Das Uhrwerk des Ableismus
Ich verstehe Ableismus heute wie ein Uhrwerk, das immer weiter tickt, weil seine einzelnen Zahnräder so nahtlos ineinander greifen. Ich möchte in diesem Text erklären, worin ich diese Zahnräder sehe, damit wir in folgenden Kolumnen darüber nachdenken können, an welchen Stellen wir das Uhrwerk zum Stocken bringen können.
Als ich 4 Jahre alt war, sind wir in ein anderes Haus gezogen. In einem Neubaugebiet bauten meine Eltern ein neues Haus, extra rollstuhlgerecht, aber das wusste ich damals nicht. Im Nachbarhaus wohnte eine Familie mit 2 Söhnen. Der größere der Nachbarssöhne war geistig eingeschränkt. Einmal schaute ich ihm zu, wie er im Hof spielte und Seifenblasen machte. Er hatte meistens gute Laune und pfiff oft vor sich hin, wenn er im Hof war. Ich beobachtete ihn und auch, wenn er Seifenblasen machen und pfeifen konnte, meinte ich bereits mit 4 Jahren erkennen zu können, dass sein Verhalten nicht dem entsprach, was für sein Alter als typisch erachtet wird. Aber ich wusste, er galt als behindert. Wie ich. Da fragte ich meine Oma, die mit mir in der Küche war: „Oma, was findest du schlimmer: Körperlich oder geistig behindert?"
Meine Oma war völlig verdattert über die Frage. Nicht nur, dass sie eher untypisch für ein vierjähriges Kind war, sie hatte meine Oma natürlich auch kalt erwischt. Was sagt man auf sowas?
Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht mehr, was sie tatsächlich darauf antwortete. Wahrscheinlich, dass man das gar nicht generell sagen kann. Diese Geschichte zeigt, dass ich mich als Kind damit beschäftigt habe, was es nach der Meinung Außenstehender bedeutet, behindert zu sein und was es für einen selbst bedeutet. Aber auch, was die Bezeichnung insgesamt bedeutet. Ich würde fast wetten, quasi jeder, der mit einer Behinderung aufgewachsen ist, könnte eine ähnliche Geschichte erzählen, die genauso eindrücklich zeigt, wie ein kleiner Mensch versucht, sein subjektives Empfinden der eigenen Situation mit solchen Kategorien in Einklang zu bringen. Kategorien sind sperrig und fremd. Man ist dazu gezwungen, eine Diskrepanz zu bemerken zwischen dem, wie man sich selbst sieht und dem, wie andere einen sehen. Und ich verband damit eine Wertigkeit. Diese Wertigkeit nennt man Ableismus.
Unter Ableismus versteht man im Allgemeinen die Diskriminierung von Menschen aufgrund des Merkmals Behinderung. Je nach gewählter Definition werden verschiedene Aspekte und Argumentationslinien dieser Diskriminierungsform in den Fokus gerückt.
So definiert Fiona Campbell Ableismus beispielsweise als „ein Netzwerk von Überzeugungen, Prozessen und Praktiken, das eine besondere Art von Selbst und Körper (physischer Standard) erzeugt, und als perfekt, arttypisch und daher wesentlich und komplett menschlich projiziert wird. Behinderung ist dann ein minderwertiger Zustand des Menschseins" Diese recht ursprüngliche, am Wort orientierte Definition legt den Fokus auf das Argument der vermeintlichen physischen Minderwertigkeit und fehlenden Fähigkeit der Menschen mit Behinderung. Aus ihr resultieren dann die Annahmen von fehlender Produktivität und körperlich-sexueller Minderwertigkeit. Die Argumentation der Diskriminierung ist rein physiologisch und negiert dabei die Ebene der sozialen Konstruktion von Behinderung, also die Frage, „zu welchem Teil sind wir behindert und zu welchem Teil werden wir behindert?" Außerdem basiert auf ihr die Annahme der „Unproduktivität der Behinderten". Unproduktiv bezieht sich hierbei sowohl auf die materielle Produktivität, als auch auf die sexuelle. Es wird einfach davon ausgegangen, dass man als Mensch mit Behinderung zu beiden Bereichen nichts wesentliches beizutragen hat. Dabei wird völlig ignoriert, dass in beiden Bereichen strukturelle, sowie interpersonelle Barrieren zu einer Aufrechterhaltung dieser Annahme führen. Fehlende Bildungsperspektiven, erschwerter Zugang zum 1. Arbeitsmarkt, Taschengeld statt Mindestlohn in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, keine sexuelle Aufklärung oder Selbstbestimmung, keine mediale, ästhetische Repräsentation... seien nur einige genannte Beispiele dafür, welche Umweltfaktoren diese Annahme zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung machen. Daraus resultiert auch die Annahme, Menschen mit Behinderung seien keine vollwertigen Bürger*innen, wo sie doch auch nicht „ihren Teil beitragen". Grad durch die Generalisierung der kognitiven Einschränkung entsteht eine Art Freifahrtsschein, erwachsene Menschen wie Kinder zu behandeln. Dieses Verhalten trägt dann wiederum bei, zur selbsterfüllenden Prophezeiung der „unproduktiven Behinderten"... auf beiden Ebenen, materiell wie sexuell, wenn man einmal drüber nachdenkt. Und zu dieser Annahme des „halben Menschen" passt gleich der zweite Aspekt eines ableistischen Menschenbildes:
Diese zweite Definition stammt von Vera Choinard. Sie versteht Ableismus als „Ideen, Praktiken, Institutionen und soziale Beziehungen, die, ausgehend von Nichtbehinderten, Menschen mit Behinderungen als marginalisierte und weitgehend unsichtbare Andere konstruierten" Diese Definition hat ihren Fokus eher auf dem sozialen Aspekt. Danach zeichnet sich Ableismus aus durch den sozialen Ausschluss und das Konstruieren des Fremden, Außenstehenden. Durch diese Perspektive der Mehrheitsgesellschaft auf Menschen mit Behinderung wird die Distanz aufrecht erhalten und als gegeben gerechtfertigt, anstatt sie als gesellschaftlich konstruiert zu betrachten. Aus dieser Perspektive heraus begründet sich die Praxis, Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft unsichtbar zu machen: Dies geschieht seit Jahrhunderten auf zwei Arten: Entweder du musst dich anpassen, sodass man dir deine Behinderung praktisch gar nicht mehr anmerkt. Dann bist du ein*e gute*r Behinderte*r, oder du wirst aus der Stadt heraus, in eine Institution der Sonderwelt verbannt und bist somit für die Mehrheitsgesellschaft unsichtbar. Was nach karikierender Übertreibung klingt, ist eine Jahrhunderte alte Praxis, deren Auswirkungen wir heute noch klar sehen können. In beiden Fällen werden die Menschen mit Behinderung unsichtbar und mit ihnen auch ihre Bedarfe und Wünsche. Wer im gesellschaftlichen Diskurs unsichtbar bleibt, kann das Miteinander auch nicht in seinem Sinne beeinflussen. Das geht so weit, dass Menschen, die unter rechtlicher Betreuung standen, bis 2019 kein Wahlrecht hatten.
Eine Dritte Definition stammt von Ron Amoudson. Er versteht Ableismus als „eine Lehre, die fälschlicherweise Beeinträchtigungen als inhärent und selbstverständlich schrecklich behandelt und die die Einschränkungen selbst für die aufgetretenen Probleme der Menschen, die sie haben, verantwortlich macht." Hier liegt der Fokus auf der Verständnis- und Verantwortungsfrage. Dieser Aspekt der Diskriminierung ist vielleicht am wenigsten intuitiv zugänglich für Menschen ohne Behinderung. Er ist aber eine wesentliche Form der Diskriminierung und begegnet Menschen mit Behinderung im Alltag sehr oft, in sehr unterschiedlichen Formen. Eigentlich entsteht diese Form der Diskriminierung immer dann, wenn Behinderung als etwas individuelles und die damit verbundenen Herausforderungen als Problem des*der Behinderten gesehen wird. Dabei wird die sozial konstruierte Dimension von Behinderung komplett negiert und die Verantwortung für das „Problem", welches mit der Behinderung gleichgesetzt wird, auf das behinderte Individuum abgeschoben. Dadurch entstehen bei Menschen mit Behinderung oft Schuldgefühle und der Eindruck, er*sie hätte keine Chance, die Schuld zurück zu zahlen, die er*sie seiner Umwelt gegenüber hat, weil diese den Menschen mit Behinderung ständig unterstützen muss und der Mensch mit Behinderung „nichts zurückgeben kann"! Das wird in meinem Alltag heute noch an so kleinen Situationen sichtbar, wie der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, bei der ich vom Zugpersonal angeraunzt werde, weil sie die Rampe für mich ausklappen müssen und damit die Weiterfahrt verzögert wird. In solchen Situationen wird das Problem „fehlende Barrierefreiheit" individualisiert und die Verantwortung bzw. Schuld für das Problem wird auf mich, den Menschen mit Behinderung , geschoben.
Wie einseitig diese Sichtweise ist, wird deutlich, wenn man sich die Position gehörloser Menschen in unserer Gesellschaft vor Augen führt. Manche gehörlose Menschen sind der Auffassung, sie sind nicht behindert, sie werden behindert. Und ich finde, an kaum einer Gruppe wird die Auseinandersetzung der Frage dessen, ob Behinderung biologisch-physiologisch oder sozial konstruiert so deutlich, wie hier. Gehörlose Menschen haben nicht nur eine eigene Community, sondern auch eine eigene Sprache und dadurch eine Art eigene kulturelle Identität. Sie halten sich häufig unter sich auf, was ihnen manchmal den Vorwurf der fehlenden „Inklusionsbereitschaft" einhandelt. Mich als Außenstehende erinnert diese Argumentation und Mentalität manchmal an die gegenüber der migrantischen Community. Auch ihnen wird fehlender Wille zur „Integration" vorgeworfen, wenn sie sich innerhalb ihrer Community bewegen. Doch eigentlich tun sie dies, weil sie außerhalb dessen auf Barrieren stoßen. Weil sie dort nicht verstanden werden. Außer militanten Rassisten wird jede*r zustimmen, dass es sich im Falle der Migrant*innen um ein soziales, nämlich kulturelles Konstrukt handelt, welche die Andersartigkeit schafft. Im Falle der Gehörlosencommunity wohl nicht. Dabei haben sie keine Behinderung, solange sie unter sich sind. Denn dort können sie kommunizieren.
Die Idee, Behinderung könnte zumindest in Teilen sozial konstruiert sein, macht nicht-behinderten Menschen oft Angst. Denn sie stellt das Grundprinzip des ableistischen Menschenbildes, die biologistische Perspektive in Frage und die Frage der Verantwortlichkeit von Barrieren und Chancen neu. All die Zahnräder aus physiologischer Minderwertigkeit, fehlender Produktivität, fehlender (politischer) Partizipation, Unsichtbarkeit, Schuld und Scham, die so schön in einander greifen, kommen mit dieser Frage ins Stocken.
Ich denke, die Antwort ist nicht so schwarz-weiß. Ich denke, viele Menschen wären auch in einer perfekt barrierefreien Welt noch behindert. Aber halt viel, viel weniger. Und sie müssten sich nicht mit 4 Jahren schon mit der Frage auseinandersetzen, was den Wert eines Menschen wohl ausmacht, was ihren eigenen Wert wohl ausmacht. Und ob sie gut genug sind für diese Gesellschaft, zumindest, wenn sie sich mit jemandem vergleichen, der*die vielleicht noch schwächer ist, so wie ich es getan habe.