Beratung verkörpern: Leiblichkeit-Macht-Differenz - ein Tagungsbericht
InhaltDas Ziel der September-Tagung „Beratung verkörpern: Leiblichkeit-Macht-Differenz" war es, die somatisch-leibliche Dimension von Beratung stärker in den Fokus zu nehmen, aber auch die Möglichkeit eines macht- und differenztheoretisches Denkens von Beratungshandeln auszuloten. Die Tagung der Fachbereiche Soziale Arbeit und Childhood Studies/Kindheitspädagogik der SRH Hochschule Heidelberg lehnte sich damit an die in der Soziologie unter body turn, phenomenological turn beziehungsweise materialist turn bekannten Denkbewegungen an und verfolgte das Anliegen, diese für Beratungsdiskurse und -praxen fruchtbar zu machen.
Entsprechend war die Tagung von der Denkvoraussetzung geleitet, dass soziale Interaktionen als leibliche oder verkörperte Prozesse verstanden werden können. Die Tagung folgte zudem jüngeren Studien in den Beratungswissenschaften, welche unter dem Terminus „New School Beratungsansätze" (Nestmann u.a. 2012) zusammengefasst werden können, demnach beispielsweise leibtheoretische, körpersoziologische, poststrukturalistische, differenz- und diskriminierungskritische Ansätze zunehmend rezipiert und ihre methodologische Systematisierung gefordert wird. Ziel war es, einen transdisziplinären Denkraum zu eröffnen: gleichsam eine Brücke zwischen ‚traditionelleren' psychologischen Beratungskonzepten und machttheoretischen, leibphänomenologischen oder materialistischen Ansätzen in der Beratung zu schlagen.
Gerade über die Sichtbarmachung der spontanen, unmittelbar vermittelten leiblichen Bezogenheit sowie der Materialitäten und der Artefakte, die in die Beratungsprozesse eingebunden sind, können Beratungspraxen in ihrer Flexibilität und Mehrdimensionalität - als soziale Vorgänge nachgezeichnet werden, innerhalb derselben zugleich eine Reflexion von Hegemonialität und Differenz als verkörperte Habitualisierung ermöglicht wird.
Vorträge
Bettina Wuttig verwies in ihren einleitenden Bemerkungen darauf, dass Beratung sich als Ort von Subjektivierungen entlang von gesellschaftlich dominanten Rationalitäten und den damit verbundenen Anerkennungsmöglichkeiten zeigt. Wuttigs Beitrag hob die Notwendigkeit der Reflexion beraterischer Wissensproduktion im Spiegel von Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie als Verhältnisse radikalisierter Eigenverantwortung hervor und fokussierte auf die Verschränkung von biografischen Prozessen und Sozialität.
Barbara Wolf sprach einleitend über den immens ansteigenden Bedarf an Beratung in einer durch die funktionale Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilbereiche, Individualisierung und Globalisierung gekennzeichneten Welt. Wolf beschrieb dazu die Aufgabe von Beratung als Empowerment, welches sie mit Hilfe von Schmitz' Konzept der personalen Emanzipation im Modus von Zwischenleiblichkeit, Einleibung von Atmosphären und leiblicher Kommunikation extrapoliert.
Holger Jessel spannte in seiner Key Note „Lebendige Verbindungen – machtvolle Unterscheidungen" den Bogen von zwischenleiblichen Resonanzbeziehung bis zur Verkörperung des Sozialen. Jessel machte darauf aufmerksam, dass Beratungssituation durch gesellschaftliche Makroprozesse überlagert sind, wie etwa die gesellschaftliche Unterscheidungspraxis von Beratung/Nichtberatung, die Zielsetzung von Beratung und die Machtverhältnisse und Differenzierungspraxen.
Sabine Koch ging in Ihrem Beitrag „Body Memory: Concept, Empirical Findings and Applications in Therapy and Counselling" auf empirische Befunde zum Leibgedächtnis und ihre Anwendung im Rahmen von Therapie und Beratung ein. Eine besondere Rolle für den beraterischen Prozess spielt, so Koch, das situative Leibgedächtnis, da dieses sich als dynamisch und veränderbar zeigt und zudem eng an den kinästhetischen Sinn gekoppelt ist.
Renate Schwarz zeigte in ihrem Beitrag „Embodiment und leibliche Kommunikation in der Beratung" anhand von Falldemonstration wie leibliche Prozesse die Beratungssituation beeinflussen und wie sie reflexiv in das Geschehen eingebracht werden können.
Andrea Goll-Kopka rückte in ihrem Vortrag mit dem Titel „Wer lebt, stolpert. Körpernahe und kreative Angebote in der psychosozialen Beratung" die Sprachlosigkeit als verkörperter Schrecken aufgrund von schwerwiegenden Lebensereignissen in den Vordergrund. Durch eine ‚Psychoanalyse (kreativer) Leibbewegung' kann, so Goll-Kopka, allmählich eine gewisse Vitalität wieder hergestellt werden.
Henning Hintze untersuchte in seinem Vortrag, „Leibliche Kommunikation in der Neuen Phänomenologie nach Herrmann Schmitz–Beratung als Beispiel leiblicher Kommunikation" wie auf die Einleibung bezogene Interaktionsprozesse zwischen Beraterin oder Berater und zu Beratendem in Consultings nutzbar gemacht werden können. Hintze zeigte hierfür, dass der Körper lediglich ein rational vermessbares Konzept ist, der Leib aber als subjektive Erfahrung eine Situation von eigener Evidenz bildet und auf ein Wechselspiel der Interaktion zwischen Beraterin oder Berater und Klientin oder Klient hindeutet.
Stefanie Schwab ging in ihrem Beitrag „Erfahrungen angehender Psychotherapeutinnen/Psychotherapeuten und die Rolle leibphänomenologischer Elemente in klinischen Therapieprozessen" der Frage nach, welche Rolle leibliche Erfahrungen in herkömmliche psychotherapeutischen Verfahren spielen. Sie führte darüber hinaus in das von ihr in Anlehnung an Schmitz Konzept der Leibesinseln entwickelte diagnostische Modell der „Körperlandkarten" ein, welches, so Schwab, ermöglicht leidvolle Erfahrungen beschreibbar zu machen, sie auszudrücken und zu verarbeiten.
Lea Spahn fragte in ihrem Beitrag „Leiblichkeit und Kollektivität: Eine phänomenologische Analyse (k)einer Beratungssituation" nach den Handlungsmöglichkeiten, die sich entlang von zwischenleiblichen Resonanzen auf Differenz in kollektiven Räumen der Tanzimprovisation ergeben können. Als exemplarischen Ausgangspunkt diente Spahn die leibphänomenologisch-machttheoretische Analyse einer Begrüßungsrunde, innerhalb derselben die Aufmerksamkeit auf die Körperwahrnehmung gelenkt wird.
Kerstin Jergus lud in ihrem Beitrag „Das verletzbare Selbst. Zur Rolle von Macht und Anerkennung in Beratungskontexten aus bildungstheoretischer Sicht" dazu ein, Beratung als Bildungsprozess alterierender Öffnungen des Selbst auf den Anderen hin zu verstehen. In einer dekonstruktiven normativitätskritischen Erweiterung bildungstheoretischer Bezüge schlägt sie vor, pädagogische Beratung an der Unverfügbarkeit der (eigenen) Verletzbarkeit und einer notwendigen Anderenverwiesenheit auszurichten.
Christiane Dittrich und Nina Wasslows zeigten, basierend auf einer ethnografischen Studie, die im Rahmen des DFG-Projektes Transition Processing durchgeführt wurde, in ihrem Beitrag „Materialität in der Beratung im Übergang in Arbeit", wie sich Artefakte, Körper und Räume - hier verstanden als Materialitäten - den Beratungsprozess konstituieren. Im Vordergrund standen dabei die Analysen von Beratungssituationen im Übergang in Arbeit unter praxeologischen und situationstheoretischen Gesichtspunkten.
Knut Eming führte in seinem Beitrag „Nietzsche - über die Vernunft des Leibes" in Nietzsches postmetaphysische Sprach- und Erkenntniskritik der klassischen Philosophie(n) ein. Wird in letzteren ein hierarchisierter Leib-Seele-Dualismus in Anspruch genommen, scheint bei Nietzsche der Leib selbst in seiner praktischen Vernunft auf. Eming legte dar, wie auch aktuelle (Beratungs-)Diskurse, vom platonischem Befähigungsdenken durchzogen sind, innerhalb desselben das Lebendige, Leibliche immerzu als das andere der Vernunft erscheint.
Targol Dalirazar wunderte sich in ihrem Vortrag „Wege in die Einsamkeit – eine perspektivische Erweiterung von Beratung" mit Bezug auf Hannah Arendts Begriff des Denkens über den schlechten Ruf, der sich der Affekt der Einsamkeit in Alltagsdiskursen, sowie in gängigen psychosozialen und psychotherapeutischen Diskursen einhandelt. So sei doch gerade der Zustand der Einsamkeit - als „Zwei-in einem-sein" (Arendt) Voraussetzung eines Nachdenkens über sich selbst, und damit Schlüssel zur prominenten Beratungsfrage „Was soll ich tun?", die sich auch in personzentrierten Konzepten der Beratung wiederfindet.
Workshops
Elif Polat fragte in ihrem Workshop „Diskriminierungssensibler Sprachgebrauch in Beratungssituationen", wie Sprache auf einer impliziten Ebene Machtverhältnisse transportiert. Gemeinsam mit den Teilnehmenden erarbeitete sie, wie die unreflektierte Verwendung bestimmter Begriffe Hierarchien aufbaut und damit Machtsituationen erschaffen werden können.
Bea Carolina Remark, von Geburt an spastisch gelähmt, zeigte in ihrem Workshops „Danceability – Tanz, Ausdruck, Performance in heterogenen Gruppen", wie kreative Bewegung Klientinnen und Klienten dazu befähigt, Bewegungseinschränkungen, vor dem Hintergrund der Reflexion von Normvorstellungen über Körper, teils zu überwinden und damit neue Ausdrucksmöglichkeiten zu erwerben.
Tanja Rodes Workshop „Unterscheidung als Akt der Freiheit, Kreativität und Verantwortung" fragte nach dem Potenzial der Unterscheidungstheorien von George Spencer Brown sowie der Tetralemmatheorie (Matthias Varga von Kibed) für die Beratung und fokussierte dabei Trans*-Gender-Identität. Am Beispiel der Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit zeigt Rode, dass Beratungskontexte sich als Ort von Unterscheidungen zeigen und als solche reflektiert werden müssen. Im Kontakt mit der Klientin oder dem Klienten können Unterscheidungen, und damit auch Selbstdefinitionen im Modus experimenteller Freiheit kenntlich gemacht werden.
Tagungsübersicht
Einführung
Beratung verkörpern: Leiblichkeit – Macht – Differenz, Prof. Dr. phil. Bettina Wuttig, SRH Hochschule Heidelberg und Prof. Dr. phil. Barbara Wolf, SRH Hochschule Heidelberg
Keynote
Lebendige Verbindungen – machtvolle Unterscheidungen: Beratung als zwischenleibliche Resonanzbeziehung und als Verkörperung des Sozialen, Prof. Dr. phil. Holger Jessel, Evang. Hochschule Darmstadt
Panel: Körper und Körpergedächtnis in Beratung und Therapie
Body Memory: Concept, Empirical Findings and Applications in Therapy and Counselling, Prof. Dr. habil. Sabine Koch, SRH Hochschule Heidelberg & Alanus Hochschule
Embodiment und leibliche Kommunikation in der Beratung, rPof. Dr. Renate Schwarz, Hochschule Ravensburg-Weingarten
Wer lebt, stolpert: Körpernahe & kreative Angebote in der Psychosozialen Beratung, Prof. Dr. Andrea Goll-Kopka, SRH Hochschule Heidelberg
Panel: Leiblichkeit, Kollektivität, Affektivität
Leibliche Kommunikation in der Neuen Phänomenologie nach Herrmann Schmitz – Beratung als Beispiel leiblicher Kommunikation, Dipl. Mathematiker Dr. phil. Henning Hintze, Consultant/München
Erfahrungen angehender Psychotherapeuteninnen und Psychotherapeuten sowie die Rolle leibphänomenologischer Elemente in klinischen Therapieprozessen, Stefanie Schwab, M.A. Soziale Arbeit, SRH Hochschule Heidelberg
Leiblichkeit und Kollektivität: Eine phänomenologische Analyse (k)einer Beratungssituation, Lea Spahn, M.A. Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Universität Marburg
Workshop: Unterscheidung als Akt der Freiheit, Kreativität und Verantwortung. Die Unterscheidungstheorien von George Spencer Brown, das Tetralemma nach Matthias Varga von Kibed und ihr Potenzial für die Beratung, hier: Trans*-Gender-Identität, Dr. pol. Tanja Rode
Panel: Alterität und Materialität
Das verletzbare Selbst. Zur Rolle von Macht, Anerkennung und Intersubjektivität in Beratungskonzepten aus bildungstheoretischer Sicht, Prof. Dr. habil. Kerstin Jergus, Technische Universität Dresden
Materialität in der Beratung im Übergang in Arbeit, Christiane Dittrich, M.A., Goethe-Universität Frankfurt; Nina Wlassow, M.A., Eberhard Karls Universität Tübingen
Workshop: Diskriminierungssensibler Sprachgebrauch in Beratungssituationen, Elif Polat, M.A. Soziologie, Pädagogik, empirische Kulturwissenschaft, Systemischer Coach (SG), Mitglied der Neuen Deutschen Medienmacher (Universität Stuttgart)
Workshop: Danceability – Tanz, Ausdruck, Performance in heterogenen Gruppen, Bea Carolina Remark, Heidelberg
Panel: Leibliche Vernunft und Einsamkeit
Nietzsche – über die Vernunft des Leibes, Prof. Dr. habil. Knut Eming, SRH Hochschule Heidelberg
Wege in die Einsamkeit – eine perspektivische Erweiterung von Beratung, Dipl. Musiktherapeutin Targol Dalirazar, SRH Hochschule Heidelberg