Bildungsbericht 2016: Mehr Bildung bei fortbestehender Ungleichheit
Der gerade vorgelegte Bericht „Bildung in Deutschland 2016“ zeichnet ein kontrastreiches Bild. Das Thema „Bildung und Migration" wurde diesmal schwerpunktmäßig beleuchtet. Die empirisch fundierte Bestandsaufnahme durch unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler will alle zwei Jahre Politik, Verwaltung und Praxis sowie die interessierte Öffentlichkeit zu Enwicklungen und Herausforderungen im gesamten Bildungssystem informieren. Mit Blick auf den derzeitigen Stand hält Professor Dr. Kai Maaz vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), der Sprecher der Autorengruppe, fest: „Der Trend zu mehr Bildung ist ungebrochen. Wir erleben weiterhin eine wachsende Bildungsbeteiligung und Bildungsnachfrage.“ Gleichzeitig gibt Professor Maaz zu bedenken: „Der Zugang zu Bildung erfolgt nach wie vor unter sehr ungleichen Voraussetzungen. Soziale Herkunft, Migrationshintergrund und zunehmend auch regionale Rahmenbedingungen üben einen starken Einfluss auf den Bildungserfolg aus.“ Verschiedene Entwicklungen veranschaulichen nach Informationen des DIPF den anhaltenden Trend zu mehr Bildung: Die Bildungsbeteiligung in Betreuungsangeboten für unter Dreijährige ist aktuell auf 52 Prozent in Ostdeutschland und 28 Prozent in Westdeutschland angestiegen. Der Ausbau von Ganztagsschulen schreitet ebenfalls voran: Derzeit unterbreiten 60 Prozent der Schulen in Deutschland Ganztagsangebote, die von mehr als einem Drittel aller Schülerinnen und Schüler genutzt werden. Jugendliche mit Migrationshintergrund verzeichnen im Grundschul- und im Sekundarbereich Kompetenzzuwächse und insgesamt nimmt die Nachfrage nach höherer Bildung zu. So sind beispielsweise unter allen 15- bis 65-Jährigen die Anteile von Personen mit einer Hochschulzugangsberechtigung (29 Prozent) oder einem Studienabschluss (16 Prozent) größer geworden. Im Weiterbildungsbereich stellen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ebenso einen positiven Trend fest: Die Teilnahmequote ist von 44 Prozent im Jahr 2007 auf 51 Prozent im Jahr 2014 gestiegen. Zugleich belegen viele Befunde die ungleichen Voraussetzungen bei Bildungsbeteiligung und -erfolg, so DIPF. Zum Beispiel liege der Anteil von sprachförderbedürftigen 3- bis 5-Jährigen seit Jahren konstant bei knapp einem Viertel. Förderbedürftig sind insbesondere Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Schulabschluss sowie mit nicht-deutscher Muttersprache (jeweils 39 Prozent). Ausländische Jugendliche verlassen mehr als doppelt so häufig die Schule ohne Hauptschulabschluss und erreichen drei Mal seltener die Hochschulreife. Jugendliche mit maximal einem Hauptschulabschluss haben in Ostdeutschland schlechtere Chancen auf eine Lehrstelle und für ostdeutsche Absolventinnen und -absolventen einer Ausbildung bestehen nicht nur überdurchschnittlich hohe Arbeitsmarktrisiken, sie erreichen auch niedrigere Einkommen. Ferner nehmen Migrantinnen und Migranten nur halb so oft wie Nicht-Zugewanderte an Weiterbildungen teil. Als bereichsübergreifendes Fazit – auch vor dem Hintergrund der steigenden Zuwanderung von Menschen, die in Deutschland Schutz suchen – nennt der Bericht sechs zentrale Herausforderungen:
- Hoher Anteil geringer Qualifikation: Selbst bei insgesamt steigender Bildungsbeteiligung erwerben zu viele Jugendliche und junge Erwachsene maximal einen Hauptschulabschluss oder starten ohne berufliche Qualifikation ins Berufsleben – aufgrund der aktuellen Migrationsentwicklung wieder mit steigender Tendenz. Dieser Zunahme gilt es entgegenzuwirken und die Anzahl gering qualifizierter Menschen zu reduzieren. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf der Neugestaltung der Schnittstellen zwischen erstem allgemeinbildendem Schulabschluss, Übergangssystem und Berufsausbildung liegen.
- Soziale Disparitäten: Trotz erheblicher Bemühungen von Bildungspolitik und -praxis sowie sichtbaren Fortschritten ist es noch nicht gelungen, den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg nachhaltig aufzubrechen. Hierfür bedarf es Lösungsansätze, die über verschiedene Bildungsbereiche hinweg wirksam werden, zumal Kinder mit Migrationshintergrund überproportional häufig in sozialen Risikolagen aufwachsen. Diese Problematik dürfte sich im Zuge der neuen Zuwanderung intensivieren, woran die Komplexität und Dringlichkeit dieser Herausforderung deutlich wird.
- Regionale Disparitäten: Die zunehmende regionale Differenzierung innerhalb Deutschlands betrifft auch das Bildungssystem. Um Unterschiede ausgleichen zu können, müssen Bildungsverantwortliche zunächst beachten, dass die Definition von Region für die einzelnen Bildungsbereiche unterschiedlich ausfällt – vom engeren Wohnumfeld in der frühen Bildung und der Grundschule bis hin zu vernetzten Wirtschaftsräumen in der Berufsbildung. Bei der Bereitstellung von Bildungsangeboten sollten neben Bildungsfaktoren verstärkt ökonomische und sozial-strukturelle Rahmenbedingungen Berücksichtigung finden.
- Verhältnis von dualer Ausbildung und Hochschulstudium: Der Trend, dass junge Erwachsene nach dem Schulabschluss vermehrt ein Hochschulstudium anstreben, hält an. Die Neuzugänge zur Berufsausbildung sind dagegen weiter rückläufig. Es muss geklärt werden, welche Folgen sich dadurch für die beiden Bildungsbereiche und ihr Verhältnis zueinander ergeben – ob sich etwa kombinierte Strukturen herausbilden, wie eine Balance zwischen wissenschaftlichen und berufspraktischen Anforderungen gefunden werden kann und wie sich die jeweiligen Berufsperspektiven entwickeln.
- Bedarfsgerechtigkeit des öffentlichen Bildungssystems: Vor allem von privater Seite sind vermehrt Initiativen zur Gründung von Schulen und zur Entwicklung von Studiengängen zu beobachten. Das deutet darauf hin, dass es der öffentlichen Bildungsinfrastruktur nicht ausreichend gelingt, den vielfältigen Qualifikationsbedarfen gerecht zu werden. Maßgabe dieser neuen institutionellen Vielfalt sollte sein, dass die gesellschaftliche Integrationsfunktion und die demokratische Legitimation des Bildungssystems erhalten bleiben und bestenfalls sogar gestärkt werden können.
Quelle: Pressemitteilung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) vom 16. Juni 2016