Das letzte Wort wär‘ auch: Es geht!

von Kerstin Landua
28.02.2013 | Kinder-/Jugendhilfe, Behinderung & Inklusion | Nachrichten

Bericht zur Fachtagung "Mehr Inklusion wagen?! beim Deutschen Institut für Urbanistik Berlin, 22.-23.11.2012

Das Fragezeichen muss weg!

Um es gleich vorwegzunehmen: Ein sehr eindeutiges Ergebnis dieser Tagung war, die von über 200 engagierten Fachkräften der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe besucht wurde, das Fragezeichen im Titel muss weg! Darüber waren sich alle Tagungsteilnehmer/innen einig. Allerdings gab es viel mehr Fragen als Antworten, wie Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfepraxis gelingen kann. Der Diskussionsbedarf unter den Tagungsteilnehmer/innen war sehr groß, hierfür bot die Tagung eine gute Plattform, die im Tandem von Dr. Maria Kurz Adam, Leiterin des Jugendamtes München, und Bruno Pfeifle, Leiter des Jugendamtes Stuttgart, moderiert wurde. Am Beginn dieser Veranstaltung stand ein kurzes Interview mit Prof. Reinhard Wiesner, Ministerialrat a.D., BMFSFJ, der erklärte, dass Inklusion immer nur im Rahmen einer „konzertierten Aktion“ glücken kann. „Es wäre nicht einzusehen, wenn die Kinder- und Jugendhilfe allein vorausgeht und auch in Zukunft als Ausfallbürge für die anderen Systeme fungiert. Wenn wir Inklusion wirklich ernstnehmen, müssen alle: Schule, Arbeitswelt, Gesundheitssystem und Kinder- und Jugendhilfe diesen Weg beschreiten.“ Dies erfordere auch für das Jugendamt ein erweitertes Potenzial an fachlichen, personellen und organisatorischen Kompetenzen.

Inklusion beginnt im Kopf

Prof. Clemens Dannenbeck, Prodekan der Fakultät Soziale Arbeit und Beauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderung an der Hochschule Landshut, sagte in seinem einführenden Vortrag zum Thema, dass bereits viel auf dem Weg zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe getan wurde, aber dass es noch lange keine zufriedenstellende Praxis gibt. Inklusion ist keine Frage der Statistik und damit von Integrationsquoten. Schule dominiere in diesem Diskurs, dies sei aber zu kurz gegriffen, denn es geht um die Gestaltung des Gemeinwesens. Inklusion sei deshalb auch nicht gleichzusetzen mit der Abschaffung von Förderschulen, denn Inklusion beziehe sich auf alle Menschen. Man müsse sich darüber bewusst sein, dass die UN-Behindertenrechtskonvention keine Definition von Behinderung hat, die Aussagen darüber zulässt, was in diesem Kontext gut oder schlecht ist, was bezahlbar ist oder nicht, und was als Chance oder Risiko einzuordnen ist. Denn es gehe schließlich um die Würde des Menschen – hier gibt es keine Diskussion über „Chance oder Risiko“. Der geforderte Paradigmenwechsel lautet: von der Integration zur Inklusion. Die Grenze, wer „nicht integrierbar“ sei, verschiebe sich immer mehr. Die dahinter liegende Inklusionslogik besagt: Das System muss sich anpassen. Und Inklusion fängt hier und heute an und bedeutet eine individuelle Handlungsherausforderung an die (Kinder- und Jugendhilfe-)Praxis. An die Kinder- und Jugendhilfe formulierte er in Bezug auf Inklusion folgende Wünsche:

  • Die Kooperationsfähigkeit der Kinder- und Jugendhilfe muss wachsen.
  • Alle pädagogischen Ausbildungsgänge müssen hinsichtlich ihrer Grundorientierung auf den Prüfstand gestellt und darüber diskutiert werden, was inklusive Handlungskompetenz ist und wie ich Vielfalt erkenne und anerkenne und wie ich damit umgehe.

Inklusion als kommunale Aufgabe

Dr. Peter Gitschmann, Leiter der Abteilung Rehabilitation und Teilhabe, Amt für Soziales der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration der Freien Hansestadt Hamburg, referierte zum Thema „Inklusion als kommunale Aufgabe“. Er sagte, wenn man über Inklusion spricht, müssen „wir“ uns im Klaren darüber sein, dass der im SGB IX verankerte Teilhabebegriff (Stichwort „Komplexleistungen“) bisher noch nicht erfüllt sei. Als kommunale Gestaltungsfelder nannte er Barrierefreiheit, Wohnen, Bewusstseinsbildung, Bildung, Arbeit und Gesundheit. In Hamburg gibt es zur Umsetzung dieser Aktionsfelder einen Landesaktionsplan sowie seit 1,5 Jahren ein Inklusionsbüro. Inklusion bedeute in Hamburg: keine Förderschulen mehr, sondern inklusive Schulklassen (1.-5. Klasse), keine geschützten Angebote und Behindertenwerkstätten sowie einen Ambulantisierungsprozess im Wohnen. Kommunale Daseinsfürsorge sei eine ständige Prüfung der Aktionsfelder sowie ihre Ergänzung und Anpassung. Hier gebe es nicht eine ausschließlich staatliche, sondern ebenso wichtige zivilgesellschaftliche Verantwortung.

„Von Hilfen zur Erziehung“ zu „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“?

Prof. Dr. phil. Dr. jur. Reinhard Joachim Wabnitz, Fachbereich Sozialwesen, Hochschule RheinMain, Wiesbaden, referierte über Inklusionsbarrieren. Er machte gleich zu Beginn seines Vortrages deutlich, dass die „Große Lösung“ nicht mit Inklusion gleichzusetzen sei. „Große Lösung“ bedeutet: Von gespaltener zu einer einheitlichen Zuständigkeit zu gelangen, damit fachliche Kompetenz und personelle und finanzielle Ausstattung zu bündeln und den Leistungskatalog der Kinder- und Jugendhilfe radikal zu verändern. Dies sei auch für Leistungsanbieter eine große Herausforderung, sich darauf einzustellen. Für Kinder und ihre Familien seien inklusive Leistungsangebote jedoch ein enormer Fortschritt, auch in Bezug auf geltende Altersgrenzen und Angebotslücken bei Übergängen sowie im Hinblick auf die Kostenbeteiligung und evtl. bisherige Leistungsverschlechterungen. Erste Schritte auf dem Weg zur „Großen Lösung“ seien seiner Meinung nach jedoch erst in der neuen Legislaturperiode wahrscheinlich. Momentan gebe es – insbesondere auch unter Berücksichtigung der Empfehlungen der interkonferenziellen Arbeitsgruppe des Bundes – eine Weichenstellung in Richtung Inklusion und damit einer grundsätzlichen Umgestaltung auch der Kinder- und Jugendhilfe. Das Motto dabei müsse sein: Soviel Inklusion wie möglich, aber auch so viele adressatenspezifische Angebote wie nötig. 100% Inklusion werde es nicht geben. Nach diesen sehr grundsätzlichen Vorträgen zum Tagungsthema gab es im Anschluss für alle Teilnehmenden die Gelegenheit, sich in 5 Foren zum Thema: „Inklusion - Konsequenzen für die Umsetzung in fünf Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe?“ intensiv miteinander auszutauschen. Folgende Themenfelder standen hierbei zur Wahl: Eingliederungshilfe (§35a SGB VIII), Hilfen zur Erziehung, Kita, Offene Kinder- und Jugendarbeit sowie Jugendsozialarbeit. Am Ende des Tages wurde Inklusion dann noch eindrucksvoll „in Szene gesetzt“ mit der Vorführung des Films der Regisseurin Hella Wenders „Berg Fidel – Eine Schule für alle“.

Willkommen zur Inklusions-Talkshow …

Der zweite Tag begann mit einer Inklusions-Talkshow, zu der Gesprächspartner/innen aus unterschiedlichen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe eingeladen waren:

  • Dr. Hans-Ullrich Krause,1. Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) e.V., Frankfurt am Main
  • Wolfgang Trede, Leiter des Amtes für Jugend und Bildung des Landkreises Böblingen
  • Andrea Herrmann-Weide, Referentin für Inklusion, Die Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit, Bremen
  • Dr. Talibe Süzen, Referentin für interkulturelle Kinder- und Jugendhilfe, AWO-Bundesverband e.V., Berlin.

Das Fragenspektrum reichte von „Wann ist man ein Teil der Gesellschaft?“ über „Hat die Jugendhilfe die Inklusion verschlafen?“ bis hin zu „Was kostet die Inklusion?“. Dr. Talibe Süzen betonte in ihrem Statement, dass Inklusion die Fortsetzung der interkulturellen Öffnung sei, wobei man sich die Frage stellen müsse, ob sich die Kunden/Klienten an das System anpassen müssen oder umgekehrt. Für Wolfgang Trede mach(t)en es persönliche Erfahrungen schwer, einfache Lösungen zu propagieren. Er wies darauf hin, dass es steigende Zahlen von Einzelintegrationshilfen gebe, dies sei aber noch keine Inklusion. Die Regelsysteme müssten daraufhin überprüft werden, ob die Inklusion „verschlafen“ wurde. Seine Erwartungen wären, nicht im bisherigen Schubladendenken zu verharren, sondern sich gemeinsam auf den Weg zu machen. Für Andrea Hermann-Weide ist Multiprofessionalität der Schlüssel zur Integration. Sie forderte, jetzt zu „öffnen, was wir haben“, nämlich das Regelsystem. Inklusion sei ein Öffnungsprozess, es gebe sehr viele Eltern, die bereits jetzt Inklusion fordern, auch in Gymnasien und Oberschulen. Nicht additiv, sondern multiplikativ denken, dann gelinge die Öffnung. Dr. Hans-Ullrich Krause sagte, Inklusion ist auch die Frage, ob man in Würde in eine (neue) Gesellschaft aufgenommen wird. Die Kinder wurden bisher immer „sortiert“: z.B. nach Erziehungsbedarf, Alter, Behinderungsstufen, Geschlecht. Diese Zusortierungsformen existieren noch heute. Die „Hilfen zur Erziehung“ hätten maßgeblich dazu beigetragen, Kinder nicht zu inkludieren, sondern zu sortieren. Das gelte für alle Regeleinrichtungen. Größere Offenheit für Flexibilisierung (Kompetenzen, fließende Übergänge) sei notwendig, d.h., sich mit den Organisationsstrukturen auseinanderzusetzen und die Wirkungen bedenken. Bisher sei es so, dass „wir“ die Systeme zusammenbauen und die Menschen sich dann darin wohl fühlen sollen. Dies sei ein Plädoyer für mehr Beteiligung und dafür, neue Kooperations- und Beteiligungsformen zu etablieren. Ein kleines Fazit der Gesprächsrunde? Inklusion wird Verschiebungen in der Trägerlandschaft mit sich bringen. In der Kinder- und Jugendhilfe darf es kein Konkurrenzdenken geben, weil es eine gemeinsame Verantwortung aller gibt.

Beispiele gelebter Inklusion in der kommunalen Praxis

Anschließend stellten drei Projekte, ausgesucht von der Inklusionslandkarte des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung: www.inklusionslandkarte.de, ihre Arbeit und ihre Erfahrungen im Plenum vor. (1) „Hauptsache Familie“ integrativ, inklusiv und vernetzt! Kersten Andresen, Projekt Lichtblick Neumünster - Verein für Körper- und Mehrfachbehinderte Neumünster e.V., berichtete sehr eindrucksvoll über 140 Menschen mit behinderten Kindern, die versuchen, Inklusion zu leben. „Eingliederungshilfe ist ein Wort, das von Anfang an ausgrenzt. Für Menschen mit behinderten Kindern ein Schlag ins Gesicht. Ich höre immer nur die Last. Warum werden behinderte Kinder nicht als Bereicherung gesehen?“. (2) Inklusive Bildung an der Fläming-Grundschule in Kooperation mit dem Nachbarschaftsheim Schöneberg: Rita Schaffrinna und Birgit Hampe von der Fläming-Grundschule in Berlin stellten den Schulalltag in ihrer „Schule besonderer pädagogischer Prägung“ vor, wo ein gemeinsamer Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern stattfindet. Im Mittelpunkt standen dabei die Fragen: Wie passen wir den Schulalltag an die Bedürfnisse der Kinder an? Und wie erkennen wir die Bedürfnisse der Schüler? (3) Vielfalt für alle: Oliver Knuf, Club Behinderter und ihrer Freunde e.V. (CeBeeF) in Frankfurt am Main, stellte die Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung in Frankfurt am Main vor. Seiner Erfahrung nach war es ganz wichtig, dabei neue Wege zu gehen. „Wir haben der Stadt Frankfurt erst mal ganz viel Arbeit gemacht.“ Inklusive Freizeit ist jetzt kein Fremdwort mehr. Sehr erfolgreich auf dem Weg, inklusive Freizeitkompetenzen zu entwickeln, war das Projekt „Plüschgiganten“.

„Wir sind für alle da und geben keinen weg“ - Inklusion in einem Nachbarland

Zum Thema „Gemeinsam anders - Inklusion in der Schule - Erfahrungen aus Südtirol“ referierte zum Abschluss der Tagung Dr. Heidi Ottilia Niederstätter, Inspektorin in der Fachstelle für Inklusion und Gesundheitsförderung im Schulamt Bozen. Sie begann ihren Vortrag mit dem Verweis darauf, dass Italien eine sehr progressive Gesetzgebung hat und sie in ihrem Vortrag vorstellen wolle, „was wir haben, wie wir das leben und wovon wir sehr überzeugt sind“. Bereits 1977 wurden in Italien die Abschaffung der Sonderschulen und die Einführung einer achtklassigen Schule für alle Kinder landesweit beschlossen. Danach konnten und können alle Kinder zwischen einem Wechsel auf das Gymnasium, die Fachoberschule oder Berufsschule wählen. Mittlerweile gibt es 35 Jahre Erfahrungen mit dieser Verfahrensweise. Wichtig sei aber eine frühzeitige Lebensplanung für die Zeit nach der Schule. Genauso wichtig sei auch, Kindern, die in einer Nachbarschaft leben, die Möglichkeit zu geben, ein Stück weit gemeinsam aufzuwachsen und nicht weit weg „gekarrt“ zu werden. Dieses „Zusammenfassen-Denken“ gebe es nicht in Italien. Diagnostik werde ausschließlich im Gesundheitsamt gemacht (dort Psychologen, Therapeuten usw.) Es gebe zwar Integrationslehrpersonen, die für die ganze Klasse (als Ressource) da sind, aber kaum Sozialpädagogen. Lehrer/innen bekommen kostenlose Fortbildungen, hier gebe es ein riesiges Angebot. Im Fokus sei immer die gemeinsame kollektive Verantwortung: (zu) lernen für und mit den Kindern individualisierte Lernwege zu beschreiten, die deren Unterschiede nutzen und nicht problematisieren. Es gebe kein Denken: „die dürfen auch dazu kommen“, sondern wir sind für alle da und geben keinen weg. Ein Recht auf gemeinsames individuelles Lernen haben alle Kinder, ob mit oder ohne Diagnose. Dies sei eine echte Anerkennung der Vielfalt der anderen, keine Gleichmacherei mit dem Ziel der Förderung des autonomen Lernens, selbstständig und kompetenzorientiert. „Das letzte Wort wär‘ auch: Es geht!“ Autorin
Kerstin Landua
Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe
im Deutschen Institut für Urbanistik, Berlin
landua@difu.de