Das böse Wörtchen „nur“

von Dr. Jos Schnurer
22.02.2013 | Schwerpunkte Kommentare (0)

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Wir sind alle gleich,  n u r  ich bin gleicher!“. Jeder Mensch kann glauben, was er will,  n u r  das Christentum, der Islam... stellt den richtigen Glauben dar!" "Es soll gerecht in der Gesellschaft zugehen,  n u r  Reichtum ist keine Schande!“... Im Diskurs über die Verwirklichung einer globalen Ethik, wie sie in der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1945 proklamierten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ festgelegt ist, dass nämlich  „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innenwohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte  die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, wird immer wieder auch das Wörtchen  n u r  benutzt, wenn es darum geht, die Allgemeingültigkeit und Unantastbarkeit der Menschenrechte zu begründen. Es sind nationalistische, faschistische, ethnozentristische, weltanschauliche, egoistische und fundamentalistische Argumentationen, die in den Idealvorstellungen, wie sie in der Menschenrechtsdeklaration zum Ausdruck kommen, Empfehlungen und keine Verpflichtungen sehen und mit Begründungen, wie die eigengesellschaftliche historische, kulturelle und religiöse Entwicklung, Relativierungen vorsehen und einfordern. Eine weitere Begründung wird immer wieder angeführt: Die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung stehen, wurden besonders von den Vertretern aus westlichen (christlichen) Ländern formuliert; und dabei wären die Auffassungen der muslimischen und anderen Weltanschauungen in der Welt und deren kulturelle Entwicklungen nicht berücksichtigt worden. Beispiele, wie gewisse Menschenrechte abgelehnt und missachtet werden, obwohl die meisten Staaten in der Welt der Menschenrechtserklärung zugestimmt haben, lassen sich weltweit viele finden; etwa wie soziale, rechtliche und politische Gleichheit in einem (autoritären, undemokratischen) Staat definiert, wie Gleichberechtigung der Geschlechter ausgelegt wird und sich die Macht gegenüber Menschen darstellt. Ein Hinweis über die unterschiedlichen Bestrebungen, die Gültigkeit der Menschenrechte für alle Menschen auf der Welt in Frage zu stellen und zu umgehen, stellen die Versuche dar, je eigene Menschenrechtserklärungen zu erlassen; z. B. mit der „Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker“, die am am 27. Juni 1981 in Nairobi von den Regierungschefs der in der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) verabschiedet wurde und am  21. Oktober 1986 von fast allen afrikanischen Staaten ratifiziert wurde. Ziel der separaten Menschenrechtserklärung ist es, im „besonderen Maße die Eigenart des afrikanischen Kontinents zu berücksichtigen. Die Mitgliedsstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz hat 1990 die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ beschlossen. Darin wird die Schari`a als die alleinige, allgemeingültige Grundlage von „Menschenrechten“ ausgewiesen. Weil diese Position jedoch in der Weltgemeinschaft äußerst umstritten war, hat der Rat der Liga der arabischen Staaten am 15. September 1994 die „Arabische Charta der Menschenrechte“ verkündet, die sich in stärkerem Maße auf die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Bestimmungen der Internationalen Pakte über bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, jedoch ebenso auf die Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam beruft. In Artikel 1 der Charta wird proklamiert, dass alle Völker das Recht auf Selbstbestimmung und die freie Verfügung über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel haben; ebenso, dass „Rassismus, Zionismus, Besetzung und Fremdherrschaft ( ) eine Herausforderung der Menschenwürde (sind) und ( ) ein grundlegendes Hindernis für die Verwirklichung der grundlegenden Rechte der Völker (bilden): „Alle derartigen Praktiken sind zu verurteilen und nach Kräften zu beseitigen“. Aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat die Zeitschrift „UNESCO-Kurier“ [1] festgestellt, dass zwar weltweit einige Fortschritte bei der Verwirklichung der Menschenrechte gemacht wurde,  n u r  nicht genug, angesichts der täglich stattfindenden Menschenrechtsverletzungen überall auf der Welt; es also notwendig ist, die lokalen und globalen Anstrengungen zu intensivieren. In der sich immer interdependenter, entgrenzender und ungerechter entwickelnden (Einen?) Welt müssen insbesondere die Bemühungen verstärkt werden: Zum einen die Anerkennung der Unteilbarkeit und Allgemeingültigkeit der Menschenrechte, und zum anderen die Ahndung und Verfolgung von Menschenrechtsverstößen durch eine internationale Rechtsordnung, die auf den Grundlagen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beruht. Dazu bedarf es der Anerkennung, dass die dort gesetzten Menschenrechte gleichwertig und ohne Rangordnung gelten, wie auch des Bemühens, bei der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen auf eine unabhängige Gerichtsbarkeit bauen zu können. Ein erster Schritt in diese Richtung ist der im Juli 1998 von 120 Staaten beschlossene Vertrag zur Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag. Der IStGH hat am 1. Juli 2002 die Arbeit aufgenommen. Bisher sind 121 Staaten dem Vertragswerk beigetreten. Der Strafgerichtshof verfolgt Straftaten, die im Rahmen des Völkerrechts begangen werden, wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Das Gericht kann keine Staaten oder Organisationen belangen, sondern nur Individuen als Täter verfolgen. Der IStGH kann auch nur Staatsbürger zur Rechenschaft ziehen, deren Länder den Vertrag ratifiziert haben; das sind aktuell 33 afrikanische, 28 amerikanische, 11 asiatische, acht ozeanische und 41 europäische Staaten. 32 Staaten haben zwar den Vertrag 1998 unterzeichnet, ihn aber bislang nicht ratifiziert, u. a.: Ägypten, China, Indien, Iran, Israel, Russland, Syrien, die Vereinigten Arabischen Emirate und die USA. Einige Länder, darunter die USA, haben den Akt der Unterzeichnung des Vertrages wieder zurück genommen. Als Begründung wurde angegeben, dass amerikanische Staatsbürger nur von nationalen und nicht von internationalen Gerichten verurteilt werden dürften. Die Bundesrepublik Deutschland hat am 4. Dezember 2000 den Vertrag ratifiziert und bemüht sich, zusammen mit den EU-Staaten insbesondere darum, die Vorbehalte und Ablehnungsgründe der bisher abwesenden Länder zu widerlegen und für deren Beitritt einzutreten. Der IStGH hat bisher bereits einige Urteile gesprochen, und es ist anzunehmen, dass die Tatsache des Bestehens und der möglichen Strafverfolgung durch das internationale Gericht längerfristig dazu beiträgt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern. Dazu ist ein Friedensbewusstsein notwendig, das mehr ist als die traditionelle Auffassung, dass Frieden die Abwesenheit von Krieg sei. Der von der UNESCO, der Bildungs- und Kulturorganisation der Vereinten Nationen, vom 26. Juni bis 1. Juli 1989 durchgeführte Bildungskongress „Frieden im Denken der Menschen“ hat mit der „Deklaration von Yamoussoukro“ [2] eine neue Definition von Frieden formuliert:

FRIEDEN

  • heißt Ehrfurcht vor dem Leben,
  • ist das kostbarste Gut der Menschheit,
  • ist mehr als das Ende bewaffneter Auseinandersetzung,
  • ist eine ganz menschliche Verhaltensweise,
  • verkörpert eine tiefverwurzelte Bindung an die Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Solidarität zwischen allen Menschen,
  • bedeutet auch eine harmonische Partnerschaft von Mensch und Umwelt.
Christoph Antweiler: Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung. transcript (Bielefeld) 2010. 270 Seiten. ISBN 978-3-8376-1634-7. 29,80 EUR.
Reihe: Der Mensch im Netz der Kulturen - Humanismus in der Epoche der Globalisierung / Being Human: Caught in the Web of Cultures - Humanism in the Age of Globalization - 10.

Jeder Mensch trägt tagtäglich die Verantwortung für die Zukunft der Menschheit mit sich

Diese Prämisse drückt aus, was sich als Bewusstsein des Menschseins in der Einen Welt postuliert, mit dem Begriff der Universalität belegt wird und der Forderung nach einer globalen Ethik in der sich immer interdependenter, entgrenzender und planetarisch vernetzter Erde zum Ausdruck kommt. Es ist deshalb an der Zeit, das Menschheitsbuch nicht mehr nur mit lateinisch-eurozentrierten Lettern, sondern mit globalen (Uni-) Versalien zu schreiben. In der Kontroverse, die sich zwischen den philosophischen Vertretern einer universalistischen Ethik und denen des Postmodernismus auftut, wird insbesondere von letzteren die Befürchtung geäußert, dass das „souci de soi“, der Anspruch des Menschen auf eine Selbstverwirklichung zu einem guten Leben (Michel Foucault) durch die Verwirklichung des ethischen Universalismus (Karl-Otto Apel) leiden könnte. Es bedarf eines universellen Bewusstseins, das gründet in der Erkenntnis, dass die Menschheit eine gemeinsame Geschichte hat und einer gemeinsamen Zukunft bedarf aus der Überzeugung heraus, dass „der Mensch der entscheidende Faktor des modernen Universalismus ist und ihnen … ein Weltbewusstsein …abverlangt, das als untrennbarer Teil der eigenen Individualität empfunden wird“ (Mahmoud Hussein). Die Debatte um Partikularismus und Kosmopolitismus fokussiert die Frage nach der globalen Gerechtigkeit in der Welt [3]. Die Frage, ob Universalität eine europäische Vision ist, eine hegemoniale Macht darstellt, oder als europäische Identität entwickelt werden muss [4], bestimmt die Auseinandersetzung um Transkulturalismus und Transnationalismus [5]. Und die Behauptung, dass die Welt ein globales Dorf sei und man darin, mit dem (guten) Willen „Global denken, lokal handeln“ und „gut“, also human leben könne [6], steht auf der globalen Agenda. Dass Rassismus in unserer (aufgeklärten) Welt weiterhin allgegenwärtig ist [7], wird von der Mehrheit der Menschen entweder resignativ oder selbstverständlich hingenommen. Dass der homo occidentalis weiterhin mit Ignoranz und Macht danach strebt, den Mittelpunkt der Menschheit auszufüllen und nur zögerlich, eher unwillig und mit dominantem Verständnis den kritischen Nachfragen Raum gibt, wie sich Fremde und Fremdes zum Eigenen verhält [8], erschwert den notwendigen, globalen Perspektivenwechsel [9]. Weltverständnis, wie es sich mental, materialistisch und manifest entwickelt [10], braucht einen Anker, der nicht im Mystischen oder Außerirdischen festsitzt, sondern im evolutionären Bewusstsein Halt findet, dass der Mensch grundlegend nicht ein weltfremdes, sondern ein welthaftes Wesen ist [11]. Dann nämlich könnte es uns gelingen, Egoismen und Ethnozentrismen auszutauschen gegen eine wissenschaftliche, soziologische Denke, die bestimmt ist von der hoffnungsvollen Erwartung: „Es scheint so, als hätten die kulturellen Projekte, die sich heute ankündigen, das Ziel, uns die Kulturen zu zeigen, die andere Völker produzieren, damit wir von ihnen lernen und damit wir uns mit ihnen bereichern, um so gemeinsam den Herausforderungen unserer gemeinsamen Welt zu begegnen“ [12].

Nachdenken über die Welt

Der altbekannte Stammtischspruch „Wenn du an die Welt denkst, achte darauf, was du über dich denkst“ bringt ja zum Ausdruck, dass es darauf ankommt, den Lebensraum der Menschen und das irdische Denken und Streben nicht als eine egoistische Habhaftmachung zu begreifen, sondern Ich- und Weltdenken als humane Herausforderung anzunehmen (Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, socialnet Rezensionen). Der Mensch als denkendes, verstandesgemäßes Lebewesen ist immer auf der Suche nach den Wahrheiten des Lebens. Damit freilich ist er Versuchungen, Täuschungen und Ideologien ausgesetzt, die er sowohl selbst annimmt, als auch ihm zugedacht und aufgedrängt werden (Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, socialnet Rezensionen). Eine Philosophie als Kultur der Nachdenklichkeit wäre hier angesagt (Herbert Schnädelbach: Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, 2012, socialnet Rezensionen). Die zunehmende lokale und globale Gesellschaftskritik, die sich mehr und mehr zu einer Kapitalismuskritik aufbaut, macht deutlich, dass das weiterhin dominante, global-herrschende kapitalistische System nicht mehr ungefragt als die „natürliche“, „selbstverständliche“, ökonomische Grundlage menschlichen Wollens und Handelns hingenommen und bewusst wird, dass eine humane Entwicklung in EINER WELT mit Machtpolitik allein nicht durchzusetzen ist (Gerhard Hauck. Globale Vergesellschaftung und koloniale Differenz, 2012, socialnet Rezensionen). Hilfreich ist hierfür die Formel: „Ökologisch tragfähige Entwicklung = gesellschaftlicher Wandel“ (Harald Heinrichs / Katina Kuhn / Jens Newig,, Hrsg., Nachhaltige Gesellschaft? Welche Rolle für Partizipation und Kooperation?socialnet Rezensionen). Die Realitäten auf der Erde zeigen den Menschen eben nicht ( n u r ) als ein auf Verträglichkeit und Friedfertigkeit ausgerichtetes Lebewesen, sondern allzu oft als „Wolf“ (Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, socialnet Rezensionen). Es bedarf also einer Intensivierung beim Nachdenken, gesellschaftlichen und politischen Gestalten, z. B. in der Friedens- und Konfliktforschung im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft (Peter Schlotter / Simone Wisotzki , Hrsg., Friedens- und Konfliktforschung., 2011, socialnet Rezensionen). Dabei ist ein prognostisches  (Andreas Rinke / Christian Schwägerl, 11 drohende Kriege. Künftige Konflikte um Technologien, Rohstoffe, Territorien und Nahrung, socialnet Rezensionen), als auch ein realpolitisches, didaktisches Vorgehen notwendig (Andreas Eis / Torsten Oppelland / Christian K. Tischner,  Politik kulturell verstehen. Politische Kulturforschung in der Politikdidaktik, 2011, socialnet Rezensionen). Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Fussnoten

[1] UNESCO-Kurier 10/1998, 39. Jg.

[2] in: Deutsche UNESCO-Kommission, Internationale Verständigung, Menschenrechte und Frieden als Bildungsziel, Bonn 1992, S. 39. Yamoussoukro ist seit 1983 die Hauptstadt des westafrikanischen Landes Elfenbeinküste (Côte d'Ivoire). Die Gründung der Stadt, die heute fast eine Million Einwohner hat, gilt als ein politisches und gesellschaftliches Zeichen des seit 1960 von der französischen Kolonialmacht unabhängigen Landes. Die geografische Lage der neuen Hauptstadt im Zentrum des Landes, umgeben von Bergen und Bauernland  und nicht, wie die alte, von den Kolonialmächten gebildete Stadt Abidjan an der Küste gelegen, soll ein Symbol für die Einheit des Landes in der Vielfalt der Ethnien sein.

[3] vgl. dazu: Christoph Broszies / Henning Hahn, Hg., Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, Frankfurt/M., 2010, in: socialnet Rezensionen

[4] siehe dazu auch: Michael Gehler / Silvio Vietta, Hrsg., Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, 2009, in: socialnet Rezensionen

[5] Willi Jasper, Hrsg., Wie viel Transnationalismus verträgt die Kultur? Berlin 2009, in: socialnet Rezensionen

[6] vgl.: Josef Nussbaumer / Andreas Exenberger, Hrsg., Unser kleines Dorf. Eine Welt mit 100 Menschen, Kufstein 2010, in: socialnet Rezensionen

[7] Susan Arndt, Rassismus, Die 101 wichtigsten Fragen, Verlag C. H. Beck, München 2012, 159 S.

[8] Arno Bammé, Homo occidentalis, 2011, socialnet Rezensionen

[9] Helmut Danner, Das Ende der Arroganz. Afrika und der Westen, 2012, socialnet Rezensionen

[10] Richard Edtbauer / Alexa Köhler-Offierski, Hrsg., Welt- Geld – Gott, 2012, socialnet Rezensionen

[11] Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, socialnet Rezensionen

[12] Oliver Kozlarek, Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie, 2011, socialnet Rezensionen