quelle ihres Problems zu finden ist.
Ein zweites, schon ernsteres Problem sind die Medien. Jede Gesellschaft verdrängt gern Ungleichheit, sie verdrängt sie auf verschiedene Art und Weise: in den 1960-er Jahren mit der These der nivellierten Mittelschichtgesellschaft*, in der sich alles von selber ausgleicht, oder auch, indem man das Problem der Ungleichheit auf die absolute Armut reduziert. Für absolute Armut stehen die Flaschen-und Müllsammler, die uns täglich begegnen. Tatsächlich sind die ganz Armen, also die sichtbar Armen, ein Teil einer Gesamtentwicklung, bei der sich die Schere zwischen arm und reich immer weiter öffnet. Und deshalb sind sie zwar gut für Bilder, aber nicht gut für Analysen.
Die eigentliche Problematik spielt sich heute da ab, wo eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern am Monatsende nicht mehr weiß, wie sie die Miete bezahlen kann. Bei jedem Kindergeburtstag und jeder Klassenfahrt muss sie sparen und weiß, dass sie nie mit den Kindern in den Urlaub fahren kann.
Das größte Problem in der Bekämpfung von Armut und Ungleichheit ist aber das der politischen Durchsetzung. Umverteilung hat immer Verlierer und Gewinner. Die Gewinner sind gewohnt zu gewinnen, haben auch die machtmäßigen Ressourcen, Gewinn zu sichern. Deshalb knicken reihenweise große Parteien schnell wieder ein, wenn sie Umverteilung versprechen. Wenn nichts draus wird, geraten ihre Versprechen schnell wieder in Vergessenheit.
Auf Umverteilungskonzepte, die umsetzbar sind, könnten sie zugreifen?
Prof. Rosenbrock: Es gibt gute, auch durchgerechnete Konzepte zum Beispiel in der Steuerpolitik, mit denen niemand ernsthaft ärmer werden würde, wenn man gescheit umverteilt. Neuerdings kritisieren große Wirtschaftsorganisationen wie der Internationale Währungsfonds, die OECD oder die Weltbank und zunehmend immer mehr Ökonomen das Ausmaß der Ungleichheit und die Entwicklung als ernste Risiken für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung und das Wirtschaftswachstum.
Das ist recht neu in der Diskussion…
Prof. Rosenbrock: Ja, wir haben tatsächlich eine Konjunktur nicht nur des Armutsthemas sondern auch des Ungleichheitsthemas. Regelmäßig hören wir von deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten, dass die Entwicklung mittlerweile bedrohliche Züge annimmt, wobei bedrohlich heißt, bedrohlich für alle. Wenn die unteren Einkommensschichten als Massenkonsumenten zunehmend ausfallen, dann ist das Wirtschaftswachstum gefährdet.
Mit der aktuellen Flüchtlingskrise scheint sich die Diskussion um soziale Verteilung noch einmal zu intensivieren. Ist es eher Zufall, dass der erste Armutskongress in diese Zeit fiel?
Prof. Rosenbrock: Bei der Planung standen wir in einer langen Tradition unseres Verbandes, wir veröffentlichen seit 25 Jahren jedes Jahr einen Armutsbericht. Die Menschen, die wir in der Wohlfahrtspflege begleiten, gehören überwiegend zum untersten Einkommens-Sechstel der Gesellschaft. Deren Probleme verschärfen sich und werden immer komplexer, je mehr sich die Schere zwischen Arm und Reich öffnet. Dass sich für sie etwas verändert, war unsere Motivation. Zusätzlich, aber nicht geplant, beschäftigt uns natürlich der Umgang mit hierher geflüchteten Menschen.
Wir beobachten, dass die Rechten, und die haben ihre Gelder auch nicht von den Armen bekommen, die Mengen der geflüchteten Menschen dazu benutzen, den deutschen Arbeitslosen gegen den syrischen Flüchtling auszuspielen. Damit lenken sie davon ab, wo die eigentlichen Quellen der Probleme liegen und auch davon, wo die Quellen der Lösung liegen können.
Hat sich die Stimmung auch in der Sozialen Arbeit verändert?
Prof. Rosenbrock: Der Umgang mit Flüchtlingen ist mittlerweile das größte aktuelle Thema in der Wohlfahrtsarbeit, es gab natürlich immer schon einige hundert Organisationen, die sich um Integration gekümmert haben. Aber mittlerweile ist das Thema überall, so auch in der Kinder- und Jugendhilfe oder auch in der Schule, hoch präsent. Wir sind überzeugt und arbeiten auf einem hohen Niveau an ehrenamtlicher Arbeit, dass dieses Engagement kein Strohfeuer ist, sondern ein beglückender Indikator für die Stärke des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Wir sehen aber auch, dass die Arbeit der Integration, die im Großen und Ganzen schwierig aber erfolgreich ist, gefährdet wird durch die Hetzer, die das Problem von vornherein für unlösbar erklären, weil sie es nicht lösen, sondern alles Fremde abstoßen wollen.
Sie sagen, dass es eine Utopie braucht. Welche Utopie verbinden Sie mit dem Armutskongress?
Prof. Rosenbrock: Es sollten diejenigen ermutigt werden, die das Thema seit Jahren bearbeiten und diejenigen, die es neu anpacken wollen. Deutlich wurde auf diesem Kongress: man ist nicht allein in der eigenen Wahrnehmung und es gibt auch immer mehr Engagement. Es geht uns dabei nicht nur um Solidarität mit den Flaschensammlern und Bettlern am Straßenrand, es geht um ein Bündnis für die untere Hälfte der Gesellschaft, um so in den sozialen Verteilungskampf zu gehen, Forderungen zu stellen und kampagnenfähig zu werden. Wohlfahrtspflege die einfach nur still, unauffällig, bescheiden und behutsam die Probleme bearbeitet, die andere produzieren und die alles individualisiert und personalisiert, kommt nicht weiter. Der Kongress ist unser Weg, um Verbündete zu finden.
Um in der Utopie-Perspektive zu bleiben: Wie kann Ihrer Meinung nach Soziale Arbeit aussehen, wenn es weniger Armut und Ungleichheit gibt?
Prof. Rosenbrock: Na, das ist aber eine absolut hypothetische Frage. Der Arbeitsmarkt für Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Erzieher und Pflegekräfte ist absolut leergefegt, wir bekommen den Fachkräftemangel täglich zu spüren, im Umgang mit den Flüchtlingen müssen wir überall Personallücken irgendwie stopfen… Wenn man aber die Verbindung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheit und Lebenschancen ernst nimmt, braucht es immer professionelle Unterstützung, um Hilfe zur Selbsthilfe zu gewährleisten. Von daher ist meine eigene positive Utopie: weniger Ungleichheit, Vollbeschäftigung, Politik, die den Satz ernstnimmt, dass kein Kind zurück bleibt - von der Familienhebamme über die Vorschulerziehung bis zur Hochschulausbildung, eine Politik, die geschlechtergerecht ist und Behinderte tatsächlich in das öffentliche Leben inkludiert, eine Politik, die dafür sorgt, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt, der in Deutschland traditionell gut ist, sich weiter entwickeln und stärken kann.
Auch in den Sozialberufen gibt es nicht wenig Niedrigverdienende. Gehen Ihre neuen Vorstöße auch in deren Richtung?
Prof. Rosenbrock: Ja, natürlich. Wir sind weder Gewerkschaft noch Arbeitgeberverband, wir machen Soziale Arbeit. Aber wir sehen: Mit geringen Gehältern bekommen wir auch nicht die Menschen, die wir brauchen, und die Menschen, die wir bekommen, können auf Dauer keine gute Arbeit machen mit diesen Gehältern. Deshalb brauchen wir auch eine ordentliche Refinanzierung, dazu gehören regelmäßig Leistungen, die öffentlich finanziert werden. Der neue Tarifvertrag für Erzieherinnen und Erzieher zum Beispiel gilt nur bei kommunalen Arbeitgebern. Wir müssen dafür kämpfen, dass die immer noch bescheidene Erhöhung, die von ver.di erreicht wurde, auch für die freien Träger der Wohlfahrtspflege gilt.
Kann man Ihrer Meinung nach so weit gehen, zu sagen, dass derzeit diejenigen, die arme und von Armut bedrohte Menschen begleiten, zum Teil selbst von Armut bedroht sind?
Prof. Rosenbrock: Realistischerweise sind alle grundsätzlich von Einkommensarmut im Alter bedroht, die nicht mindestens 2.000 Euro brutto im Monat verdienen, wie uns vor einiger Zeit die damalige Arbeitsministerin Frau von der Leyen vorgerechnet hat.