Das Jahr hat gewechselt und ich wechsle auch
Ich habe gekündigt. Ja, im Februar werde ich zu einem anderen Arbeitgeber wechseln. Ein richtig großer Träger, mit verschiedenen Abteilungen. Die ambulanten Hilfen bauen sie dort gerade erst auf, und ich kann mitgestalten. Juhuu! Eine offene Beratung bieten sie auch an, als Sprechstunde an wechselnden Orten. Da habe ich mich gleich als Beraterin vormerken lassen. Es gibt ein Familienzentrum, eine Kreativwerkstatt und das Atelier steht auch für die Mitarbeiter*innen offen. Ich könnte mich dort endlich im Malen auf Großformat ausprobieren. Einen Chor haben sie auch, aber ich kann leider nicht singen. „Kannste lernen", sagt meine Teamleiterin. „Die Stimmübungen sind lustig, du musst ja nicht vorsingen, nur Töne machen, kannst ja mal vorbeischaun. Im Moment sind die Proben Online. Da haben wir echt Glück, dass wir diese Chorleiterin haben, die das gleich ausprobiert hat, als es losging mit der Pandemie. Wer hätte das gedacht, dass wir so in Verbindung bleiben, obwohl wir alle voneinander getrennt sind".
Wenn ich schon im letzten Jahr gewechselt wäre, hätte ich sogar noch etwas von der Coronaprämie abgekriegt. Es geht also doch. Das liegt bestimmt am Betriebsrat. Ja, es ist mein erster Arbeitsplatz mit Betriebsrat. Im März wählen sie wieder, ich habe große Lust da mitzumachen.
Wenn ich so nachdenke, was ich bei meiner Bewerbungstour alles erlebt habe – ein ganzes Buch könnte ich schreiben. Ich bin, auch dank meiner Coachin, mit sehr klaren Vorstellungen in die Bewerbungsgespräche gegangen. Ich weiß was ich kann und ich weiß wie ich arbeiten möchte, und jetzt weiß ich auch noch wie weit die Gehaltsspanne auseinanderklafft.
In den Stellenanzeigen schreiben sie ja alle „wir zahlen in Anlehnung an Tarif". Aber das heißt noch gar nichts. Mein erstes Gespräch war auch bei einem großen Träger, in einem noblen Gebäude mit kleinem Gesprächsraum und großem Spielzimmer, am Konferenztisch mit Abstand und Maske. Sehr angenehm, und dann sagten Sie, dass sie mich gern im Flexteam hätten, und ob es meinerseits noch Fragen gibt. Ja, da wollte ich wissen, was „in Anlehnung an Tarif" denn in Euros bedeutet. Und als ich den Betrag hörte, da spürte ich wie mir die Gesichtszüge entgleiten, die Kinnlade sinkt. „Hätten Sie etwas anderes erwartet?" „Ja, in der Tat, das ist viel weniger als ich jetzt verdiene".
Den Satz „wir können nur einen Teil ihrer Berufsjahre anerkennen" habe ich dann noch öfter gehört. Was ist das für ein blödes System. Wer arbeitet denn zwanzig Jahre beim selben Arbeitgeber? Da bleiben die erfahrenen Fachkräfte doch immer irgendwo in der Mitte der Tariftabelle angelehnt. Die Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten bei kleinen Trägern sind nicht unbedingt mit einer Gehaltsanhebung verbunden und außerdem sind sie begrenzt. Aber was mich am meisten verblüfft hat, war, dass es überall Verhandlungsspielraum gab. Wenn ich sagte „Nein, tut mir leid, für weniger Gehalt werde ich nicht wechseln", wollten sie wissen, was ich mir vorstelle, und dann wollten sie es nochmal prüfen. Einmal hätte ich tatsächlich 50 Cent die Stunde mehr bekommen aber da hatte ich mich schon dagegen entschieden. Mein Anfahrtsweg wäre noch länger gewesen als bisher und außerdem war mir der potenzielle Teamleiter suspekt. So ein junger dynamischer Kerl. Ich weiß, ich muss mich daran gewöhnen, dass ich es mit jüngeren Vorgesetzten zu tun haben werde aber manchmal fühlt es sich gut an und manchmal halt komisch.
In meinem neuen Ambulante-Hilfen-Team bin ich die Älteste. Damit kann ich leben. Ich werde kürzere Arbeitswege haben als bisher, und zur Geschäftsstelle könnte ich sogar zu Fuß gehen, wenn ich mir dreißig Minuten Zeit nehme. Auf der website ist alles gegendert und sie positionieren sich zu aktuellen gesellschaftlichen Themen. Fast perfekt, fehlt nur noch, dass sie mit dem Geschäftskonto zu einer Nachhaltigkeitsbank wechseln. Im ersten Halbjahr 2022 soll es eine Zukunftswerkstatt geben, mit fünf Themenräumen. Ich weiß schon was ich zum Ökothema einbringen werde.
Ihre Katja Änderlich