Begriffe begreifen

von Dr. Jos Schnurer
08.01.2023

Wie kann es gelingen, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie lernen, gebildet und aufgeklärt sein wollen?

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In den Bildungs-, Erziehungs- und Sozialwissenschaften ist diese Frage Motiv und Marker. In den unterschiedlichen Theorien und Praxen des Lernens artikuliert sich die Grundfrage, wie sich in der existentiellen, anthropologischen, evolutionären Entwicklung die physische und psychische Entwicklung des anthrôpos vollzieht: durch Begabung und Lernenii. Es sind die existentiellen Erfahrungen, dass der Einzelne sich nicht zu einem Homo sapiens sapiens, einem verständigen, einsichtsvollen, wissenden, empathischen, sozialen Lebewesen entwickeln kann, wenn Egoismus und nicht Altruismus sein Leben bestimmt. Die intellektuellen Auseinandersetzungen mit sich, den Mitmenschen und der Umwelt vollzieht sich durch Resonanziii. Es sind Prozesse, Ansprüche und Herausforderungen, die mit der Geburt beginnen, das Leben begleiten und beeinflussen und mit dem Tod enden. Die Bewältigung dieser Anforderungen wird gefordert, gefördert und unterstützt durch die alltäglichen Erfahrungen und die institutionellen, gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen und Kanone. Es ist die Begriffsbildung, wie sie sich bereits in der antiken griechischen Philosophieiv mit dem Denken über Raum, Zeit, Bewegung, Veränderung und Ursache artikuliert, als „dianoia“, einem Verstandes-und Wort-Bewusstsein ausdrückt, und als Nomenklatur unser Bewusstsein und Wissenv statuiert. Für das logische Denken benutzt der Mensch Begriffe, die er erfindet, die er in der Geschichte, Tradition und Kultur vorfindet, und die sich verändern. Begrifflichkeiten sind demnach Ausdrücklichkeiten von allgemeinen Vorstellungen und Verständigungsmöglichkeitenvi. Die Verwendung von „falschen“, wie auch die von „verfehlten“ Begriffen führt zu Missverständnissen und Kommunikationsstörungen. Als Fake News bewirken sie Manipulation und Indoktrinationvii.

Die Suche nach der Objektivität

„Objektiv bedeutet immer ‚menschlich objektiv‘, was die genaue Entsprechung zu ‚geschichtlich subjektiv‘ sein kann, objektiv würde demnach ‚universell subjektiv‘ bedeuten. Der Mensch erkennt objektiv, insofern die Erkenntnis für die gesamte in einem einheitlichen kulturellen System geschichtlich vereinte menschliche Gattung wirklich ist“. Diese Auffassung stammt vom italienischen politischen Theoretiker und Begründer der Kommunistischen Partei Italiens, Antonio Gramsci, die er während seiner Haftjahre durch die Faschisten in den so genannten „Gefängnisheften“ aufschrieb. Es ist die Frage danach, was „Universalität“ ist, was Enrique Baron Crespo, der ehemalige Präsident des Europa-Parlaments in Straßburg, ganz einfach und verständlich so erklärte: „Weil jeder einzelne von uns tagtäglich die Verantwortung für die Zukunft der gesamten Menschheit trägt“viii, und sich in der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechts so liest: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte (bildet) die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Wir sind mitten drin im gesellschaftskritischen Diskurs um Macht und Ohnmacht, um Abhängigkeit und Unabhängigkeit, um Krieg und Frieden, um Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit, um Rassismus und Humanismus, um Kulturalität und Transkulturalität, um Traditionalismus und Tradition, um Subjektivität und Objektivität, um Hegemonie und Diskurs. In der sich immer interdependenter, entgrenzender, nivellierender, medialisierender Weltentwicklung kommt es darauf an, den eigenen Standpunkt im wahrsten Sinne des Wortes zu finden und sich ein Bewusstsein anzueignen, dass der Mensch ein zôon politikon (Aristoteles), ein politisches, mit Verstand und Gewissen ausgestattetes Lebewesen ist, ein „gutes Leben“ anstrebt und ohne Solidarität und Gerechtigkeit nicht überleben kann. Der kritisch denkende Mensch, der sich seiner selbst bewusst wird, ist gefordert, wenn es darum geht, Menschsein als Humanum zu begreifen. In einem fiktiven Dialog zwischen Antonio Gramsci, Ernesto Laclau und Judith Butler über Fragen von Anpassung und Widerstand, von Zustimmung und Protest zur lokal- und globalpolitischen Entwicklung kommt zum Ausdruck, dass es darauf ankommt, „unser alltägliches Handeln (zu) hinterfragen und die Selbstverständlichkeiten und expliziten gesellschaftlichen Hierarchien auf allen möglichen gesellschaftlichen Ebenen und Machtverhältnissen (zu) dekonstruieren". Es sind vor allem die „unscharfen Grenzen“, die „Entgrenzungen“ und sich lokal und global entwickelnde Veränderungen auf allen Gebieten des menschlichen Lebens bewirkenix.

Die Suche nach der Wahrheit

Die bekannte, aristotelische Formel – „Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nichtseiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist wahr“ – drückt die Zweiwertigkeit von Wahrheit (als Wirklichkeit und Erkenntnis) aus. Wahrheit ist demnach ein allgemeingültiges Menschenrecht, das sowohl den „Gerechten“ als auch den „Ungerechten“ zusteht, was in der alltäglichen, individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen Lebenspraxis zu Wertkonflikten führt. Hilfreich kann dabei sein, von einer „genetischen“ und einer „historischen“ Wahrheit zu sprechenx. Mit den Fragen, was die Wahrheit wert ist und was sie kostet, bewegen wir uns auf einem gefährlichen, glitschigen Boden. Der Homo oeconomicus und der Homo egoisticus beantworten die Frage eindeutig: Es ist das Geld, das die Welt zusammenhält! Der französische Literaturwissenschaftler und Kulturanthropologe Marcel Hénaff gibt sich damit nicht zufrieden. Er erkundet die Zusammenhänge zwischen Wahrheit (Moral) und Geld. Er setzt sich auseinander mit der (Ur-)Frage, ob das Leben einen Preis oder eine Bedeutung habexi.

Individualität und Kollektivität

Es ist der gelingende Spagat zwischen Individual- und Kollektiv-Ethik, der es ermöglicht, die Conditio Humana zu erreichen. Es ist die Kakophonie, Ego-, Ethnozentrismus, Rassismus und Populismus über Gemeinschaftswerte zu stellenxii; wie die Fähigkeit zum freien Willen entwickelt werden kannxiii; wie es möglich ist, sozial klug zu denken und zu handelnxiv; wie mit Einheit und Vielfalt umgegangen werden kannxv; wie das „Selbst“ und das „Andere“ zu verstehen istxvi. Die Aufforderung – „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst“ - ist gewissermaßen ein Signal zur Menschwerdungxvii. Es ist die individuelle und kollektive Hoffnung, dass es den Menschen – als Menschheit – gelingen möge, in der EINEN WELT human-, rechts- und regelkonform (Compliance) zu lebenxviii.

Fazit

Mit dieser Skizze soll didaktisch, curricular und methodisch auf Lernanforderungen verwiesen werden, die als „Begriffslernen“ bezeichnet werden. Es sind fächerübergreifende Herausforderungen, die auf allen Bildungs- und Lernstufen Anwendung finden. Es sind in den Zeiten von „Wikipedia“ und anderen, griffbereiten, medialen Zugängen Komplettierungen zum Lernen.


i Jos Schnurer, Die Menschen motivieren, dass sie aufgeklärt und gebildet sein wollen! In: Pädagogische Rundschau 3/2018, S. 363ff

ii Heinrich Roth, Hrsg., Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen (Deutscher Bildungsrat / Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 4), Stuttgart 1968, 594 S.

iii Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29229.php

iv Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 640 S.

v siehe dazu auch: Serie „Nomenklatur“, in: Pädagogische Rundschau, 6/22ff

vi Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S. 84ff

vii Bernhard Pörksen / Andreas Narr, Schöne digitale Welt, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/2658.php

viiiUNESCO-Kurier 7/8/1992, Das Doppelgesicht Europas, S. 5

ix Iris Dzudzek, Hrsg., Diskurs und Hegemonie. Gesellschaftskritische Perspektiven, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14330.php

x José Brunner / Daniel Stahl, Hrsg., Recht auf Wahrheit. Zur Genese eines neuen Menschenrechts, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20516.php

xi Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8665.php

xii Paul Collier / John Kay, Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt – und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28719.php

xiii Joachim Bauer, Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18891.php

xiv Clemens Albrecht, Sozioprudenz, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27512.php

xv Wolf Lotter, Unterschiede. Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29038.php

xvi Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst. Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik,2010, www.socialnet.de/rezensionen/9004.php

xvii Friedrich Voßkühler, Ich – Du – Wir. Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit?, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23740.php

xviii Christof Peter, Existenz und Recht. Perspektiven existenzorientierten Rechtsdenkens, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26532.php