Der Ich- und Wir-Faktor – Resilienz als Lern- und Bildungsherausforderung

von Dr. Jos Schnurer
01.09.2021

In den Zeiten der Globalisierung wird Aufklärung zu einer entscheidenden Herausforderung. Der Mensch in seiner Individualität braucht die Gewissheit, dass er ein wichtiges Glied in der Gesamtheit der Menschheit darstellt, in Selbständigkeit und Abhängigkeit. Es ist die Einsicht, dass jeder Mensch permanent die Verantwortung für eine humane Existenz aller Menschen mit sich trägt.

Bild anklicken zum Vergrößern

Die Kompetenz, seelische und körperliche Lebens- und Widerstandskräfte gegenüber dem eigenen Sein und dem humanen Dasein der Menschheit zu entwickeln, wird als „Resilienz“ bezeichnet. Weil die Haltung und Einstellung zu sich selbst nur im Einklang mit der zum Anderen gleichwertig bestehen kann – „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst!“ – gibt es als Lebensmodell nur die freiheitliche Demokratie, die auf dem Fundament der allgemeingültigen, nicht relativierbaren Menschenrechte gründet: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“i. Es ist notwendig, eine Balance zu finden zwischen Ordnung und Freiheit, Rechten und Pflichten, Individualität und Kollektivität, Machtausübung und Akzeptanz, Anpassung und Widerstand. In der Erziehung und Bildung müssen dafür die Grundlagen gelegt und ein Bewusstsein vermittelt und erlebt werden, dass es lohnt, Demokratie zu leben und zu verteidigenii.

Resilienz lernen und erfahren

Es sind Phänomene, die Sicherheiten, Wohlbefinden und Verhaltenseinstellungen betreffen und als Stressoren bewirken, sich an Lebenssituationen anzupassen oder sie zu verändern. Die individuell oder auch kollektiv auswirkenden Prozesse sind erlernbar und steuerbar. Sie tragen dazu bei, Schaden und Risiken zu verhindern oder zumindest zu reduziereniii. Lernen, so die erziehungswissenschaftliche und pädagogische Auffassung, ist Verhaltensänderung. Es sind die Kompetenzen, Perspektiven- und Paradigmenwechsel zu vollziehen. Präventions- und Resilienzförderung eröffnet neue pädagogische Herausforderungen beim schulischen Lernen und für die Didaktik und Methodik in der Lehreraus- und -fortbildung. In den Blickpunkt kommt dabei die bei der traditionellen, institutionalisierten Erziehung vernachlässigte Allgemeinbildung, und damit die Suche nach einem gleichwertigen und gleichgewichtigen Verhältnis zwischen fachbezogenem und fächerübergreifendem Lerneniv. Es gilt als curriculare, didaktische und methodische Anforderung, Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Alters- und Schulstufen seelische Stabilisierungs- und Widerstandskräfte zu vermitteln. Der Psychologe und Psychotherapeut von der Evangelischen Hochschule in Freiburg/Br., Klaus Fröhlich-Gildhoff, geht seit längerem der Frage nach, wie es beim institutionalisierten, vorschulischen und schulischen Lernen gelingen kann, die Entwicklung der Kinder so zu beeinflussen, dass sie gebildet und aufgeklärt sind. Das Freiburger Forschungsteam legt Konzepte und Praktiken vor, wie in den verschiedenen Bildungsstufen, von der Kita bis zur Sekundarstufe, Resilienz angeregt und gefördert werden kannv.

Von Fakten bis Fake News

Bei der Balance zwischen dem positiven und negativen Denken, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen dem historischen, kulturellen Bewusstsein und Momentanismus, braucht es Halteseile und Orientierungshilfe. Die Erfahrungen zeigen, dass die dem Menschen zugeeignete Fähigkeit, Allgemeinurteile zu bilden und zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, auf keinen genetischen Automatismus beruht, sondern anerzogen werden mussvi. Es wird von der „Empörungsgesellschaft“ gesprochen, von „Alarmismus“, von „Fakeismus“ und „Populismus“, die Angst erzeugen und Hass schaffen, und mit ihren Rezepten von einfachen Ja-Nein-Antworten das Denken den Ideologen überlassen. Die Kommunikation- und Manipulations-Dystopien gehören, neben der „akrasia“ (Unbeherrschtheit) und der „thêriotês“ (Rohheit) zu den Untugenden, die Menschlichkeit zerstören. Die digitale Entwicklung im World-Wide-Web versprach erst einmal eine „schöne, neue Welt“, in der der „Homo Informator“ ein vor Mühe und Anstrengung entlastetes, gutes, gelingendes Leben zu führen vermag. Dort, wo Hoffnung, Optimismus und tätige Zuversicht abhandenkommen, bleiben nur Abhängigkeiten von Fake News, Verzweiflung, Egoismus und feindliches Gegeneinander: „Sie lähmt im starren Blick auf die selbst produzierten Bilder totaler Aussichtslosigkeit das eigentlich nötige Engagement“vii.

Kultur ist alles!

Diese lapidare Aussage ist obsolet und gleichzeitig valid; denn wenn Kultur die Gesamtheit von typischen Lebensformen, Denkweisen und Wertvorstellungen einer Bevölkerungsgruppe bezeichnet, wie dies die „Weltkonferenz über Kulturpolitik“ der UNESCO 1982 definierte, ist kulturelles Denken und Handeln gleichwertig – wenn es auf der Basis der „globalen Ethik“ beruht, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) die „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte (als) Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“. Im Theorie- und Praxis-(Denk-)Streit über die Universalismus-Relativismus-Debatte wird „kulturelle Identität“ entweder als ethnisch festgelegter Standard, oder als global offene, interkulturelle Einstellung verstanden. Die kreative Vielfalt der Menschheit erfordert ein universales Denken und Tun – und damit eine interkulturelle Kompetenz! In der sich immer internationaler und globaler entwickelnden (Einen?) Welt kommt es darauf an, kulturell über den Gartenzaun zu schauen. Diese Fähigkeiten werden als globale, interkulturelle Bildung verstanden. Sie umfassen das individuelle und kollektive Bewusstsein, das alltägliche und gesellschaftliche Dasein aller Menschen. Mit dem Begriff „interkulturelle Kompetenz“ wird die Fähigkeit verstanden, „erfolgreich und angemessen mit Interkulturalität umzugehen“. Diese überbegriffliche Deutung freilich lässt viel Raum für Zuordnungen und Zuweisungen, etwa wenn es um Fragen geht, wie interkulturelle Kompetenz in persönlichen Zusammenhängen, in beruflichen Bezügen, im philosophischen, psychologischen und pädagogischen Situationen wirksam wird. Interkulturalität als anzustrebende und in Bildungs- und Erziehungsprozessen zu vermittelnde Kompetenz, wird als „Ressource … für subjektive und gesellschaftliche Verbesserung, für die Ermöglichung und Förderung einer ‚humanistischen Globalisierung‘ und die Entwicklung eines kosmopolitischen Bewusstseins“ verstanden. Es sind die intellektuellen Anforderungen an den anthrôpos, der nach einem guten, gelingenden Leben strebt. Interkulturelle Kompetenz als lokal und global gewordene kommunikative Fähigkeit beinhaltet individuelles und kollektives, alltags- und gesellschaftstaugliches Bewusstsein und Können. Es sind professionelle Anforderungen, die weder vom Himmel fallen, noch in den Genen liegen, und schon gar nicht per Ordre du Mufti vorgegeben werden dürfen. Sie müssen in Bildungs-, Erziehungs- und Aufklärungsprozessen vermittelt werdenviii.

Plastizität und Metaphern-Analyse

Die Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung des Menschen ist immer eingebunden in die Parameter von Tradition, Wissen, Erfahrung und moralischem Werteempfindenix. Es geht darum, den Redewendungen, Benennungen und Deutungen über die Imponderabilien des Lebens auf den Grund zu gehenx. Die Gewissheit, dass der Mensch ein evolutionäres Lebewesen istxi, muss unterfüttert werden mit dem philosophischen und anthropologischen Auseinandersetzung über das Ich, das Du und das Wirxii. Es sind Fragen nach dem „Wer bin ich?“, und es ist das Nachdenken darüber: „Wie bin ich geworden, was ich bin?“xiii. Der US-amerikanische Psychologe Abraham H. Maslow (1908 – 1970) hat bei seinen Untersuchungen über das Was-, Wer- und Wiesein der Menschen betont, dass (im Prinzip) jeder Mensch ein einzigartiger Mystiker ist. Bei seiner Suche nach der Menschlichkeit retournierte er die allgemeine und gewohnte Fragestellung: „Was macht den Menschen krank?“ damit, dass er nachschaute: „Was zeichnet psychisch gesunde Menschen besonders aus?“. Er erkannte, dass die psychisch Gesunden zu „mystischen Erfahrungen“ tendierenxiv . Damit freilich will er keinesfalls dem Orakelhaften, dem Obskuren und den Wirklichkeits- und Wahrheitsverleugnern Argumente bieten; vielmehr sind es die intellektuellen Anstrengungen, die eine humane Logik und Ethik erzeugenxv.

Fazit

Begriffe stellen sich, vor allem wenn sie sich im wissenschaftlichen Kontext etablieren, als Nuancen und Nimbus dar. Sie beeinflussen Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Sie fordern Zustimmung, Kritik und Ablehnung. Im Diskurs offenbaren sich Einschätzungen wie z. B.: „Das ist ja nichts Neues!“ – „Das haben wir schon immer so gedacht!“; aber auch Erkenntnisse über Neues, Bedenkenswertes und Machbares. Der Begriff „Resilienz“ ist lohnend und hilfreich, um wünschenswerte menschliche Entwicklungen zu realisieren und die Menschheit fähig zu machen zu erkennen, dass sie aufgeklärt und gebildet sein wollenxvi,

 


i Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte, Bonn 1981, S. 48

ii Kurt Edler, Demokratische Resilienz auf den Punkt gebracht, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23304.php

iii Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15271.php; Julian Nida-Rümelin / Nathalie Weidenfeld, Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28566.php

iv Wolf Lotter, Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27036.php

v u.a.: 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21948.php; 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27182.php; 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28293.php

vi siehe z. B. dazu auch: Bastian Bergner, Ein Psychopath? In: DIE ZEIT, Nr. 31 vom 29. 7. 2021 (Dossier)

vii Bernhard Pörksen / Andreas Narr, Hrsg., Schöne digitale Welt, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26586.php

viii Alois Moosmüller, Hrsg., Interkulturelle Kompetenz. Kritische Perspektiven, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27414.php

ix Johannes Schwarte, Die Plastizität des Menschen. Ergebnisoffenheit und Beeinflussbarkeit der Persönlichkeitsentwicklung, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20282.php

x Rudolf Schmitt, Systematische Metaphernanalyse als Methode der qualitativen Sozialforschung, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/25127.php

xi Michael Tomasello, Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27385.php

xii Friedrich Voßkühler, Ich – Du – Wir. Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23740.php

xiii Siegfried Schumann, Individuelles Verhalten. Möglichkeiten der Erforschung durch Einstellungen, Werte und Persönlichkeit, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12920.php

xiv Abraham H. Maslow, Jeder Mensch ist ein Mystiker, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16223.php

xv Hans Lenk / Gregor Paul, Transkulturelle Logik. Universalität in der Vielfalt, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/22702.php

xvi Achim Heinze, Warum leben wir nicht? Unsere Psyche zwischen Terrorangst, Todestrieb und Lebenslust, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27127.php