BTHG-Gesetzentwurf auf dem Weg - Nachbesserung in der nächsten politischen Runde?

Nach Enttäuschung formieren sich öffentliche Aktionen und neue Verbünde, Interessen- und Fachverbände und Gewerkschaften warnen gemeinsam vor der Gefahr von Leistungseinschränkungen und anderen Verschlechterungen gegenüber dem geltenden Recht und fordern grundlegende Nachbesserungen in mindestens fünf Bereichen. Der Regierungsentwurf für das geplante Bundesteilhabegesetz (BTHG), das im Kreuzfeuer steht, ist heute vom Bundeskabinett auf den Weg gebracht worden. Mit dem Bundesteilhabegesetz wird das deutsche Recht im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention weiterentwickelt, heißt es auf den Internetseiten der Bundesregierung. Daran muss sie auch messen lassen. Dem Gesetzentwurf und Beratungen im Kabinett heute waren Monate eines Beteiligungsprozesses mit Betroffenenverbänden, Sozialverbänden, Kommunen und Ländern vorausgegangen. Es ging darum, das Teilhaberecht zu verbessern, das vor allem im Neunten Sozialgesetzbuch verankert ist. Wird mit dem Gesetz tatsächlich das im Koalitionsvertrag formulierte Ziel erreicht, mehr Teilhabe für Menschen mit einer Behinderung und mehr Unterstützung für eine individuelle Lebensplanung zu ermöglichen? Bereits nach Erscheinen des Referentenentwurfs kamen Zweifel über zu wenig Gerechtigkeit auf, Rufe nach „Nicht-mein-Gesetz!" unter Menschen, die es betrifft, wurden laut. Heute am Tag der Beratungen im Kabinett haben sich unter großem Medieninteresse Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen auf dem Washingtonplatz am Berliner Hauptbahnhof in einen 6x6 Meter großen Käfig einsperren lassen, weil sie sich mit dem Teilhabegesetz in ihren Rechten massiv eingeschränkt fühlen, so berichtet kobinet Nachrichten. Seit Wochen werden Mahnwachen organisiert.  Mit den heute ins Kabinett eingebrachten Gesetzentwürfen (neben dem BTHG auch das Pflegleistungsstärkungsgesetz -Redaktion sozial) sieht auch die Diakonie Deutschland eine rote Linie erreicht. Ihre Kritik galt vor allem der Schnittstelle zwischen Pflege und Eingliederungshilfe. Menschen mit Behinderung sollen zukünftig im häuslichen Umfeld vorrangig Leistungen der Pflegeversicherung erhalten. „Das würde bedeuten, dass primär Pflegekräfte und Pflegehilfskräfte zuständig sind - und nicht die Fachleute für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung", so Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland.  „Wieviel Pflege ein Mensch mit Behinderung bekommt, das hängt künftig von der Wohnform und vom Arbeitsverhältnis ab", kritisiert sie und fordert eine grundsätzliche Abkehr von den Neuregelungen, die für Betroffene eine Verschlechterung darstellen. „Um selbstständig im Quartier zu leben, brauchen Menschen mit Behinderung Leistungen der Pflegeversicherung und der Eingliederungshilfe." Auch die Regelung für die Wohnstätten für Menschen mit Behinderung kritisiert das Vorstandsmitglied der Diakonie Deutschland nachdrücklich: „Wie kann es sein, dass ein Mensch mit demselben Bedarf im häuslichen Umfeld praktisch nur Leistungen der Pflegeversicherung, im Heim aber praktisch nur Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten soll?", fragt Loheide, „Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe müssen im Sozialrecht ihren gleichen Rang behalten. Der konkrete Leistungsmix muss entsprechend dem individuellen Bedarf vor Ort ausgehandelt werden." Als nach wie vor „mangelhaft“ bewertet der Paritätische Wohlfahrtsverband den heute vom Kabinett verabschiedeten Regierungsentwurf für ein Bundesteilhabegesetz (BTHG).Trotz tatsächlicher Verbesserungen gegenüber den Vorläuferentwürfen seien wesentliche Schwachstellen noch immer nicht ausgeräumt. Der Verband warnt vor einem „Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention“ und fordert den Bundestag zu deutlichen Korrekturen auf. „Von den geplanten Verbesserungen profitieren längst nicht alle Menschen mit Behinderung gleichermaßen. Gerade für Menschen mit besonders hohem Unterstützungsbedarf drohen sogar echte Verschlechterungen, so der Verband. „Wer noch erwerbstätig sein kann, wird gefördert, viele andere drohen künftig von Teilhabeleistungen ausgeschlossen und in die Pflege verschoben zu werden“, kritisiert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, „der Paritätische dagegen fordert Teilhabe für alle, unabhängig vom möglichen Erwerbsstatus oder vom notwendigen Unterstützungsbedarf.“ Mit dem Protest „Das Bundesteilhabegesetz – SO NICHT!“ fordert der Paritätische mit seinen über 80 Mitgliedsorganisationen der Behinderten- und Gesundheitsselbsthilfe zu tiefgreifenden Korrekturen im Sinne der Betroffenen auf. Auch die Fachverbände für Menschen mit Behinderung, zu denen der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (BeB) gehört, der Deutsche Behindertenrat und andere Organisationen sind mit dem Entwurf nicht zufrieden. „Das Bundesteilhabegesetz ist das wichtigste behindertenpolitische Reformvorhaben dieser Legislaturperiode. Es darf in der vorliegenden Form nicht vom Bundestag und Bundesrat beschlossen werden“, mahnt auch der BeB-Vorsitzende Uwe Mletzko. Zwar gebe es auch positive Ansätze in der Gesetzesvorlage des Bundesteilhabegesetzes, jedoch überwiegen die negativen Aspekte. Inakzeptabel seien vor allem Einschränkungen des leistungsberechtigten Personenkreises, Leistungsausschlüsse oder -einschränkungen, die grundsätzliche Beibehaltung der Einkommens- und Vermögensgrenzen für Menschen mit Behinderung, der Vorrang der Leistungen der Pflegeversicherung vor Leistungen der Eingliederungshilfe sowie die Aushöhlung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ bzw. des Wahlrechts von Menschen mit Behinderung, etwa beim Wohnen. Das Verbändebündnis appelliert an Bundestag und Bundesrat, das Gesetz nachzubessern, hat dazu sechs Kernforderungen veröffentlicht (Sozial.de berichtete) und sich für eine echte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben von Menschen mit Behinderung einzusetzen. Bundesbehindertenbeauftragte Verena Bentele sieht in der Kabinettsbefassung mit dem Gesetzentwurf zum BTHG eine wichtige Etappe nach vielen Jahren Stillstand erreicht. Der Gesetzesentwurf enthalte jetzt eine Reihe guter Elemente. Dafür hätten die Verbände der Menschen mit Behinderungen und sie selbst als Behindertenbeauftragte mit überzeugenden Argumenten und Herzblut gekämpft. „Es geht jetzt in die nächste Runde, ich werde mich auch im parlamentarischen Verfahren für weitere Verbesserungen einsetzen. So muss unter anderem sichergestellt werden, dass auch in Zukunft alle Menschen mit hohem Assistenzbedarf selbst entscheiden können, wo sie wohnen und von wem sie ihre Assistenz erhalten wollen.“
Bentele betonte, dass es außerdem keine Einschränkung des leistungsberechtigten Personenkreises und kein Zurückfahren der Leistungen geben dürfe. „Für mich ist auch ein Sonderrecht für die Eingliederungshilfe unvereinbar mit einem modernen Teilhaberecht. Ich setze auf das „Strucksche Gesetz“: Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie es eingebracht. Mehr Informationen der Bundesregierung zu den Beratungen des Bundesteilhabegesetzes unter https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/06/2016-06-28-bundesteilhabegesetz.html

Quelle: www.bundesregierung.de/aktuell, Presseinformation der Diakonie Deutschland, des Paritätischen Gesamtverbandes und der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen vom 28. Juni 2016, Presseinformation des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe vom 27. Juni 2016, kobinetNachrichten am 28. Juni 2016