Der deutsche Patient

von Dr. Jos Schnurer
24.07.2022

Die alte Volksweisheit, die im individuellen und kollektiven Dasein nur allzu leicht(fertig) und unbedacht vergessen oder bei Seite geschoben wird, gilt es zu bedenken: „Alles hängt mit Allem zusammen!“ – wenn über den Zustand in der nahen und fernen Welt nachgedacht werden soll.

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Es sind die lokalen und globalen Trends, die sich in der sich immer interdependenter, entgrenzender (Einen?) Welt zwangsläufig wie menschengemacht als andauernde Transformationsprozesse zeigen: „Die ökonomischen, ökologischen und sozialen Entwicklungen in der einen Region der Welt sind mit jenen in den anderen in vielfachen Wechselbeziehungen verbunden“i. Die Kompetenz, Wandel und Veränderung als selbstverständliche und natürliche Herausforderungen zu begreifen und in das individuelle und kollektive Denken und Tun der Menschen zu implementieren, ist Grundlage des zôon politikon, des sozial und politisch denkenden und handelnden antrhropos (Aristoteles).

Krisen allenthalben

Krisen sind überall! Konflikte und Unsicherheiten ebenso! Denjenigen, die offen, aufmerksam und beteiligt in die Welt schauen, die hoffen, dass die Welt sich weiter in den kosmisch bestimmten Bahnen dreht, kommt nicht selten die Zuversicht abhanden! Krieg, Pandemie, kapitalistische Entwicklungen, Ungleichheiten in der Welt, Unsicherheiten, Faschismus, Inflation Klimawandel… „Zeitenwende“ ist angesagt! Jedoch: Allzu selten bezieht das Individuum die Notwendigkeit zum Perspektivenwechsel auf sich selbst! Gesellschafts- und kulturpessimistische Einstellungen greifen um sich! Dabei ist nicht in erster Linie die Rede von den Fake-Newsern, den Verquerdenkern und Wirklichkeitsleugnern, die argumentativ und logisch kaum zu erreichen sind; vielmehr soll die Aufmerksamkeit gerichtet werden auf die individuell-, lokal- und globalgesellschaftlichen Tendenzen, die sich als „Ohne-mich-“ und „Was-geht-mich-das-an“ – Einstellungen breit machen. Die bekannte und hilfreiche Erkenntnis, dass eine Gesellschaft sich positiv oder negativ entwickelt, wie aktiv oder passiv die Individuen darin agieren, wird allzu oft vergessen oder durch ego- und ethnozentristische Ansichten weggeschoben! Immer dann nämlich, wenn sich gesellschaftliche Entwicklungen nahe oder direkt bei Individuen bemerkbar machen, zeigt sich, ob und in welchem Maße in einer Gesellschaft Politische Bildung vorhanden ist. Wir brauchen, um Krisen bewältigen und überwinden zu können, humane, ökonomische, ökologische, philosophische, politische Bildung – in der Familie, Kita, Schule, im Beruf und im Alltag!

Die Kompliziertheit der Welt

Weil Krisen sich (auch) als unabdingbare, unabwendbare Situationen darstellen, kommt es darauf an, sich mit ihnen intellektuell auseinanderzusetzen. , die Stoppschilder gegen Allmacht- und Alles-Können-Auffassungen der Menschen setzen. Der an der Columbia University in New York lehrende Ökonom und Historiker Adam Tooze setzt sich seit langem mit Entstehung und Folgen von Wirtschafts- und Finanzkrisen in der Welt auseinanderii. Mit der Studie „Shutdown. How Covid Shook the World’s Economy“iii fragt er nach den Ursachen, Auswirkungen und Perspektiven der Pandemie-Krise für das Leben der Menschen. Er identifiziert die Covid-Krise als die größte, bekannte Anfechtung im neoliberalen Zeitalter. Dabei beschränkt er sich in seiner Studie auf ein Jahr: 2020; freilich nicht, ohne den wissenschaftlichen, analytischen Blick auf die Jahrzehnte des ökonomischen, kapitalistischen und materialistischen menschlichen Schaffens zurück- und auf die zukünftigen, perspektivischen Entwicklungen des New Green Dealiv und den Spagat zwischen Ökonomie und Ökologie zu richtenv. Es sind Natur- und menschengemachte Katastrophen, die den Menschen daran erinnern, dass er ein verletzbares „Mängelwesen“ (Plessner) istvi.Es sind im Leben der Menschen nicht in erster Linie die Selbstverständlichkeiten und Natürlichkeiten, die Dasein bestimmen, sondern die Risiken und Gefahren, die als Herausforderungen und Lebenskünste geltenvii. Als im Januar 2020 sich – erst zögerlich, dann pandemisch – die Nachricht in der Welt verbreitete, dass im fernen China ein neuer, bisher unbekannter Krankheitserreger – SARS-CoV-2 – entdeckt wurde, schien erst einmal der technisch und industriell entwickelte Westen in distanzierte Wartestellung zu gehen; nicht einkalkulierend, dass das Virus in der sich global entwickelten Welt in Windeseile verbreiten und furchtbare Schäden an Leben, Leib und Wirtschaft anrichten würde. Ein Jahr später nämlich stellte sich heraus, dass „fast 95 % der Volkswirtschaften in der Welt gleichzeitig einen Rückgang des Pro-Kopf-BIP zu verkraften hatten“.

In der Rubrik „Politik“ der Wochenzeitung DIE ZEIT charakterisiert Tooze die Krisensituationen in der Welt mit „Kawumm!“, und bezeichnet den globalen Zustand als „Polykrise“. Die verschiedenen Krisensituationen – „Krieg in der Ukraine, Proteste in China, Inflation, Gasmangel, Demokratieprobleme, Schuldenlasten, Währungsprobleme, Hunger, Klimakrise, atomare Gefährdungen“ – bewirken im Staatshandeln Aufforderungen zum Perspektivenwechsel und verdeutlichen die „Zeitenwende“. Die wie in einer Wolke oder Blase aufgeführten Krisen verbinden sich miteinander, korrelieren und bedingen sich und können aus Krisen Katastrophen werden lassen. Diese „Multipolarität“ wiederum erzwingt neue Blickrichtungen und Aufmerksamkeiten: historisch, politisch, ökonomisch, ökologisch, ethischviii.

Tun und Lassen

Im alltäglichen, privaten, individuellen, beruflichen und öffentlichen, gesellschaftlichen Diskurs drücken sich die Einstellungen, Mentalitäten und Erwartungshaltungen darüber in meist ganz unterschiedlicher Weise aus, was der Mensch tun und nicht tun sollte. Es sind Ordnungsmaßnahmen und Regeln, die im kulturellen Prozess entstanden sind, sich in der politischen, religiösen und ethischen Bildung entwickelt haben. Max Weber hat dafür den Begriff der „Verantwortungsethik“ geprägt, mit dem er „eine sittliche Position (verdeutlicht), die im Gegensatz zur Gesinnungsethik nicht von den Maximen einer Handlung, sondern ihren Folgen in der Welt ausgeht“. Damit wird die Spannweite verdeutlicht, wie sie bei dem (scheinbar) kontroversen Paar „Tun und Unterlassen“ zeigt. Um die Fallstricke, Sackgassen, Wegegabelungen, aber auch die Richtungen bei dieser philosophischen Nachschau nach den Bedeutungen und Wirkungen dieses Begriffspaares zu erkennen, genügt schon erst einmal, dem Volk aufs Maul zu schauen. In den Sprichwörtern nämlich zeigen sich die Imponderabilien: „Achte nicht bloß auf das, was andere tun, sondern auch auf das, was sie unterlassen!“ – „Alles Tun zu seiner Zeit!“ – „Jedermann recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann!“ – „In der Ruhe liegt die Kraft!“. Der Philosoph und Ethiker Dieter Birnbacher hat über die Tugenden des Tuns und Unterlassens nachgedacht. Er weist darauf hin, dass sich im historischen Diskurs zum Tun- und Unterlassensbegriff einige Akzentverschiebungen vollzogen haben: „Eine Unterlassung setzt … voraus, dass eine Norm gilt, die ein bestimmtes Handeln fordert und der Unterlassene diese Handlung nicht ausführt“. Tun als aktives, möglichst kreatives, (profitables) werteschaffendes Tätigsein ist nicht unbedingt der Gegensatz zum passiven Untätigsein. Er nimmt eine begriffliche Abgrenzung der Begriffe „Handeln“ und „Unterlassen“ vor und macht deutlich, dass solche Unterscheidungen nicht nur aus semantischen Gründen wichtig und notwendig, sondern auch als Richtschnur für eigenes Handeln und für die Beurteilung zum Tun Anderer wichtig sind. Bei der Auseinandersetzung mit der Frage „Wie trennscharf ist die Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen?“ führt der Autor verschiedene, juristisch relevante Fälle heran und konfrontiert die Leser mit der Problematik von Ursache und Wirkung. Ebenso bedeutsam ist die Frage: „Kommt Unterlassungen kausale Wirksamkeit zu?“. Er diskutiert das „Kausalitätsdilemma“, indem er die in den Rechtswissenschaften eingeführten und praktizierten Hilfskonstruktionen, wie z. B. „Unterlassungen als eine besondere Art von Handlungen“, oder als „hypothetische Kausalität“ zu betrachten, zurück weist und an Fallbeispielen aufzeigt, in welcher Weise Unterlassungen zu beurteilen sind: „Da es keinen tragfähigen Grund gibt, eine Kausalität von Unterlassungen in Frage zu stellen, gibt es auch keinen kausalitätstheoretischen Grund, dem Unterlassenden nicht dieselbe moralische Folgenverantwortung zuzuschreiben wie dem Handelnden“. Weitere Begriffsverwirrungen können sich ergeben bei der Analyse der Begriffe „Unterlassen und Geschehen lassen“. Die Formel „Geschehen lassen = Unterlassen“ greift auf, was z. B. vom „aktiven Staatsbürger“ gefordert wird und sich im kategorischen Imperativ in der volksmundartigen Interpretation ausdrückt: „Was du nicht willst, das man dir tu´, das füg´ auch keinen andern zu!“. Mit der Frage „Ist die Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen als solche moralisch bedeutsam?“ bringt der Autor als Alternative zum Standpunkt der kausalen Bedeutung von Unterlassungen „das Postulat eines Eigenwerts der Natürlichkeit“ ins Spiel, wie es etwa im juristischen (religiösen) Diskurs angewandt wird. Er weist jedoch darauf hin, dass, „wenn es eine Berechtigung dafür gibt, Handeln und Unterlassen unterschiedlich zu beurteilen, ( ) diese nicht in der inneren Struktur von Handeln und Unterlassen liegen (kann)“. Wie sich aber „verborgene Parameter“ erkennen lassen, zeigt Birnbacher in einer Reihe von Beispielen auf, indem er Verhaltens- und Handlungsweisen auf Absichtlichkeiten und Unabsichtlichkeiten hin befragt, die psychischen Auswirkungen auf Beteiligte diskutiert und die Bedeutsamkeit von individueller und geteilter Verantwortung betont. Die Diskrepanz zwischen dem Prinzip „der Pflicht zur Nicht-Schädigung gegenüber der Pflicht zum Wohltun“ und der Auffassung, dass auch „Unterlassungen als Schädigungen gelten können“ verdeutlicht der Autor dadurch, dass er Alternativen und Lösungsmöglichkeiten aufzeigt. Die existentielle Aktualität des Diskurses verdeutlicht sich in der drängenden Frage: „Darf der Mensch alles tun, was er kann oder zu können meint?“ix.

Sozioprudenz

E ist die Zielsetzung, Erwartungshaltung, Absicht und Wunsch eines jeden, Wissen und Lebenstüchtigkeit zu erwerben und weiter zu geben. Es ist die Hoffnung von Erwachsenen, den Nachkommen Erfahrungen und Kenntnisse zu vermitteln und sie zu motivieren, dass sie aufgeklärt und gebildet sein mögen. Wenn ein Autor beansprucht, mit seinem Buch „kulturelle Hybridität“ bewusst zu machen, also Lehrmittel, Ratgeber, Info und Erzählung zu sein, ist die neugierige Nachfrage nach dem theoretischen und praktischen Neuen und Anderern notwendig. Wir landen erst einmal bei dem römisch-aquinischen Begriff „prudentia“, und der antiken aristotelischen Bezeichnung phrónesis (φρόνησις), die als Klugheit und vernunftgemäßes Denken und Handeln verstanden wird. Mit dem Begriff „Sozioprudenz“ wird im soziologischen, sozialwissenschaftlichen Diskurs die Fähigkeit zum sozialen klugen Handeln bezeichnet. Wir sind bei der vornehmsten, bildungspolitischen Aufgabe und Herausforderung, uns und den Mitmenschen zu ermöglichen, „soziale Wirklichkeiten kommunizierend und handelnd (zu) erschließen“. Es sind die Paradigmen, wie sie uns mit dem Kantischen Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen – vermittelt werden, und in philosophischen, psychologischen, pädagogischen und soziologischen Theorien bereit liegen. Es sind die verschiedenen Handlungsaspekte und -motive, die in den unterschiedlichen Wirkungen und Fakten deutlich werden und in den Verbildungen von Zweckrationalität und Klugheit zum sozioprudenten Verhalten zusammenwachsen: „Klugheit ist mehr als Rationalität. Sie schließt die Überlegung ein, wann es klug ist, auf Rationalität zu verzichten“ – oder sie zu relativieren. So ergeben sich bereits drei Anregungen für sozioprudentes Denken und Handeln: „Überschaue, was du nicht planen kannst: die Folgen deines Handelns. Vertraue deiner Erfahrung, verantworte deine Handlungen!“ - „Ziel deines Handelns ist neben dem äußeren Erfolg auch das innere Ergebnis. Du übersiehst dich nicht, dein Handeln lässt sich nicht abschließen!“ - „Halte Maß. Bleib nicht auf ebenem Feld! Steig nicht zu hoch hinaus!“. Es sind die ursprünglich von Ethnologen und Anthropologen aufgezeigten Zusammenhänge, wie sie sich beim Schenken und Beschenktwerden als kulturelle Normen entwickelt haben und sich in den Gabentausch-Funktionen Auswahl – Übergabe – Effekte darstellen und sowohl als positive, verbindende als auch als negative Aktivitäten, wie z.B. bei Korruption und Bestechung, wirken. Der Mensch ist ein „IWi“, ein individuelles und Gemeinschaftslebewesenx- Die Suche nach dem Gral, nach dem Ideal, nach der zufriedenstellenden Lösung bei Problemsituationen erfordert Charaktereigenschaften, die der Mensch, nicht selten in mühsamen Trial- und Error-Prozessen, erwerben muss. Sozioprudente Fragen und Anforderungen bedingen das Denken und Ausschauen auf Andere und die Welt: „Wie beurteilen andere die Handlung und welchen Werten folgen sie dabei?“ – „Welche Handlungsfolgen könnten meine gegenwärtige Bewertung verändern, auch, indem sich meine Wertigkeit verschiebt?“ – „Welche zusätzlichen Sphären der Bewertung gibt es, die zu anderen hinzukommen, sie überlagern, ohne sie zu ersetzen?“xi.

Richtig entscheiden

Im Lebensvollzug kommt es auf die Vergewisserungen an: „Wer bin ich?“, und „Wie bin ich geworden, was ich bin?“xii. Die Fähigkeiten, richtige Einstellungen zu erwerben und Entscheidungen zu treffen, sind abhängig davon, wie das Individuum in der Welt ist: erdverbunden oder verlorenxiii-

Der Kieler Philosoph Ralf Konersmann richtet seinen Blick auf die Irritation, die sich im Leben der Menschen vielfach auftut, nämlich „Unruhe“ als eine zu überwindende, dem menschlichen Dasein schädliche (Un-)Tugend zu erkennen. Er bezieht ein, was sich beim anthropologischen, psychologischen Nachdenken über „Haben oder Sein“ (Erich Fromm) artikuliert, und er erweitert mit dem Begriffspaar „Ruhe und Unruhe“ die Blickrichtung: „Der Anspruch einer solchen Vergewisserung zielt weniger auf die Richtigstellung des vermeintlich Abwegigen oder Falschen als auf die Ermittlung dessen, wer wir… selber sind, die wir durch unsere besondere, unsere eigene Art des Sprechens, des Denkens und Verhaltens für uns selbst und für andere sichtbar werden“. Dabei richtet er seine Aufmerksamkeit zum einen auf die historischen, kulturellen Entwicklungen darüber, wie sich die Eigenschaften Ruhe und Unruhe darstellen; zum anderen setzt er sich mit den vermeintlichen, gedachten und gemachten Phänomenen der Unruhe, Unbestimmtheit und Entgrenztheit in der sich immer interdependenter und globaler entwickelnden (Einen?) Welt auseinander. Ruhe und Unruhe sind Gegensätze. Sie stellen sich im menschlichen Dasein als Bewegungslosigkeit und Bewegung dar, physisch und psychisch. Bereits in der antiken griechischen Philosophie kommt der stasis, der Ruhe, als akinêsia, Bewegungslosigkeit, erêmia“, als solitude, Einsamkeit, Sammlung, Meditation, im Gegenteil zu akinêsia, Bewegung, metabolê, Veränderung, eine existentielle Bedeutung zu. Im aktuellen philosophischen Diskurs wird der Eigenschaft, Ruhe zu bewahren, in sich gehen, Gleichmut, Ausgeglichenheit, Gefasstheit, Selbstkontrolle, Zurückhaltung, Gelassenheit… eine besondere Form der Lebensführung und Lebenskraft zugeschrieben: „Wenn Wissen und Gelassenheit sich ergänzen, bilden sich Harmonie und Ordnung“ (Thomas Strässle). Diesen anthropologischen und scheinbar logischen Bewertungskriterien stehen allerdings, beim näheren Nachdenken, Eigenschaften gegenüber, die „Unruhe (als) ein Daseinsgefühl, eine Welt voller Phantasien, voller Verheißungen und Pläne(n)“ identifizieren. Damit wird auf eine menschliche Fähigkeit verwiesen, die eben nicht Stillstand und Beharren auf Bestehendem meint, sondern die Wandlungs- und Veränderungskompetenz des Menschen in den Vordergrund rückt: Der Einstellung – „Das haben wir schon immer so gemacht“ – , als passive und konservative Lebenseinstellung, wird die Neugier des Neuen, Unbekannten und zu Erreichenden im menschlichen Denken und Tun entgegen gestellt: „Die Unruhe ist ein hoffnungsvolles Taumeln, ein massenhaftes Sehnen und Drängen, das die Unterscheidung zwischen Treiben und Getriebensein nicht kennt“ . Das Plädoyer für eine Genealogie und Kultivierung der Unruhe befördert eine ganze Reihe von Querverweisen, Parallelen und Imponderabilien zum (scheinbaren) Gegensatz, der Ruhe, zu Tage. Eines jedoch ist fester Bestandteil beim Umgang mit den Phänomenen: Ohne Zeitbewusstsein gibt es kein Humanum! Historiker gehen mit dieser Grundüberzeugung anders um als Philosophen. Während die ersteren Geschichte als Faktum betrachten, um historisches Gehen und Vergehen zu verstehen, reflektieren letztere eher die existentiellen und mystischen Entwicklungen: „Es ist das eine, ein Selbstverständnis zu haben und sich dessen Vorgaben zu überlassen; es ist etwas anderes, diesem Selbstverständnis auf die Spur zu kommen und es als das, was es ist, zu verdeutlichen“xiv.

Arbeit ist mehr als Maloche

Dem Begriff „Arbeit“ haften vielfältige Bedeutungszusammenhänge an.“pónos“ als Mühe, Last und unwürdige Tätigkeit des „freien Bürgers“ in der antiken, griechischen Auslegung, als würdige Bestimmung des menschlichen Daseins in der protestantisch-religiösen Ethik, als wertschöpfendes Tun in der Ökonomie, als innere und äußere Stechuhr im Kapitalismus… In der globalen Ethik, wie sie in der allgemeinverbindlichen, nicht relativierbaren Menschenrechtsdeklaration zum Ausdruck kommt, ist Arbeit ein Menschenrecht. Das Recht auf Arbeit wird als menschenwürdiges Tun verstanden. Umso erstaunlicher und unlogischer jedoch werden den verschiedenen Formen von Tätigkeiten auf- und abwertende Bedeutungen zugeschrieben. Es ist die Rede von theoretischer Arbeit als intellektuelles Denken und Tun, und die praktische Arbeit differenziert sich in höherwertige und niedere Aktivitäten. Die Politikwissenschaftlerin Lisa Herzog weist darauf hin, dass es im individuellen, lokal- und globalgesellschaftlichen Denken und Tun der Menschen eines grundlegenden Paradigmenwechsels zu den Auffassungen, Einstellungen und Handhabungen des Arbeitens bedarf. Das aber kann nur gelingen, wenn es gelingt, Arbeit nicht nur als ein notwendiges Übel und Last zu begreifen, sondern als soziale Grundlage einer Conditio humana zu verstehen und zu akzeptieren. Voraussetzung dafür ist das Bewusstsein, dass jede Form von gemeinschaftsstabilisierender und -fördernder Tätigkeit gleichen Wert hat. Die Rede von „hochwertiger“ und „primitiver“ Arbeit führt zu den Irrwegen, wie sie sich im kapitalistischen Wirtschaften entwickelt haben und dazu führen, dass die bereits Wohlhabenden immer reicher und die Habenichtse immer ärmer werden. Die Situation drückt sich aus in der von Bertolt Brecht geschilderten Begegnung von Herrn K. mit dem Kapitalisten: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah‘n sich an. Da sagt der Arme bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich“. Lisa Herzog nimmt sich die beiden unzulänglichen Bilder von Arbeit vor - einerseits die zweckbestimmte, ökonomische Tätigkeit zur Erwerbs- und Einkommensgenerierung, und anderseits die überzogene Vorstellung von Arbeit als Selbstverwirklichung – und bringt sie zusammen als soziales, kollektives, humanes Schaffen: „Menschliche Arbeit ist soziale Arbeit, und es ist diese Sozialität…, der wir ihre große Produktivität verdanken“xv. Es ist ein Weckruf, bei dem nicht in erster Linie die wirtschaftspolitischen Theorien, sondern die eigentlich selbstverständlichen, humanen Grundsätze des Zusammenlebens der Menschheit im Vordergrund stehen. Weil aber immer wieder egoistische, fundamentalistische, populistische machtpolitische Störfeuer und Zumutungen das harmonische, menschenwürdige Bild konterkarieren, braucht es des intensiven Nachdenkens und Auseinandersetzens auch mit dem Arbeitsbegriff; denn: „Arbeit hält Gesellschaft zusammen, sie ist etwas fundamental Menschliches“xvi.

Alternativen zum Kapitalismus und Neoliberalismus

In der nationalen und internationalen Kapitalismuskritik werden Wege aufgezeigt, wie das ungerechte, menschenunwürdige, ideologische kapitalistische System abgeschafft, zumindest aber human verändert werden kannxvii. Die Rufe nach einer lokalen und globalen Sozialrevolution werden lauterxviii. Ob die notwendige System-Transformation sich revolutionär oder evolutionär vollzieht, kann nicht diktatorisch, hierarchisch oder per Ordre du mufti entschieden werden, sondern bedarf demokratischer und solidarischer Prozesse. Begrifflichkeiten wie „Neosozialismus“ und „Ökosozialismus“ verweisen auf die Richtungen des zukünftigen Denkens und Tunsxix. Theorien, Modelle, Konzepte und Projekte liegen vor; etwa wenn Denkfabriken und Institutionen wie z. B. der „Club of Rome“ seit langem darauf verweist, dass das Ende des wirtschaftlichen Wachstums erreicht sei, es – wie die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 zum Perspektivenwechsel aufruft: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Oder wenn die Vereinten Nationen im September 2015 die „Seventeen Goals“ für eine globale, nachhaltige Entwicklung ausrufenxx. Der Literaturwissenschaftler von der Duke-University in den USA, Michael Hardt, und der Politikwissenschaftler von der Universität im italienischen Padua und der Pariser Sorbonne, Antonio Negri, rufen auf: „Es ist an der Zeit, zueinanderzufinden und zusammenzukommen“. Mit dem Begriff „Assembly“ formulieren sie die Vision, wie es gelingen kann, eine bessere, gerechtere, gleichberechtigte, menschenwürdige, humane (Eine) Welt zu schaffen.Es sind Fähigkeiten gefragt, wie das Wagnis, über den eigenen Gartenzaun zu schauen, Ein-, Um- und Weitsicht einzuüben, offen zu sein für Veränderungen, und sich verändern. Es sind die Menschenrechts- und Gouvernance-Grundsätze, die Macht legitimieren und begrenzen. „An erster Stelle steht das Kommune“, das sich in den Forderungen nach Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde ausdrückt und im demokratischen Recht auf Versammlung wirklich wird. Es ist das Unbehagen an dem unzulänglich Bestehenden, und es ist die Hoffnung auf Veränderung und auf gesellschaftsförderliche Reformen, die freilich nicht in „Reformismus“ abgleiten sollen. Es kann nicht die Forderung nach einem „neuen Fürsten“ sein, der das Empire wieder auferstehen lässt, vielmehr wäre eine neue Form von Governance zu denken, die sich nicht nur traut, die Urfragen nach dem Eigentum zu stellen – „Warum sollten die Waren, die aus den Fabriktoren rollen, den Arbeitern gehören, die sie hergestellt haben?“ – sondern die auch das humane, gerechte und menschenwürdige Zusammenleben der Menschen neu denkt? Die „Multitude“ bietet dafür die Grundlagen, etwa dadurch, neue Gemeinschaftsformen und Institutionen zu entwickeln. „Die Multitude, das sind immer viele, das ist immer ein Schwarm“. Es sind die Freiheiten, sich zu versammeln, gemeinsam auf Augenhöhe Grundlagen für eine Conditio Humana zu schaffen: „Die Freiheit der Versammlung und des Zusammenkommens markiert auch eine alternative (Lebens- und, JS) Produktionsweise der Subjektivität, die das, was wir tun, genauso auszeichnet wie das, was wir sind“xxi.

Die Suche nach der schöpferischen Intelligenz des Menschen

Die Frage, ob der Mensch alles tun dürfe, was er kann oder zu können glaubt, haben wir geklärt: Die Erde gehört nicht dem Menschen, der Mensch gehört zu ihr! Die Ökonomin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom hat darauf hingewiesen, dass Mehr wird, wenn wir teilen, und Silke Helfrich und David Bollier verweisen auf die Kraft der „Commons“xxii. Es kommt darauf an, dass „Alles mit Allem zusammenhängt“, es also eines schöpferischen, herausfordernden Intellekts bedarfxxiii. Wir sind aufgefordert, selbst zu denken, human und frei mitzudenkenxxiv, und sich intellektuell und detektivisch aufzumachen, individuell und kollektiv den Sinn des menschlichen Daseins zu erkundenxxv.

i Stiftung Entwicklung und Frieden, Hrsg., Globale Trends. Daten zur Weltentwicklung

Bonn/Düsseldorf 1991 /2022, S. 19

ii Adam Tooze, Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24965.php

iii Adam Tooze, Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen“, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28828.php

ivAnn Pettifor, Green New Deal, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27787.php

vHans Lenk, Human zwischen Öko-Ethik und Ökonomik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/23859.php

viAngela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php

vii Julian Nida-Rümelin / Nathalie Weidenfeld,

viii Adam Tooze, Kawumm!, DIE ZEIT, Nr. 29 vom 14. 7. 2022, S. 2

ix Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18946.php

xFriedrich Voßkühler, Ich – Du – Wir. Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit? Eine philosophische Erkundung in elf Durchgängen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23740.php

xi Clemens Albrecht, Sozioprudenz. Sozial klug handeln, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27512.php

xii Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29229.php

xiii Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15271.php

xiv Ralf Konersmann, Die Unruhe der Welt, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/19459.php

xv Vgl. dazu auch: Frithjof Nungesser, Die Sozialiät des Handelns. Eine Aktualisierung der pragmatischen Sozialtheorie, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25904.php.

xvi Lisa Herzog, Die Rettung der Arbeit, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/27383.php; sowie: Ramona M. Kordesch, u.a., Hrsg., Die Arbeit der Zivilgesellschaft, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25339.php

xvii Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26783.php

xviii Börries Hornemann / Armin Steuernagel, Hg., Sozialrevolution! 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22517.php

xix Klaus Dörre / Christine Schickert, Hrsg., Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26358.php

xx Jason Hickel, Die Tyrannei des Wachstums. Wie globale Ungleichheit die Welt spaltet und was wir dagegen tun können, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/24218.php

xxi Michael Hardt / Antonio Negri, Assembly. Die neue demokratische Ordnung, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24249.php

xxii Silke Helfrich / David Bollier, Frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php; sowie: Manfred Folkers / Niko Paech, All you need is less, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26692.php; und: Andreas Weber, Sein und Teilen. Eine Praxis schöpferischer Existenz, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/21446.php

xxiii Wolf Lotter, Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27036.php

xxiv Harald Welzer, Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25575.php

xxv Jim Holt, Gibt es alles oder nichts? Eine philosophische Detektivgeschichte, 2014,www.socialnet.de/rezensionen/17222.php